Den Begriff "besorgter Bürger" benutzt du fast in jedem zweiten Beitrag von dir hier im Forum, und meistens benutzt du ihn in einem Kontext, der nicht gerade darauf schließen lässt, dass du irgendeine Art Verständnis, jenseits von "der entsolidarisierte Nutzenmaximierer" hast.
(das dann plötzlich kommt, wenn man nachfragt). Mit so einer komplexitätsreduzierenden Küchensoziologie werden nur die typischen antilinken Ressentiments in diesen Gruppen bedient und noch dazu der Elitendiskurs des "Rabble", der wegen seiner impulsiven und irrationalen Natur eingehegt gehört, oder wie Sigmar Gabriel es gesagt hat: "Das Pack muss eingesperrt werden."
Ich benutze diesen Begriff eigentlich ausschliesslich in genau einem Kontext - und zwar in jenem, in welchem sich eine kleine aber sehr laute Minderheit einer Bande von Verschwörungideologen, findigen Konspiratistik-Vermarktern, sowie mittlerweile auch gehäuft rechtslibertären bis -radikalen Propagandisten und ihren hahnebüchenen Narrativen von der Pandemie als großer Elitenverschwörung gegen "das Volk" anschliesst, um ihre bürgerlichen Privilegien zu verteidigen, und sich dabei einen Dreck um genau die tatsächlichen historischen Entwicklungen oder kapitalismuskritischen Analysen kümmert, deren Intensives Studium Du uns hier immer so gerne als Dein großes Steckenpferd anpreist.
Wo waren die denn alle, während über die letzten zwanzig Jahre der deutsche Sozialstaat und das Rentensytem zugunsten kapitalgedeckter Altersvorsorge weiter geschleift, das Gesundheitssystem privatisiert und kaputt gespart, öffentliche Verwaltungen, Infrastrukturen oder Versorgungsbetriebe entweder nach dem Vorbild privater Unternehmen umorganisiert oder gleich an private Dienstleister outgesourced wurden?
Wo haben die denn in den letzten zwei Jahrzehnten lauthals gegen die Vereinnahmung und korrumption der politischen Klasse durch Unternehmerverbände, Wirtschaftslobbyisten und neoliberale Thinktank-Ideologen protestiert?
Wer von diesen tapferen KämpferInnen wider das "Regime" der Finanzeliten ist denn zu zigtausenden bei Wind und Wetter durch deutsche Fußgängerzonen marschiert, um seiner Empörung gegen deren Übernahme und Gleichmachung durch börsennotierte Einzelhandelskartelle und die systematische Prekarisierung des Verkaufspersonals in den größten Niedriglohnsektor Europas Ausdruck zu verleihen?
Wer von denen hat sich denn vor den Reichstag gestellt und vom Parlament verlangt, endlich mal wirksame Gesetze gegen den Ausverkauf deutscher Innenstädte an global agierende Investmentfirmen aus Steueroasen und gegen die Ausbeutung von MieterInnen für die Kapitalrendite anonymer AnlegerInnen zu verabschieden?
Wo war denn diese engagierte außerparlamentarische Volksvertretung, als sich Regierung und Parlamentsmehrheit eisern weigerten, einen Mindestlohn festzulegen, der Menschen in Niedriglohnjobs eine halbwegs menschenwürdige Teilhabe an der Konsumgesellschaft ermöglicht, Sanktionen gegen arbeitslose Menschen abzuschaffen, mit denen man sie unter das Existenzniveau pressen kann, oder den Hartz IV Regelsatz wenigstens so anzupassen, dass man als TransferleistungsempfängerIn nicht von der sozialen Teilhabe ausgeschlossen wird?
Wer von diesen aufrechten KritikerInnen der "Eliten" hat sich denn während der großen Transformation in die "Informationsgesellschaft" aktiv gegen die vom Staat nicht nur nicht verhinderte, sondern zum Teil sogar aktiv geförderte Monopolisierung des Internethandels und der sozialen Kommunikation, gegen die damit einhergehende Überwachung, Sammlung und Vermarktung von Nutzerdaten, oder gegen deren Weitergabe an Geheimdienste durch private Konzerne auf die Straße gestellt, deren radikale Ausschaltung des Wettbewerbs ihre Gründer überhaupt erst zu den superreichen Eliten-Vertretern gemacht haben die sie heute sind?
Wo haben diese mutigen Aufständischen gegen den Imperialismus der US-Eliten denn öffentlich auf den Plätzen und Straßen der Republik quergedacht, als die Ausspähung privater Telekommunikation bis hin zum Mobiltelefon der KanzlerIn Mutter höchstpersönlich durch den amerikanischen Überwachungsapparat mit einem Achselzucken abgetan und als leider zu tolerierender Kollateralschaden im globalen Kampf gegen den Terror ad acta gelegt wurde?
Wer von diesen heldenhaften Aufständischen für die Grundrechte hat sich denn in gleichem Maße öffentlich echauffiert, als man Polizeigesetze bis zur Verfassungsfeindlichkeit verschärft, staatliche Überwachungssysteme ausgebaut, oder linke Systemkritik politisch und medial immer weiter kriminalisiert und diskreditiert hat, während rechte Terroranschläge verharmlost und rechtsradikale Netzwerke bis hin zur obersten Behördenleitung in den Verfassungsschutz oder in Polizei und Bundeswehr integriert wurden?
Wo sind diese aufrechten Menschenrechtsverteidiger denn auf die Barrikaden gestiegen, als rechtsradilkale Brandstifter durch die deutsche Provinz zogen und Flüchtlingsunterkünfte anzündeten, während die Kanzlerin Mutter eine Rundreise durch sämtliche Autokratien, Diktaturen und Warlord-Regime des Mittelmeerraumes machte, um deren Betreibern deutsches Steuergeld in den Rachen zu stopfen, damit sie die Flucht aus dem globalen Süden in den goldenen Nordwesten künftig in Konzentrationslagern vor der Mittelmeerküste beenden?
etc.. pp
Nochmal: Es sind nicht die Gewerkschaften oder anarcho-syndikalistische Arbeiterräte, die da zum Sturm auf die Bastille den Reichstag aufrufen, sondern vor allem Anwälte, Ärzte oder sonstige mittelständische UnternehmerInnen, sowie mittlerweile auch "liberale" und rechte PolitikerInnen, denen es absolut überhaupt nicht darum geht, die Arbeit zu demokratisieren oder die Produktionsmittel zu vergemeinschaften, und auch nicht darum, mehr Solidarität und Unterstützung für tatsächlich durch die Maßnahmen in existenzielle Not gebrachte Menschen zu erwirken, sondern ausschliesslich darum, die wissenschaftliche Grundlage für die politischen Entscheidungen als erlogene Eliten-Propaganda abzukanzeln, sich selbst zu alternativen Verkündern der einzig wahren Wahrheit empor zu schwingen, und alle die ihre eigenen Autorität als Hohepriester der neuen Gegenaufklärung anzweifeln zu naiven Schlafschafen oder willfährigen Helfershelfern des Eliten-Regimes zu erklären. Und dazu scheint ihnen jedes Mittel recht - selbst wenn sie dabei mit rechtsautoritären Ideologen paktieren müssen.
Das Schicksal der Leute, die von den Maßnahmen tatsächlich in existenzielle Not gebracht werden ist denen allerdings vollkommen egal.
Alles was sie von denen brauchen, ist eine möglichst diffuse Angst, die sich mit der richtigen Propaganda konkretisieren und in die gewünschte Richtung lenken lässt. Genau die selbe Gemengelage aus Ignoranz, Frust, Angst und systematisch aufgestachelter Wut hatten wir hier schon mal - und das endete nicht in einer linken Revolution.