Bei der Verteidigung der Werte geht es nicht nur um die Ukraine. Die Ukraine hat das Recht ihre Geschicke selbstbestimmt zu entscheiden, völlig egal ob Demokratie oder Nazis. Aber wenn Putin mit seinem Krieg Erfolg hat, dann birgt das die große Gefahr dass er weitermacht. Vielleicht nicht nächstes Jahr, aber vielleicht in fünf Jahren, in zehn Jahren, oder sein Nachfolger. Georgien, Moldawien, irgendwann vielleicht auch die Asiatischen Ex-Republiken, Finnland, Schweden. Und ob das Baltikum wirklich sicher ist, weiß auch kein Mensch, wenn überhaupt dann nur solange die NATO überhaupt existiert (--> Trump, drohender Bürgerkrieg in den USA in zwei Jahren und so weiter. Kann schnell vorbei sein mit der NATO).
Ich stelle mit entsetzen fest dass Du offenbar immer noch davon ausgehst, Putin werde bis Paris durchmarschieren wenn man ihn nicht am Dnjepr durch die Vernichtung seiner Armee schlüge und Russland ins Mittelalter zurück sanktionierte, und dass folglich als einzige Alternative zur bedingungslosen Solidarität mit der ukrainischen Oligarchenregierung - inklusive immer schwererer Waffen und Eskalationslogik im Westen - die totale Unterwerfung der Ukraine unter Russland drohe.
Niemand weiß, was in fünf oder zehn Jahren passieren würde, wenn man jetzt alles daran setzte, einen von den USA, der EU und am besten auch von China gemeinsam mit Russland abgesicherten Frieden auszuhandeln und Putin eine Möglichkeit zu geben, sich gegenüber seinen Verbündeten halbwegs gesichtswahrend aus der Affaire zu ziehen, indem man ihm ein paar Zugeständnisse machen, aber im Gegenzug die Neutraliät und Unabhängigkeit der Ukraine garantieren würde.
Ob das wirklich möglich ist, weiß ich auch nicht, Aber wenn man es gar nicht erst versucht, weil man Putin für Hitler hält, dann wird es ganz sicher nicht gelingen.
Welzer hat in der Diskussion mit Beck oben gleich mehrmals gesagt, dass wir in eine Situation geraten, deren weitern Verlauf niemand vorhersehen kann und er hat völlig recht damit.
Was wird z.B. China machen? Werden die einen Frieden vielleicht auch einer Verlängerung des Krieges vorziehen, weil davon irgendwann auch ihre eigenen ökonomischen Interessen betroffen sind? Was machen Indien und die 50 anderen Länder, die den Sanktionen bei der UNO nicht zugestimmt haben? Was machen die Länder, die zwar aus Angst vor den USA zugestimmt haben, aber sich nicht wirklich daran halten? Was macht das nationalistische EU-und NATO-Mitglied Ungarn, was macht das nicht minder nationalistische EU- und NATO-Mitglied Polen, wenn der Krieg noch monate oder Jahre lang direkt vor deren Haustür weiter geht? Was passiert wenn Marine Le Pen die Stichwahl in Frankreich gewinnt und Herrin über das französische Atomwaffenarsenal wird? Was passiert wenn der Klimawandel immer mehr Katastrophen und Fluchtbewegungen auslöst, gegen die jene in der Ukraine ein Kindergeburtsag wäre? Und das alles während in der Ukraine weiter ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland geführt wird.
Was wird die deutsche Bevölkerung dann dazu sagen, dass man Milliarden für die Ukraine ausgibt, der eigenen Wirtschaft mit Sanktionen ins Knie schiesst und gleichzeitig rassistische Kriegsrhetorik aus dem letzten Jahrtausend wieder salonfähig macht?
Werden "wir" dann selbst an unseren freiheitlich-demokratischen Werten festhalten und brav Annalena Baerbock zur Bundeskanzlerin wählen, oder vielleicht doch lieber irgendeinen Rechtspopulisten, der uns die Ausländer und die linksgrünversifften Ökofaschisten vom Hals schaffen soll?
Und was passiert mit Russland, wenn Putin - so wie die USA und Marieluise Beck es offenbar voraussagen zu können glauben - tatsächlich darüber stürzt, dass er keinen Sieg in der Ukraine zustande gebracht hat. Wer kommt danach? Der "liberale" Nationalist Nawalny?
Das einzige was wir mit einiger Sicherheit voraus sehen können ist, dass das Sterben in der Ukraine erst einmal aufhören würde, wenn ein Friedensvertag oder wenigstens ein Waffenstillstand zustande käme.
Alles was danach kommt ist völlig ungewiss, aber zumindest würden weitere Verhandlungen, Intrigen, Ränkespiele, schmutzige Deals - kurz: die ganz normale Arbeit von Politik und Diplomatie - dann nicht vor dem grausigen Hintergrund einer bis zum Exzess gesteigerten Gräuelberichterstattung stattfinden, die ganze Bevölkerungen in den Hass gegen andere Bevölkerungen treibt, den ganzen kriegsgeilen Nationalisten , Reaktionären, und tatsächlichen Faschisten weiter Auftrieb verleiht und ihre völkischen Wahnvorstellungen auch im Westen salonfähig macht.
Und es böte sich vielleicht die Möglichkeit, statt hypermoralisierter Gut/Böse-Schablonen endlich wieder ein bisschen rationales Denken in die Gehirne zu lassen.
Wenn es den KriegstreiberInnen Beck & Co. wirklich um das Leid der Zivilbevölkerung ginge, so wie sie es hochempört immer wieder zum Ausdruck bringen, dann müssten sie sich genau dafür einsetzen, dass verhandelt, und nicht dafür, dass noch mehr gemordet wird.