Interessante Sendungen und Links

  • Wie jedes Jahr, Antonio Gramsci zu Neujahr:


    https://ifg.rosalux.de/2015/12…G1BuKJCp0ScrM2oZ9OS4BfTZ4


    Ich hasse den Neujahrstag

    Jeden Morgen, wenn ich unter der Decke des Himmels wieder aufwache, fühle ich, dass für mich Neujahr ist.

    Deshalb hasse ich diese Jahreswechsel mit unverrückbarer Fälligkeit, die aus dem Leben und dem menschlichen Geist ein kommerzielles Unternehmen mit seinem braven Jahresabschluss, seiner Bilanz und seinem Budget für die neue Geschäftsführung machen. Sie führen zum Verlust des Sinns für die Kontinuität des Lebens und des Geists. Man endet dabei, ernsthaft zu glauben, dass es vom einen Jahr zum anderen eine Auflösung der Kontinuität gäbe und dass eine neue Geschichte begänne, und man entwickelt Vorsätze und bereut Fehler, usw., usf. Das ist allgemein eine Unbill der Daten.

    Sie sagen, dass die Chronologie das Gerüst der Geschichte ist; und das kann man zugestehen. Aber man muss auch zugeben, dass es vier oder fünf fundamentale Daten gibt, die jede anständige Person im Kopf eingehämmert behält, die der Geschichte Streiche gespielt haben. Auch das sind Jahreswechsel.


    Das Neujahr der römischen Geschichte, oder des Mittelalters, oder der Neuzeit. Und sie sind so zudringlich und so versteinernd geworden, dass wir uns selbst dabei ertappen, bisweilen zu denken, dass das Leben in Italien im Jahr 752 begonnen hätte und dass 1490 oder 1492 wie Berge wären, die die Menschheit auf einmal überschritten hat, um sich in einer neuen Welt wiederzufinden und in ein neues Leben einzutreten. So erfüllt das Datum den Raum und wird zu einem Geländer, das verhindert, zu sehen, dass die Geschichte sich auf derselben grundlegenden unveränderten Linie weiter entwickelt, ohne plötzlichen Halt, wie wenn im Kino der Film reißt und es eine Pause mit gleißendem Licht gibt.

    Deshalb hasse ich Neujahr.


    Ich möchte, dass jeder Morgen für mich ein Neujahr ist. Jeden Tag will ich mit mir selbst abrechnen, und jeden Tag mich erneuern. Keinen für die Ruhe eingeplanten Tag. Die Pausen wähle ich mir selbst, wenn ich mich betrunken fühle vom intensiven Leben und eintauchen will in die Tierhaftigkeit, um daraus neue Kraft zu schöpfen. Kein geistiger Konformismus. Ich möchte, dass jede Stunde meines Lebens neu sei, auch wenn sie sich mit den vergangenen verbindet. Kein

    Tag des Jubels im gezwungenen kollektiven Reim, zu teilen mit all den Fremden, die mich nicht interessieren. Weil die Großeltern unserer Großeltern usw. gejubelt haben, sollen auch wir das Bedürfnis zu jubeln verspüren. All das ist ekelerregend.


    Ich warte auch aus diesem Grund auf den Sozialismus. Weil er all diese Daten auf den Müllhaufen schleudern wird, die schon jetzt keinen Widerhall mehr in unserem Geist haben, und wenn er andere schaffen wird, so werden es wenigstens unsere sein, und nicht jene, die wir ohne Nutzen aus dem Inventar unserer äußerst törichten Vorfahren akzeptieren sollen.

    Erschienen in Avanti!, 20. Jg., Nr. 1, 1. Januar 1916. Wiederabgedruckt in: Antonio Gramsci, Cronache torinesi

    1913-1917. A cura di Sergio Caprioglio, Turin: Einaudi 1980, S. 47f. Übersetzung aus dem Italienischen: Thomas

    Sablowski.

  • Von Brecht zu Biller: Wie das laute Denken aus der Linken verbannt wurde

    Warum lautes Denken Luxus ist. Weshalb öffentlicher Diskurs mehr als Gejammer sein sollte. Und wie Rechte zurückcanceln. Ein Appell in vier Teilen. (Teil 4 und Schluss)


    "[...] Es geht nicht darum, wieder in Idealismus zu verfallen und zu glauben, dass laut geäußerte Gedanken die Welt verändern. Aber selbst, wenn sie es, wie so oft, nicht tun, – und gerade dann – sollte es nicht nur erlaubt, sondern erwünscht sein, sie zu äußern – frei, d. h. ohne Druck, ohne wie auch immer geartete "strukturelle" Drohungen.

    Denn bei dem Bedürfnis nach lauter Reflexion geht es nicht in erster Linie darum, andere für die eigenen Ansichten zu gewinnen, sie aufzuklären oder gar Propaganda für gesellschaftliche Veränderungen zu betreiben. Diese Sichtweise ist selbst ein Element jener identitären Label-Ideologie, die in jedem Wort, wo auch immer, nur den Fingerzeig auf ein politisches Programm sehen will.

    Es geht beim lauten Nachdenken keineswegs um das, was die entsprechende Ideologie "geistige Brandstiftung" nennt und was heute mit der Behauptung ach so gefährlicher Internet-Kommentare ("Hass im Netz") wieder auflebt, wegen derer man die Bürger an mehr direkte Zensur von oben gewöhnen will.

    Sondern es geht, ganz einfach, zunächst einmal darum, dem eigenen Bedürfnis nach Denken – das nur als lautes Denken ein wirkliches Denken ist – nachzukommen, das niemandem schadet.

    Genau darin aber, in der Ranküne gegen das ungehinderte Ausleben der Bedürfnisse anderer, besteht heute eine bestimmende Tendenz des Zeitgeistes in der Konkurrenzgesellschaft, die auch eine der Bedürfniskonkurrenz ist: Niemand gönnt dem anderen noch die Erfüllung der elementarsten Bedürfnisse in einer Gesellschaft, die doch täglich neue Bedürfnisse produziert. Und eben – zum Beispiel mit den sozialen Medien – die Bedürfnisse, seine Meinung zu äußern. Damit aber auch Bedürfnisse nach Reflexion.

    Wer bestimmte Ansichten äußert, und das ist wohl das falsche Argument, der sei nur "spalterisch" tätig, heißt es – als ob diese Gesellschaft nicht längst, und zwar grundlegend und antagonistisch gespalten wäre, als ob sie nicht als Klassengesellschaft auf dieser Spaltung aufbaute und in ihr ganzes Wesen hätte.

    Mit solchen Äußerungen aber stellen sich die Verbotsbefürworter in die reaktionäre Tradition derer, denen die bourgeoise Moral, das reibungslose Funktionieren des Systems von arm machender Arbeit und noch reicher machendem Privateigentum wichtiger ist als Ansichten und Gedanken, die es gefährden, aber auch überwinden könnten.

    Für die Schweigenden und Nichtdenkenden ist das kein Problem. Warum auch, ihnen fehlt nichts. Sie sorgen sich lieber noch einmal um all das, was ohnehin alle umtreibt (Klima, Corona, Hass, Internet, Russland).

    Aber Denken durch Sorgen zu ersetzen, ist gängige Praxis der Gegenaufklärung – sie wird nicht besser, nur weil sie von Linken oder Wissenschaftsfreunden betrieben wird.


    Aktivismus verdrängt politisches Denken und Praxis


    Die Sorge als Politik ist dann der "Aktivismus", der heute die Sphäre der Vermittlung des politischen Denkens und der entsprechenden Praxis ist, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass unter dem Berg des Aktivismus das politische Denken und die Praxis selbst fast verschwunden sind.

    Der eingangs zitierte französische Philosoph und Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty war 1947 noch in der Lage, die Kategorie des lauten Nachdenkens als eine zu nennen, die zumindest eine Option linker oder aufklärerischer Praxis, zumindest eine Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis sein könnte.

    Im Zuge einer mehr oder weniger unbewussten linken Selbstsabotage wurde diese Kategorie allmählich den Liberalen und Rechten zugeschoben, so als müsse lautes Nachdenken zwangsläufig immer ein Nachdenken sein, von dem die Reaktionäre profitieren.

    Aufklärung zur Veränderung der Welt

    Dabei zeigt die Geschichte deutlich, dass die Aufklärung, wie das laute Nachdenken einst bezeichnet wurde, immer eine linke Veranstaltung war.

    Bertolt Brecht, der davon überzeugt war, dass die Aufklärung vielleicht doch einmal – wie auch immer – zur Veränderung der Welt beitragen könnte, praktizierte das laute Denken auf der Theaterbühne – er nannte es "Denken in den Köpfen anderer" oder auch "eingreifendes Denken".

    Es war ein Denken, das nicht nur alte Phrasen wiederholte, sondern auf neue gesellschaftliche Realitäten mit neuen Gedanken, auf notwendige neue Praxis mit neuer Theorie, auf gesellschaftliche Probleme mit der Problematisierung von Gesellschaft antwortete.

    Kultur als Safe Space für Kritiker

    So können wir heute die interessanten Anfänge einer Epoche erleben, in der auch kulturelle Institutionen wie das Theater, einst Orte der öffentlichen Reflexion, zu einer Art Safe Space werden, also zu einem Raum, der vor den Zumutungen der Welt schützt, statt sie künstlerisch zu offenbaren.

    Ein solcher Wahnsinn kann nicht nur, aber auch deshalb als aufklärerisch und links durchgehen, weil er neben den Vernünftigen und Aufgeklärten auch die Rechten und Antiaufklärer auf den Plan ruft. Und er hat immerhin den Nebeneffekt historischer Ironie, dass liberale Bourgeois heute für die ungehinderte Aufführung von Brecht-Stücken plädieren, die ihre Vorgänger in den fünfziger und Sechzigerjahren noch boykottiert und verboten hatten.

    Es ist schon bezeichnend, dass ausgerechnet die Rechten jetzt über Cancel Culture jammern und damit ausnahmsweise einmal mitbekommen, wie es Linken seit Jahrzehnten durch alle möglichen Repressalien von Parteiverboten bis zum Radikalenerlass, also Berufsverboten und existenzvernichtender gesellschaftlicher Verachtung, ergeht."

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    Teile 1 bis 3:


    https://www.telepolis.de/featu…ophie-toetet-9582799.html


    https://www.telepolis.de/featu…Gesellschaft-9583040.html


    https://www.telepolis.de/featu…atbesitz-ist-9583395.html

  • Das war 2023! – Küppersbusch TV (Kompakt)


  • FABIO DE MASI & MARCO BÜLOW: Die Spur des Geldes

    Zitat

    Lustig, in unserem demokratischen Vorzeigesystem wirken die Abgeordneten, die sich wirklich für die Belange der Bürger einsetzen, mittlerweile außerhalb der Parlamente. Ich habe Marco Bülow (Ex-SPD) und Fabio De Masi (Ex-Die Linke) nach Brüssel eingeladen. Ins Parlament. Abends, als es leer war. Leer bis auf den kargen Feierbereich im Kellergeschoss, in dem wir anschließend stimmungsarme Champagner-Orgien feierten..

  • Zitat von DGB-Jugend Niedersachsen-Bremen-Sachsen-Anhalt @ Youtube

    Zwischen Entfremdung, Ausbeutung und Self-Empowerment wird immer wieder deutlich, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen junger Menschen wahrlich nicht an erster Stelle stehen. Fast zweihundert Studierende besuchten die Veranstaltung "Arbeitskämpfe im 21. Jahrhundert" mit Wolfgang M. Schmitt, welcher eine anregende, teils deutlich provokante Keynote präsentierte. Anschließend gab es eine spannende Diskussion mit ihm und Dr. Simon Weingärtner (Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover) sowie den Studierenden:


    Wie können wir eine Arbeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts denken, in welcher der Mensch im Mittelpunkt steht? Wie kann der Beitrag eines jeden Einzelnen zur Aufrechterhaltung, Weiterentwicklung und zum Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen endlich angemessen wahrgenommen und wertgeschätzt werden? Welche Rolle spielen die sozialen Medien dabei? Kontroversen entstanden unter anderem an dem Punkt, welche Rolle Gewerkschaften bei der Transformation zu einer gerechteren Gesellschaft spielen können oder ob ganz andere Strukturen hier ebenfalls zum Tragen kommen müssen.

  • Die neue EU-Krise (9): Demokratie und Rechtsstaat am Limit

    Die EU steckt wieder in der Krise. Doch diesmal ist alles anders. Die 27 sind vom Kurs abgekommen – sie wissen nicht mehr, wo sie stehen und wohin sie gehen.Heute: Demokratie und Rechtsstaat am Limit.



    "Demokratie gilt, mittlerweile weltweit, als Wert, der sich – wie es sich für einen Wert gehört – von selbst versteht. Für und gegen staatliche Einrichtungen und Verfahrensweisen lässt sich, wie gut oder schlecht auch immer, argumentieren; beim Wert ‚Demokratie‘ ist das unzulässig: Der wird nicht geprüft; an ihm werden Staatsverfassungen und Regierungsaktivitäten gemessen. Die Idee ist dabei die, eine Herrschaft, die sich von ihrem Volk periodisch beauftragen lässt, wäre keine Herrschaft; eine Gewalt, die sich von denen, die ihr gehorchen müssen, legitimieren lässt, wäre keine; Lebensverhältnisse, deren politische Macher und Aufseher in Wahlkämpfen durch Publikumsentscheid ermittelt werden, wären verwirklichte Freiheit. – Das ist das Eine.


    Dass das entscheidungsbefugte Publikum in seinem Alltag von seiner Wahlfreiheit viel hält; dass es darauf so große Stücke hält, wie die demokratische Wertlehre es unterstellt; erst recht: dass es von der Konkurrenz der Wahlkämpfer um seine Stimme besonders angetan wäre: das lässt sich allerdings nicht behaupten. Unter wahlberechtigten Bürgern ist es Sitte, die Bedeutung der eigenen Wahlstimme „illusionslos“ zu sehen, also gering zu schätzen, den Wahlkampf als ‚Zirkus‘ zu verachten, von den Politikern eine überwiegend schlechte Meinung zu haben – und trotzdem zur Wahl zu gehen, wenn sie angesetzt ist. – Das ist das Andere.


    Also wieder mal ein Fall von ‚schöner Idee‘ und ‚unzureichender Verwirklichung‘?

    Beide Sichtweisen, die Hochachtung vor dem Ideal wie das mehr oder weniger verächtliche Abwinken bezüglich der Praxis, gehen daran vorbei, was Demokratie tatsächlich ist und was das Institut freier Wahlen tatsächlich leistet. Immerhin hat man es mit einem System politischer Herrschaft zu tun, das sich auf seine durch ein freies Wählervotum beglaubigte Unabhängigkeit von seiner Basis – vom ‚Druck der Straße‘ – viel zugute hält. [...]"

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    Peter Decker (Hrsg.) : Demokratie - Die perfekte Form bürgerlicher Herrschaft, München 2013, S. 1-2

  • Ich würde sagen, sieht aus wie ein potenzieller Kriegsverbrecher.


    Bestes getwixxe. Kanns kaum erwarten, wenn er es wieder opportun findet über Bienen zu schwadronieren.

    Zitat

    Bei dem Grundwehrdienst bekommt jeder junge Mann einen Einblick in die Strukturen der Bundeswehr und die Handhabung von Waffen.

    Alkohol und Knarren. Immer eine gute Idee.


    Zitat

    Alle, die freiwillig ein Jahr dienen, sollten einen Bonus erhalten: zum Beispiel die Reduzierung des Numerus Clausus fürs Studium

    :S


    ... ansonsten stellt sich natürlich die Frage, ob es nicht wenigstens Kinderfotos gibt, wo er nicht schon wie komplettes Arschloch aussieht?


  • Not bad

  • Naomi Klein im Interview: „Die deutsche Erinnerungskultur hat eine eingefrorene Qualität“

    Die Autorin und Umweltaktivistin Naomi Klein über das schwierige deutsch-israelische Verhältnis, die Singularität des Holocaust und ihr Buch zu Verschwörungstheorien


  • https://arxiv.org/pdf/2401.00096.pdf


    "Machine-learned force fields have transformed the atomistic modelling of materials

    by enabling simulations of ab initio quality on unprecedented time and length scales.

    However, they are currently limited by: (i) the significant computational and human

    effort that must go into development and validation of potentials for each particular

    system of interest; and (ii) a general lack of transferability from one chemical sys-

    tem to the next. Here, using the state-of-the-art MACE architecture we introduce

    a single general-purpose ML model, trained on a public database of 150k inorganic

    crystals, that is capable of running stable molecular dynamics on molecules and ma-

    terials. We demonstrate the power of the MACE-MP-0 model — and its qualitative

    and at times quantitative accuracy — on a diverse set problems in the physical sci-

    ences, including the properties of solids, liquids, gases, and chemical reactions. The

    model can be applied out of the box and as a starting or “foundation model” for any

    atomistic system of interest and is thus a step towards democratising the revolution

    of ML force fields by lowering the barriers to entry"


    This is a big one, holy crap.

  • Aus aktuellen Anlässen:


    "[...] Hierzulande dürfen sich Bürger, die sich vom Staat oder von Privaten schlecht behandelt fühlen, beschweren. Die Erlaubnis zur Kritik am Staat im Namen des nicht aufgegangenen Privatmaterialismus ergänzt den Kanon demokratischer Freiheiten und komplettiert die Politisierung des demokratischen Bürgers. Die ist erst abgeschlossen, wenn der seine Zurichtung zum Konkurrenzsubjekt schätzt, die dafür notwendigen Staatsopfer für ärgerlich, aber notwendig erachtet und schließlich die Berechtigung zur Kritik geradezu für das Nonplusultra der Demokratie erklärt – vor allem, da diese sich damit von allen totalitären Systemen unterscheidet. So fällt es ihm leicht, sich in seinem »Gemeinwesen« beheimatet zu fühlen.


    Folglich ist der Bürger nicht nur Objekt der Kritik, sondern darf auch als deren Subjekt auftreten: Es wird nicht nur sein Privatmaterialismus regelmäßig im Namen des Gemeinnutzes einer Kritik unterzogen, sondern auch er darf im Namen seines – wie er meint – ganz zu Unrecht geschädigten Privatmaterialismus Kritik am Sachwalter des Gemeinnutzes üben. Ein Widerspruch wird daraus nicht. Man muss sich nur noch einmal klarmachen, dass der freigesetzte private Materialismus wie auch die Freiheit zur Kritik auf staatlicher Erlaubnis gründen, folglich weder selbstverständlich noch frei von Bedingungen sind.

    Meinungs-, Demonstrations- und auch Wahlfreiheit sind Rechtsinstitute, deren Verfassungsrang darauf verweist, dass der demokratischen Obrigkeit viel daran liegt, über ihre Wahrnehmung mit allen Organen, die die Verfassung »hüten«, zu wachen. Das betrifft zum einen die klare Grenzziehung zwischen einer frei geäußerten Meinung und deren praktischer Umsetzung in einen Angriff auf jene herrschenden Interessen, an denen Kritik geübt wird.


    Nur ersteres ist erlaubt, weswegen jeder Beschwerde von vornherein ihre Ernsthaftigkeit bestritten wird und sie nur als subjektive Äußerung von Unzufriedenheit gilt, über deren Berechtigung allein die zu entscheiden haben, auf die die Unzufriedenheit zielt. Deswegen lernt der Bürger zum zweiten auch früh, dass nur konstruktive Kritik angesagt ist, d.h. eine Kritik, die zugleich ihre Sorge um die Erhaltung der angegriffenen Verhältnisse unter Beweis zu stellen hat; und zwar dadurch, dass sie mit konstruktiven Reform-Alternativen aufwartet, welche ebenfalls an die Adresse der politischen Herrschaft gerichtet sind.


    All das wird getragen von jenem Gemeinwesenidealismus, der unerschütterlich daran festhält, dass diejenigen, die großen Volksteilen das Leben schwer machen, zugleich willens und fähig sind, für die Behebung der angeklagten Beschädigungen zu sorgen. So ist Kritik hierzulande erwünscht. Sie fragt nicht danach, ob die hergestellte funktionale und dysfunktionale Armut vielleicht System hat, sondern ruft die demokratischen Machthaber zu besserem Regieren auf, verordnet sich den Denkzettelwahlgang, ist also fest davon überzeugt, dass all der Ärger nicht sein müsste, wenn nur alle Amtsinhaber mit Pflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein und ausgeprägtem Gerechtigkeitsempfinden ihren Aufgaben nachgehen und so dafür sorgen würden, dass alle Bürger sich bei der Verfolgung ihrer Interessen in ihrem Egoismus zügeln.

    Die Parteilichkeit für das eigene Land – und das ist nun einmal der Gehalt jeder Variante von Nationalismus – erschöpft sich in der Demokratie gerade nicht in ungebrochener Zustimmung, sondern schließt das Beschwerdewesen ein, von dem quer durch alle Klassen und Stände, getragen von organisierten Beschwerdeführern, durch Verbände und Gewerkschaften reger Gebrauch gemacht wird. Der demokratische Patriot ist kritisch und zugleich stolz darauf, dass ihm von seiner Obrigkeit erlaubt wird, was ohnehin niemand verbieten kann: das Kritisieren.


    Über den entwickelten Dreischritt in der Demokratie, der mit der freigesetzten Interessenverfolgung beginnt, von den Bürgern gerade dafür die Zurückstellung des gewährten »Eigennutzes« hinter den »Gemeinnutz« einfordert und schließlich in dem von oben gestatteten und eingerichteten Freiheitswerk für konstruktive Beanstandung endet, vollendet sich die demokratische Politisierung der Bürger. Diese fasst sich in dem ständig neu aufzufrischenden Beschluss zusammen, dass letztlich der deutsche Staat »ihr« Staat sei, der auch und unter Bewältigung vieler Schwierigkeiten ihr Wohl permanent mit im Auge habe. Dazu gehört, dass Kritik immer mal wieder – gerade wenn sie nach Form und Gehalt des Protestes über die Stränge schlägt – auf den Boden von Ordnung und Sitte zurückgeholt werden muss. Die gewährte Kritikfreiheit enthält eben nicht nur Vorgaben fürs erlaubte Meckern, sondern markiert auch klare Grenzen.


    Diese Grenzen überschreiten zum einen diejenigen, die sich ihr Denken nicht vom Imperativ der »konstruktiven Kritik« beschränken lassen wollen und glatt auf das Urteil verfallen, dass sich ohne destruktive Kritik kaum etwas an den Gegensätzen von Armut und Reichtum und an demokratisch organisierter Herrschaft nebst ihren Eroberungsfeldzügen im Namen demokratischer Werte ändern lässt.

    Ganz umgekehrt entwickelt sich die in der Demokratie für grenzwertig erklärte Kritik dagegen bei denen, die den Glauben an erfolgreiche demokratische Regulierung all dessen, was ihnen am Zustand ihres Nationalstaats missfällt, nicht mehr aufbringen. Wo die »Linksextremen« wegen einer zu Ende gedachten Kritik am demokratisch regierten Kapitalismus der Nutzung der Meinungsfreiheit verlustig gehen und zumindest ins politische Abseits manövriert werden, da wird an »Rechtsextremen« bei all ihrer Kritik immer noch entdeckt, dass bei ihnen keine Absage an (National-)Staatlichkeit und kapitalistische Ökonomie vorliegt. [...]

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    Freerk Huisken: Der demokratische Schoß ist fruchtbar... - Das Elend der Kritik am (Neo-)Faschismus, Hamburg 2012, S. 56-58

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