#678 - China-Kenner Kai Strittmatter

  • Sein letztes Buch liest sich wie eine einzige Anklage. Man bekommt den Eindruck, dass er es der Kommunistischen Partei persönlich übel nimmt. dass sie ihm sein China. das ihn als junger Student als exotischer Ort des großen Aufbruches in die #Freiheit so faszinierte, kaputt gemacht hat.


    Zitat von K. Strittmatter - "Die Neuerfindung der Diktatur"

    [...] Die Partei hat Grund zum Feiern. Am 4. Juni 2019 jährt sich zum dreißigsten Mal das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens. Es war nicht nur das Ende der Demokratiebewegung, es war auch das Ende eines großen Volksfestes, eines Happenings, bei dem sich Millionen Bürger an sich selbst und an ihrer neu gefundenen Freiheit berauschten, an ihrem Traum von einem besseren China. »Ich weiß nicht, was wir wollen«, hatte einer der Studenten auf dem Platz im Überschwang gerufen. »Ich weiß nur: Wir wollen mehr davon.« Sie bekamen dann Kugeln und Bajonette in jener Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989. Panzer rollten und brachten die Nacht zum Zittern. Studenten, Arbeiter, Unbeteiligte wurden zermalmt, erschossen, erstochen, Hunderte oder Tausende, bis heute kennt man die Zahl nicht. [...]


    Sein Duktus gleicht bisweilen dem eines verbitterten gehörnten Liebhabers, der sich jetzt daran macht, den gemeinsamen Freundeskreis darüber aufzuklären, was seine Ex eigentlich schon vor über 2.000 Jahren für eine verlogene, billige Schlampe war, die ihrem Kavalier nur so lange schöne Augen machte und ihm den Kopf verdrehte, wie es ihr nützlich erschien, nur um ihn dann brutal zu verstoßen, zu erniedrigen und gegebenenfalls auch um den verdrehten Kopf kürzer zu machen, sobald er ihr lästig wurde.


    Zitat von K. Strittmatter - "Die Neuerfindung der Diktatur"

    [...] Die Umdeutung der Welt, in China haben sie damit lange Erfahrung. Vor mehr als zweitausend Jahren, im Jahr 221 v. Chr., einte Chinas erster Kaiser Qin Shi Huangdi erstmals das Reich. Sein Sohn regierte als Qin Er Shi von 209 bis 207 v. Chr. und hatte einen gefürchteten und machtgierigen Reichskanzler namens Zhao Gao. Der Kanzler ließ eines Tages in der Audienz des Kaisers vor den versammelten Ministern einen Hirsch an den Hof führen. »Eure Majestät«, sagte er und zeigte auf den Hirsch: »Ein Pferd für Euch!« Der Kaiser war ebenso verblüfft wie die Minister und wollte von seinem Reichskanzler wissen, wie denn bitteschön einem Pferd ein Geweih aus dem Schädel wachsen könne. »Wenn Eure Majestät mir nicht glauben«, sagte Zhao Gao daraufhin und deutete auf die Runde der anwesenden Würdenträger, »dann fragen Sie doch einfach Ihre Minister.« Und tatsächlich waren einige der Minister schlau oder aber verängstigt genug, dem Kanzler beizupflichten: »Eure Majestät, es ist wirklich ein Pferd.« Es gab natürlich auch diejenigen, die trotzig darauf bestanden, da stehe doch ein Hirsch, kein Pferd. Die ließ der Reichskanzler nach der Audienz in Ketten legen und hinrichten. Das aber genügte ihm nicht: Hinrichten ließ er auch jene, die erstaunt und erschrocken geschwiegen hatten. Von da an war der Hirsch ein Pferd. Und ein Volk hatte seine Lektion gelernt: Zhilu weima, »den Hirschen zum Pferd machen«, ist bis heute sprichwörtlich in China. [...]

    (Schade, dass man dem chinesischen Kaiser damals keine unsichtbaren Kleider auf den Leib geschneidert hat. Das hätte sicher einiges zur späteren kulturellen Völkerverständigung beigetragen.)


    Das kollektive westliche "Wir" das er schon in der Vorrede (s.o.) bemüht, hat sich zu lange vom fortschrittsgeilen Gesang der chinesischen Sirene in einen naiven Glauben an den "Wandel durch Handel" einlullen lassen, und jetzt muss es von Kai Strittmatter mit der flotten Feder des journalistischen Essayisten und Kommentarschreibers über seinen fatalen Irrtum und die wahre Natur der moralisch verkommenen Hure BabylonBeijing aufgeklärt werden, die in der Gestalt der Kommunistischen Parteiführung damals am Platz des himmlischen Friedens "einfach auf »Löschen«" drückte, um das chinesische Volk neu zu "formatieren".


    Zitat von K. Strittmatter - "Die Neuerfindung der Diktatur"

    [...] Die westlichen Gesellschaften haben es sich in den Gewissheiten der letzten Jahrzehnte bequem eingerichtet und darüber die Erfahrungen mit den totalitären Systemen Faschismus und Sozialismus größtenteils vergessen. So ist der mit Skrupellosigkeit und unbedingtem Machtwillen ausgestattete Autokrat oder Möchtegern-Autokrat den heutigen Demokraten in ihrer Naivität und Unerfahrenheit erst einmal immer einen Schritt voraus. [...]

    Aber die Einschüchterung ist nur das eine. Ebenso wichtig ist es, Verwirrung zu säen, die Bezugsrahmen von Rationalität und Realität zu zerstören, dem Volk und der Welt den Kompass zu nehmen. Wenn du ein Lügner bist und ein Schwindler, dann kannst du nicht gewinnen in einer Welt, in der das etwas ausmacht und in der Unterschiede gemacht werden. Also musst du jeden anderen auch zum Lügner und zum Schwindler machen. Dann bist du zumindest »ihr Lügner«. Hannah Arendt, Erforscherin des real existierenden Totalitarismus, beschrieb das in einem Interview 1974 so: »Wenn jeder dich immerzu anlügt, dann ist die Folge nicht, dass du die Lügen glaubst, sondern vielmehr, dass keiner mehr irgendetwas glaubt.«[6] Ein Volk aber, das an nichts mehr glaubt, das ist seiner Fähigkeiten zu denken und zu urteilen beraubt, letztlich seiner Kapazität zu handeln. »Mit einem solchen Volk«, so Hannah Arendt, »kannst du dann tun, was dir gefällt.« Das ist der ideale Untertan, oder aber das ideale globale Gegenüber.

    Die Schamlosigkeit des Lügners hat ihre Entsprechung in der Scham des Belogenen, zumindest solange er noch um den Irrsinn weiß, den er selbst im Chor mit allen anderen jeden Tag aufs Neue bekräftigt. Er bindet sich über die Wiederholung der offensichtlichen Unwahrheiten durch ein Band der Komplizenschaft an den Lügner. Am Ende ist das Pendant zu den Lügen des Herrschers der Zynismus der Beherrschten, die sich ihr Leben in ihrer Ohnmacht einrichten und sich am Ende nur noch an eines halten: an die Macht des Führers. Der muss dann für nichts mehr Rechenschaft ablegen, da es außerhalb seines Fabulierens keine Wahrheit mehr gibt.

    Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge ist abgeschafft, es gibt nur noch Fakten und alternative Fakten. Und die herrschenden Werte sind nicht Moral und Verantwortungsbewusstsein, sondern Nutzen und Profit. Es bringt nichts, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn du sie erkannt hast, es ist sogar gefährlich. Das Beste ist, du erkennst die Lüge als wahr und umarmst sie leidenschaftlich. So macht es die Gruppe der Fanatiker, das aber wird immer nur die kleinste Gruppe sein. Das Zweitbeste ist, du gehst der Wahrheit aus dem Weg und lebst ein Leben in Betäubung und Ignoranz. Solltest du um die Wahrheit ahnen, dann schweigst du am besten und verstellst dich. Diese beiden Gruppen stellen die Mehrheit im Volk. Die Wahrheit aussprechen aber, das tut nur mehr der Dumme oder der Lebensmüde. Klug in einer solchen Welt nämlich ist nicht der Hellsichtige und Weise, klug ist der Listige und Gerissene. Der gesunde Menschenverstand hat hier keinen Platz, oder vielmehr: Er steht nun für etwas ganz anderes, nämlich für die Rechtfertigung des nackten Überlebens und opportunistischen Vorankommens. [...]


    Mit "Volk" ist hier das chinesische gemeint, das er so liebt, obwohl es offensichtlich entweder eine Bande von Feiglingen und rückgratlosen Opportunisten unter der Knute eines nicht minder zynischen und opportunistischen Imperators ist, oder eine beliebig formbare, und per Knopfdruck neu zu formatierende Masse von von 1,4 Milliarden menschlichen Datenträgern unter Verwaltung eines techno-faschistischen Systemadministrators. Da kann er sich offenbar nicht so recht entscheiden.


    Westlichen Gesellschaften hingegen sind ein Leben in "Betäubung und Ignoranz", kaltes Streben nach Nutzen und Profit, Zynismus und Opportunistisches Mitläufertum selbstredend fremd, denn sie werden von moralisch lupenreinen Demokraten angeführt, die unermüdlich dafür Verantwortung übernehmen, dass sich ehrliche, harte Arbeit am Wohlstand für Alle und an der volkswirtschaflichen Gesamtleistung für ihre, von einer freien Presse stets umfänglich informierten und aufgeklärten freien BürgerInnen lohnen.


    All dem liegt der unerschütterliche Glaube an die real existierende liberale Demokratie und an die vielleicht manchmal fehlgeleiteten, aber doch grundsätzlich guten Absichten ihrer Weltführung zugrunde. Wenn demokratische Supermächte ihren Einfluss auf die restliche Welt geltend machen (außer wenn sie gerade ausnahmsweise von autokratischen Unmenschen wie Donald Trump regiert werden, der in diesem Buch über China immer wieder den Vergleichs-Buhmann spielen muss), dann tun sie das mit bestem Wissen und Gewissen als Dienst an der Menschheit. Wenn fiese Autokraten das selbe tun, dann haben sie dabei nur niederträchtigsten Eigennutz im Sinn. Hier auf den Punkt gebracht:

    Zitat von K. Strittmatter - "Die Neuerfindung der Diktatur"

    So wie die USA einst daran arbeiteten, die Welt zu einem sicheren Ort für Demokratien zu machen, so arbeitet Chinas Führung heute daran, die Welt zu einem sicheren Ort für ihre Autokratie zu machen. Und anders als die russischen Versuche der Einflussnahme im Westen, die oft schlicht destruktiv sind und auf Destabilisierung zielen, geht es der chinesischen Führung dabei meist um konkrete Interessen, und insbesondere darum, frühzeitig Einfluss zu nehmen auf Entscheidungen, in denen sie diese Interessen gefährdet sieht.


    Ich kann das Buch nur empfehlen. Es ist vielleicht nicht die beste Informationsquelle zu China, aber dafür eine schöne Sammlung von kulturellen Kuriositäten, amüsanten Anekdoten, spannenden Schicksalserzählungen und philosophischen Sinnsprüchen. Vor allem ist es ein absolut faszinierender Einblick in die Denkweise eines weitgereisten, weltgewandten und preisgekrönten deutschen Qualitätsjournalisten, und es kostet direkt beim Verlag nur 11,99 EUR als E-Book.

  • Zitat

    Wenn jeder dich immerzu anlügt, dann ist die Folge nicht, dass du die Lügen glaubst, sondern vielmehr, dass keiner mehr irgendetwas glaubt.«[6] Ein Volk aber, das an nichts mehr glaubt, das ist seiner Fähigkeiten zu denken und zu urteilen beraubt, letztlich seiner Kapazität zu handeln. »Mit einem solchen Volk«, so Hannah Arendt, »kannst du dann tun, was dir gefällt.« Das ist der ideale Untertan, oder aber das ideale globale Gegenüber.

    edit: ich seh grad die fragestellung wurde nicht mitkopiert, sie lautet: Welcher Partei trauen sie am ehesten zu, die derzeit wichtigsten politischen Probleme zu lösen.

    und es gibt nach wie vor keine partei die ernsthafte anstalten macht daran irgendwas zu ändern, dieses völlig berechtigte misstrauen das ja jetzt auch nicht neu ist, welches aber überhaupt keine konsequenzen für unseren politischen betrieb und auch kaum welche im medialen betrieb hervorruft werden weiterhin ignoriert werden. aber wir sind die guten und die chinesen müssten nur mal etwas so sein wie wir, dann wär alles gut.


    ja sicher ist das grauenhaft wenn in china kaum mehr von tiananmen massaker weiß oder ein sondereinsatzkommando irgendwelche harmlosen hiphopper entführt aber deutschland redet sich doch auch seit jahrzehnten ein, es hätte hier ne effektive entnazifizierung stattgefunden nach dem fall des dritten reichs. ich glaub 6 der 10 reichsten deutschen familien sind nachfahren von unternehmern die im dritten reich profitiert haben und mit beatrix von storch sitzt die enkelin von hitlers finanzminister im bundestag und diese rechtsradikale partei ist die stärkste kraft im osten und die zweitstärkste kraft im ganzen land.


    und das alles weil diese deutsche bevölkerung seit jahrzehnten unterschiedliche zusammenstellungen der von pispers zitierten "ganz großen koalition" wählen die im grunde alle für die selbe bescheuerte politik stehen die genau zu solchen umfragewerten wie der oben und den umfragewerten der afd führt. aber jemanden der seit 40 jahren den wirtschaftsteil der faz liest, den kriegt man da halt auch nicht mehr weg.


    korruption? wir haben ne staatsekretärin im finanzministerium die den superreichen in deutschland seit jahren tipps gibt wie sie steuern umgehen können. die war da auch im amt unter finanzministern unterschiedlicher parteien. und so weit ich weiß ist die immer noch im amt, es gibt noch nichtmal sonderlich viel druck auf lindner sie zu entlassen. in so einem land brauch ich doch keine zensur mehr.


    dass es in der chinesischen gesellschaft keinen snowden gegeben hätte fand ich auch unfassbar doof. als wenn es was gutes über uns aussagen würde, dass es bei uns nen snowden gibt der uns alles mitgibt was wir brauchen um schwere verbrechen und überwachung an der gesellschaft aufzuklären und unsere rechte wiederherzustellen und nichts davon passiert ist. snowden sitzt halt jetzt bei den russen im exil und wir machen weiter wie bisher.

    dass es qualitative unterschiede in der art und weise der lenkung und in betäubung und ignoranz zwischen china und dem westen gibt will ich nicht bestreiten. aber wir haben doch selbst ein so stark ausgeprägtes ausmaß von diesen dingen, dass wir nun wirklich nicht als vorbild herhalten und somit auch keine anziehungswirkung entfalten können.


    und man fragt sich bei strittmatter dann halt schon wie man so viele jahre damit verbingen kann die folgen von zensur, indoktrination und manipulation in einem fremden kulturkreis zu analysieren und man dann immer noch so blind und naiv gegenüber dem balast sein kann, der einem durch die eigene kultur mitgegeben wurde. ob man ihm das jetzt persönlich ankreiden will oder ob das dann bei uns auch wieder etwas systemisches ist, wofür der arme man dann gar nicht so viel kann ist dann wohl auch wieder so ne philosopische frage.

  • ja sicher ist das grauenhaft wenn in china kaum mehr von tiananmen massaker weiß

    Das Signalwort "Tiannanmen-Massaker" auf das auch Strittmater in dem 288 Seiten dünnen Buch 17 mal direkt, und mit Referenzen auf das Jahr 1989, in dem es sich nach seiner Erzählung quasi als Startpunkt der "Neuerfindung der Diktatur" ereignete, immerhin 38 mal indirekt verweist, ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie historische Ereignisse nicht nur in China durch ideologische Verdrehung im Sinne der Herrschaft instrumentalisiert (oder totgeschwiegen und per "Formatierung" des Volksgedächtnisses aus der Geschichte gelöscht) werden, sondern ebenso dafür, wie sie auch im freien Westen durch sich selbst ganz faktentreu und ideologiefrei wähnende Qualitätsmedienschaffende so zurecht gerückt und "eingeordnet" werden können, dass sie fortan der eigenen Seite in der Systemkonkurrenz als schnell dahin geschriebenes Schlagwort und bedeutungsschwangeres Symbol für die Verkommenheit der Gegenseite dienen.

    The Myth of Tiananmen

    And the price of a passive press

    Dass die Chinesische Führung damals bei der Niederschlagung der Proteste in Beijing eine Menge Leute getötet und verhaftet hat, kann man als gesichert ansehen. Dass es sich dabei aber, so wie Strittmatter und die meisten anderen westlichen Chronisten des Geschehens es darstellen, in erster Linie um eine Niederschlagung einer an westlichen Freiheitsidealen orientierten Studentenbewegung gehandelt habe, ist bestenfalls ein Teil der Wahrheit.

    Tatsächlich waren die meisten Opfer des Militäreinsatzes in jener Nacht im Juni 1989 und der darauf folgenden staatlichen Säuberungsaktionen wohl eher nicht die studierenden Kinder der neuen chinesischen Mittel-. und Oberschicht, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens für mehr Freiheit und liberale Demokratie demonstriert hatten, sondern protestierende Arbeiter in anderen Teilen der Stadt, die sich dabei auch gegen ihre mit der Öffnung der chinesischen Volkswirtschaft für westliches Kapital massiv verschärfte Ausbeutung für den Profit zur wehr setzten, und die eine durchaus andere Vorstellung von Demkoratie hatten, als die Studenten auf dem Tiananmen-Platz.

    The Forgotten Socialists of Tiananmen Square

    What the world remembers about the 1989 Tiananmen Square protests were the students. But above all, it was a mass workers’ uprising for socialist democracy.

    [...] Public discourse on the 1989 Tiananmen Democracy Movement has been dominated by two narratives. The most prevalent interprets the movement in the framework of “democracy vs. authoritarianism.” The “democracy” in this narrative almost always refers to liberal democracy. In this telling, intellectuals and college students deeply influenced by Western liberalism hoped to push the Chinese Communist Party (CCP) to accelerate political liberalization, which had been rolled out only intermittently during the 1980s. The goal of the movement was to keep democratization advancing apace with marketization.

    The second narrative, much less influential than the first but nonetheless widely circulated among segments of the Chinese and international left, interprets the movement in the framework of “socialism vs. capitalism.” In this narrative, China’s marketization reforms in the 1980s produced severe inflation and rising inequality, which hurt the livelihoods of urban populations and gravely intensified discontent. Therefore, the 1989 Tiananmen Democracy Movement was in fact an anti-market, anticapitalist movement triggered by material grievances.

    Both of these narratives are flawed. In the “democracy vs. authoritarianism” narrative, the protagonists were always intellectuals and students. Almost completely ignored were workers and ordinary residents of Beijing, who played a significant role in the movement. In fact, measured by both the estimated death tolls during the final massacre on the evening of June 3 and early morning of June 4 and the intensity of repression thereafter, workers paid a much higher price than students and intellectuals, in a way similar to the 1980 Gwangju Uprising in South Korea. Yet in the liberal narrative, workers are largely absent.

    The “socialism vs. capitalism” narrative acknowledges workers’ role in the movement but obscures the fact that democratic aspirations were indeed the dominant theme. These aspirations cannot be captured by the economic dimension of “anticapitalism.” Moreover, even though discontent with marketization proved crucial in forging workers’ participation, workers in the movement did not express any wish to return to the era before marketization. Almost absent as well was any nostalgia about the Maoist era or Mao himself.

    We need to simultaneously break away from both of these narratives, rejecting the exclusive focus on students and intellectuals, taking workers seriously, and at the same time acknowledging that “democracy” was the core demand of workers as well. Most importantly, “democracy” as understood by workers was different from the liberal notion embraced by students and intellectuals; it was a distinctly socialist vision of democracy premised on the agency of the working class. This dimension of the 1989 Tiananmen Democracy Movement, as a workers’ movement fighting for socialist democracy, is important both for the writing of history and politically, but has been mostly forgotten. [...]


    Wenn man das ganze allerdings nur durch eine "links"-liberale, bürgerliche Brille betrachtet - so wie Strittmatter, der im Buch den selbsterklärten historischen Materialisten Karl Marx immerhin 23 mal erwähnt, aber sich dabei nie auch nur oberflächlich mit dessen Kapitalismusanalyse beschäftigt, und ihn stattdessen lieber als diffuse Symbolfigur verwendet, die er kurzerhand zum Idealisten erklärt...

    Zitat von Kai Strittmatter - a.a.O.

    Die Partei hat gezeigt, dass sie das kann: die Naturgesetze außer Kraft setzen, gegen die Schwerkraft regieren. Also den Kapitalismus importieren und gleichzeitig, wenn schon nicht dem Idealisten Marx, dann doch dem Machtmenschen Lenin treu bleiben.

    ...dessen nicht weiter erläuterte Ideale die Kommunistische Partei selbst verraten habe, dann passen protestierende Arbeiter, die eigentlich gar nicht für, sondern gegen eine weitere Öffnung gegenüber westlichen #Werten auf die Straße gingen, eben nicht so gut in die Erzählung von der brutalen Niederschlagung einer von den hehren Idealen der liberalen Demokratie erfüllten Grasswurzelbewegung durch einen grausamen Unterdrückunsapparat, dem nichts fürchterlicheres im Sinn steht, als die Auslöschung der liberalen Seelen und ihre Neuformatierung zum willenlosen Untertanengeist.

  • Wie gesagt, ich finde es irre, was für Maßstäbe an einen Auslandskorrespondenten angelegt werden. Expertisen werden abgewertet, weil er in Themen, die nicht seine Expertise sind, eine andere Haltung hat als viele geopolitischen Sofaexperten hier. Merkt ihr eigentlich, was ihr hier redet?

    Ich denke nicht, dass eine kritische Auseinandersetzung eine Abwertung darstellt. Immerhin nimmt man sich Zeit um sich mit seinen Positionen kritisch auseinander zu setzen. Wäre es dir lieber, wenn auf deine Gäste immer unkritisch reagiert wird, wenn du sie persönlich magst?

    Ähnlich wie wenn dir vorgeworfen wird, dass du Gästen unfaire Fragen stellst, sehe ich es hier auch so: Sowohl die Aussage/Antwort als auch die Frage/Kritik daran stehen für sich und die Leser/Hörer können für sich selbst einordnen, was sie überzeugend finden. Das macht das Format super und die Diskussion im Forum wertvoll (zumindest gelegentlich).

    10-- 1-01 10=- 1-00 1--2 10=0 1-2= 1-01 10=0 1-01 1-20 10=1 10=2 10=1 1-10 10=0 10=1 1-00 1-21 1-21 1-02

  • Das Signalwort "Tiannanmen-Massaker" auf das auch Strittmater in dem 288 Seiten dünnen Buch 17 mal direkt, und mit Referenzen auf das Jahr 1989, in dem es sich nach seiner Erzählung quasi als Startpunkt der "Neuerfindung der Diktatur" ereignete, immerhin 38 mal indirekt verweist, ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie historische Ereignisse nicht nur in China durch ideologische Verdrehung im Sinne der Herrschaft instrumentalisiert (oder totgeschwiegen und per "Formatierung" des Volksgedächtnisses aus der Geschichte gelöscht) werden, sondern ebenso dafür, wie sie auch im freien Westen durch sich selbst ganz faktentreu und ideologiefrei wähnende Qualitätsmedienschaffende so zurecht gerückt und "eingeordnet" werden können, dass sie fortan der eigenen Seite in der Systemkonkurrenz als schnell dahin geschriebenes Schlagwort und bedeutungsschwangeres Symbol für die Verkommenheit der Gegenseite dienen.

    The Myth of Tiananmen

    And the price of a passive press

    Dass die Chinesische Führung damals bei der Niederschlagung der Proteste in Beijing eine Menge Leute getötet und verhaftet hat, kann man als gesichert ansehen. Dass es sich dabei aber, so wie Strittmatter und die meisten anderen westlichen Chronisten des Geschehens es darstellen, in erster Linie um eine Niederschlagung einer an westlichen Freiheitsidealen orientierten Studentenbewegung gehandelt habe, ist bestenfalls ein Teil der Wahrheit.

    Tatsächlich waren die meisten Opfer des Militäreinsatzes in jener Nacht im Juni 1989 und der darauf folgenden staatlichen Säuberungsaktionen wohl eher nicht die studierenden Kinder der neuen chinesischen Mittel-. und Oberschicht, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens für mehr Freiheit und liberale Demokratie demonstriert hatten, sondern protestierende Arbeiter in anderen Teilen der Stadt, die sich dabei auch gegen ihre mit der Öffnung der chinesischen Volkswirtschaft für westliches Kapital massiv verschärfte Ausbeutung für den Profit zur wehr setzten, und die eine durchaus andere Vorstellung von Demkoratie hatten, als die Studenten auf dem Tiananmen-Platz.

    The Forgotten Socialists of Tiananmen Square

    What the world remembers about the 1989 Tiananmen Square protests were the students. But above all, it was a mass workers’ uprising for socialist democracy.


    Guter Beitrag, Affe.


    In dem Zusammenhang m.E. auch wichtig: Naomi Kleins Schock Strategie. (Ebenso wichtig für die Entwicklung Russlands in den 90ern hin zum aktuellen Krieg, ebensowenig Teil der allgemeinen Debatte. Leider.)





Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!