Ich stehe hier auf der Leitung: Ist das Ironie (auf diversen Ebenen denkbar) oder meint er das tatsächlich so?
Putin ist schon berüchtigt dafür, dass er lieber mit Ironie und Sarkasmus gegen seine Widersacher im Westen austeilt, als mit groben Beschimpfungen und dass er so manches gerne im Ungewissen lässt, um seine Gegner zu verwirren.
Dass er Biden für den besseren US-Präsidenten hielte, hat er zum ersten Mal vor ein paar Wochen behauptet, als der rechtskonservative amerikanische Nicht-Journalist Tucker Carlson sein zweistündiges Nicht-Interview mit ihm im Kreml führte. Da kann man also davon ausgehen, dass es nicht für das heimische russische, sondern für das amerikanische und übrige westliche Publikum gedacht war. Dieses "spontane" Straßeninterview im russischen Fernsehen bezieht sich darauf.
Die Russen sind ja nicht blöd. Die kriegen auch mit, welche Debatten im Westen geführt werden, und wie drastisch der öffentliche Diskurs unter politischen und publizistischen Eliten zum Teil - vor allem in den USA - gegen die Stimmung in der Bevölkerung läuft, und sie versuchen natürlich diese Gegensätze mit ihrer eigenen Propaganda noch zu verstärken. Die liberale (repräsentative) Demokratie, die "wir" uns von der Ukrainischen Bevölkerung mit zigtausend Heldentoden verteidigen lassen, ist aus Sicht der russischen Führung wahrscheinlich die größte Schwachstelle des globalen Westens.
Vermutlich erhoffen sich Putin und seine Oligarchen-Kamarilla von einem demokratischen Regierungswechsel in Washington DC erst mal eine - zumindest kurzfristig - komplett ausfallende Unterstützung der USA für die ukrainische Regierung, sowie ein heilloses Chaos bei den europäischen Verbündeten, weil man es hier ja jetzt - noch fast ein ganzes Jahr vor der möglichen Machtübrgabe in den USA im Januar 2025 - schon mit der Angst zu tun bekommt, Trump werde bei einer erneuten Präsidentschaft praktisch die NATO auflösen und dem Russenhitler damit für seine angeblichen Eroberungspläne freie Bahn bis nach Paris schaffen.
Für die momentan sehr viel wahrscheinlicheren russischen Kriegsziele - also vor allem die vollständige Eroberung der bereits annektierten ostukrainischen Gebiete - wäre denen Trump also sicher lieber als Biden.
Dass Putin sich allerdings einbildet, damit wirklich eine signifikante Menge von Leuten von einer Stimme für Biden abzubringen, würde ich bezweifeln.
Immerhin hat der Großteil des amerikanischen Qualitätsmedienapparates, von dem sich die meisten, in der Regel nicht besonders an Außenpolitik interessierten AmerikanerInnen nach wie vor informieren lassen, nach Trumps erster Wahl zum Präsidenten 2016 zusammen mit der Parteiführung der Demokraten jahrelang eine Menge Aufwand betrieben, um ihn als Marionette Moskaus darzustellen. Und obwohl man das nie beweisen konnte, glauben es viele Trump-Gegner immer noch.
Außerdem hat man den Leuten im Westen in den letzten 10 Jahren und natürlich erst recht seit der russischen Invasion der Ukraine auf allen Kanälen beigebracht, dass Putin sowieso lügt, wenn er nur nur den Mund aufmacht, und dass man ihm auf keinen Fall über den weg trauen dürfe, egal was er sagt. Und wenn er dann ein solches vergiftetes Lob für seinen selbsterklärten Erzfeind ("I'm looking into your eyes, and I don’t think you have a soul") im Weißen Haus ausspricht, werden die meisten Leute, die Bidens Kurs bisher unterstützt haben das wohl kaum für bare Münze nehmen.
Aber mit ein paar leicht daher gesagten Sätzen in Interviews noch ein bisschen mehr Verwirrung im Westen zu stiften, ist sicher eine Gelegenheit, die sich Putin nicht entgehen lassen wollte.