#605 - Ulrike Herrmann über das Ende des Kapitalismus

  • Als theoretisches, aber in der Praxis irrelevantes Konstrukt kann man ihre Idee vom idealen Kapitalismus sicher stehenlassen.


    In der Praxis kann man sich dann überlegen, welche politischen Entscheidungen (Rahmenregelungen) es braucht, um sich der Theorie anzunähern. Und was die Gründe dafür sind, dass wir uns aktuell davon immer weiter entfernen.

  • Der Kapitalismus an sich kann nichts dafür, im Gegenteil: Er funktioniert nur dann perfekt, wenn die Arbeitenden gut bezahlt werden.

    Der ganze Sinn der Marxschen Kapitalismuskritik war es nachzuweisen, dass der Kapitalismus halt leider überhaupt nicht in disem Sinne "perfekt" funktionieren kann, weil er sich permanent selbst daran hindert, indem er zu immer mehr Akkumulation von Kapital bei immer weniger Kapitalisten führt, die dann den Markt beherrschen und den schönen Wettbewerb kaputt machen.


    Letzteres beklagt sie dann ja auch wieder zu recht, aber dass das eine mit dem anderen was zu tun haben könnte, will ihr partout nicht in den Sinn kommen.

  • Der Gedanke ist ebenso einleuchtend wie irrelevant, denn kein Kapitalist denkt volkswirtschaftlich. Der nächste Quartalsbericht ist wichtiger als der in 20 Jahren und zur kurzfristigen Gewinnmaximierung ist eben Lohndrückerei ein probates Mittel, insbesondere dann, wenn der Konkurrent auch kaum was zahlt und, sofern Löhne trotz Automatisierung noch einen relevanten Kostenfaktor darstellen, damit einen Wettbewerbsvorteil hat.

    Gut. Aber ihre Idee ist doch, so wie ich sie verstehe, dass die Regierung die "politische Entscheidung" treffen könnte, die Kapitalisten zu zwingen die Lohndrückerei zu unterlassen. Stichwort: Mindestlohn. Und die "politische Fehlentscheidung" ist, das nicht zu tun.

  • Gut. Aber ihre Idee ist doch, so wie ich sie verstehe, dass die Regierung die "politische Entscheidung" treffen könnte, die Kapitalisten zu zwingen die Lohndrückerei zu unterlassen. Stichwort: Mindestlohn. Und die "politische Fehlentscheidung" ist, das nicht zu tun.

    Und da wirft Tilo zurecht ein, dass die Regierung beeinflusst wird und der Wähler auch nicht eine nicht-indoktrinierte Entscheidung trifft, wenn er wählt.

    Das blockt sie dann mit einem äußerst uninspirierten "selber schuld" ab. Na ja, hilft halt argumentativ und ideologisch keinen Schritt weiter, aber zumindest kann man sich auf die Schulter klopfen, dass man theoretisch irgendwie richtig läge, wenn denn die doofe Realität nicht wäre.

  • theoretisch hat sie ja Recht mit ihren Argumenten, der Kapitalismus an sich bräuchte keine Ausbeutung,

    Sie hat nichtmal theoretisch recht damit, bzw. geht das nur dann glatt, wenn man - wie sie es ja auch tut - generell bestreitet, dass der Mehrwert durch nicht adäquat bezahlte Arbeitskraft geschöpft wird, indem der Arbeitgeber einen Teil davon im Unternehmen behält.


    Sie hat natürlich recht damit, dass Marx die Energiekosten vernachlässigt hat, weil das zu seiner Zeit einfach noch kein Thema war. Aber die ganze billige Energie nutzt halt nichts, wenn man sie nicht mit menschlicher Arbeit und investiertem Kapital zusammen bringt, um damit Waren herzustellen,


    Und wenn der private Kapitaleigentümer seinen Angestelleten von dem Erlös, den er durch den Absatz der mit ihrer Hilfe produzierten Waren am Markt umsetzen kann, genau den Anteil auszahlen würde, der ihrem Anteil am Arbeitsaufwand entspräche, dann bliebe nach Abzug der Kosten für Energie und Investitionen halt auch kein Profit mehr für ihn übrig. Und dann gäbe es auch keinen "Arbeitsmarkt", weil sich die Löhne ja dann automatisch aus dem Verkaufspreis der Waren ergeben würden.

  • Auch schön ist die Theorie über Russland als letzte verbliebene Kolonialmacht. Da muss man aber schon sehr tief ins laufende Narrativ eingetaucht sein, um so komplett ignorieren zu können, dass z.B. die USA ihr gesamtes Staatsgebiet mit Mord, Totschlag und Sklaverei von anderen Menschen geraubt haben, oder dass sie heute noch den Anspruch erheben, die gesamte südliche Hälfte der amerikanischen Landmasse als ihren "Hinterhof" zu behandeln, und dabei den Millionen von Menschen die dort leben, und für den Norden ausgebeutet werden, nicht mal das Recht einräumen, ihre Kolonialherren selbst zu wählen.

  • Utan

    Schon klar, aber abgeschöpfter Mehrwert durch den Kapitalisten heißt ja nicht automatisch Ausbeutung des Arbeiters, letzteres ist dann doch schon eine qualitative (moralische) Wertung, d. h. die Diskrepanz zwischen erstem und zweitem muss groß sein.

    Ich hoffe, es ist verständlich, was ich meine.

  • aber abgeschöpfter Mehrwert durch den Kapitalisten heißt ja nicht automatisch Ausbeutung des Arbeiters

    Ja doch. So wie Marx das meinte, heißt das genau das. Sie gibt ja selbst zu, dass das keine moralische Kritik war, sondern eine ökonomische. Ob man das moralisch in Ordnung findet oder nicht, ist eine ganz andere Frage.

  • Und da wirft Tilo zurecht ein, dass die Regierung beeinflusst wird und der Wähler auch nicht eine nicht-indoktrinierte Entscheidung trifft, wenn er wählt.

    Das blockt sie dann mit einem äußerst uninspirierten "selber schuld" ab.

    Sagt sie da nicht, dass sie eben ein anderes Verständnis/Vorstellung von Demokratie hätte als Tilo? Die Frage wäre dann, wie realistisch ihre Vorstellung von der Funktionsweise der westlichen Demokratie ist. Und ob eine "wahre Demokratie", die Wähler-Entscheidungen ungefiltert passieren lässt, und Kapitalismus, in einem System theoretisch koexistieren könnten.

  • Ja doch. So wie Marx das meinte, heißt das genau das. Sie gibt ja selbst zu, dass das keine moralische Kritik war, sondern eine ökonomische. Ob man das moralisch in Ordnung findet oder nicht, ist eine ganz andere Frage.

    Bei Marx vielleicht, bei ihr nicht. Zumindest war das mein Eindruck, deshalb präzisierte sie ja auch explizit bei der Übersetzung (aus dem Englischen) von Ausbeutung im Sinne von Abbau von Bodenschätzen. Extraction vs. Exploitation.


    Oder wir reden gerade ein wenig aneinander vorbei, das kann auch sein.

    Es ist halt immer schwierig, wenn der gleiche Begriff für verschiedene Bedeutungen verwendet wird. Bei Marx ist die Ausbeutung vermutlich (das weißt Du besser) das Arbeitsprinzip, nach dem der Kapitalist die Arbeitskraft nutzt, im allgemeinen Sprachverständnis ist Ausbeutung hingegen das so niedrige (monetäre) Entlohnen einer Tätigkeit, dass damit soziale Teilhabe auf der einen verunmöglicht wird und unverhältnismäßiger Reichtum auf der anderen Seite entsteht.

    Also eine funktionale vs. eine moralische Begriffsdeutung (die sich aber natürlich funktional zumindest in einer Richtung gegenseitig bedingen, das ist klar).

  • Sagt sie da nicht, dass sie eben ein anderes Verständnis/Vorstellung von Demokratie hätte als Tilo? Die Frage wäre dann, wie realistisch ihre Vorstellung von der Funktionsweise der westlichen Demokratie ist. Und ob eine "wahre Demokratie", die Wähler-Entscheidungen ungefiltert passieren lässt, und Kapitalismus, in einem System theoretisch koexistieren könnten.

    Das habe ich nicht mehr ganz auf dem Schirm, aber im Fall der Fälle befürchte ich, dass ihre Vorstellung von Demokratie dann genauso realistisch ist, wie ihre Vorstellung von Kapitalismus...

  • Oder wir reden gerade ein wenig aneinander vorbei, das kann auch sein.

    Es ist halt immer schwierig, wenn der gleiche Begriff für verschiedene Bedeutungen verwendet wird. Bei Marx ist die Ausbeutung vermutlich (das weißt Du besser) das Arbeitsprinzip, nach dem der Kapitalist die Arbeitskraft nutzt, im allgemeinen Sprachverständnis ist Ausbeutung hingegen das so niedrige (monetäre) Entlohnen einer Tätigkeit, dass damit soziale Teilhabe auf der einen verunmöglicht wird und unverhältnismäßiger Reichtum auf der anderen Seite entsteht.

    Ich bezog mich dabei auf Herrmann, die sich auf Marx bezieht und explizit sagt, dass er mit seiner Version der Arbeitswerttheorie - zu der auch der Mehrwert gehört - unrecht gehabt hätte. Da ist der Kontext für mich eigentlich schon ganz eindeutig.

  • Utan

    Schon klar, aber abgeschöpfter Mehrwert durch den Kapitalisten heißt ja nicht automatisch Ausbeutung des Arbeiters, letzteres ist dann doch schon eine qualitative (moralische) Wertung, d. h. die Diskrepanz zwischen erstem und zweitem muss groß sein.

    Ich hoffe, es ist verständlich, was ich meine.

    Ob man mit Ausbeutung schlechte Arbeitsbedingungen meint oder nicht, dem Arbeiter MUSS ein Teil seines produzierten Mehrwertes, den er durch seine eigene Arbeit herstellt hat, vom Arbeitgeber abgenommen werden, da sonst kein Profit entsteht. Und das ist selbst der Fall, wenn die Arbeitsbedingungen sehr gut sind. Ausbeutung ist deshalb bei allen Formen von der kapitalistischen Lohnarbeit der Fall. Deswegen ist das für Marx eine Systemfunktion:) Die Existenz von Mehrwert an sich ist keine Ausbeutung, aber die private Aneignung davon, was im Kapitalismus der Fall ist. Ansonsten würde ja der Arbeiter seinen Mehrwert für sich nehmen.

  • Die Könige hatten früher auch keine Waschmaschinen (Waschweiber?) und daher sind sie Monate lang in dreckigen Klamotten rumgelaufen und haben gestunken...sie hat schon echt geile Theorien...

    Die haut da so Klopper raus, dass sie damit echt alles was sie sonst so an wohlmöglich Richtigem äußert direkt diskreditiert... :(

    Für sie gibts irgendwie erst seit der elektrischen Technik und dem Kapitalismus sowas wie Entwicklungen, Werkzeuge und Technik.


    https://www.hersfelder-zeitung…mittel-antike-942052.html

    Zitat

    Waschmittel gibt es nämlich nicht erst seit der Erfindung der Waschmaschine. Seit Jahrtausenden schon haben die Menschen Mittel und Wege gefunden, um ihre Kleidung von Schmutz zu befreien.

    https://www.uni-due.de/~hc0014…eschichte/Geschichte3.htm

    Zitat

    Die Römer und die Griechen reinigten jahrhundertlang ihre Wäsche mit Aschenlauge und salbten ihren Körper mit ÖI.

    https://www.regensburger-tageb…rg-die-waschmaschine.html

    Zitat

    Die bequeme und höchstvortheilhafte Waschmaschine

    Frankfurt 1767

    von Jacob Christian Schäffer (1718-1790)

    waschmaschine-schaeffer.jpg



    Dass die sich im Mittelalter alle nicht mehr so wirklich wuschen hatte also nix mit mangelnder Technik zu tun.

    http://www.marquise.de/de/1700/buerger/hygiene.shtml

    Zitat

    Georges Vigarello (siehe Fußnoten) hat einige Originaltexte vom Mittelalter bis zur Neuzeit zusammengetragen, die belegen, daß Baden und Waschen mit Wasser im Mittelalter noch recht üblich waren, im Verlauf des 15. und 16. Jahrhunderts aber allmählich diskreditiert wurden. Dafür gibt es mehrere mögliche Gründe, z.B. daß das Baden überhaupt, vor allem aber öffentliche Badeanstalten, im Mittelalter vor allem dem Vergnügen dienten und eine mehr oder minder laszive Komponente hatten. Manche Badehäuser hatten sogar Separées, in die Pärchen sich zurückziehen konnten.¹ Der Übergang zwischen Badehaus und Puff ist fließend, die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten entsprechend hoch. Zu allem Überfluß breitete sich um 1500 herum eine scheinbar neue Krankheit aus, die vielleicht aus Amerkika stammte: Syphilis. Daß daran nicht das Wasser schuld war, sondern der Sex, konnte man nicht ahnen, da man nur sehr vage, von Aberglauben gefärbte Vorstellungen von Ansteckungswegen hatte.


    Ein weitaus einleuchtenderer Grund aber besteht in der damals herrschenden Vorstellung, daß Wasser in der Lage sei, durch die Poren in den Körper einzudringen, ihn durch und durch aufzuweichen und ihn somit allen möglichen, im Wasser und in der Luft lauernden Gefahren gegenüber wehrlos zu machen². In einer Zeit wiederkehrender Pestepidemien erschien dies als äußerst bedrohlich. Entgegen gängiger Vorstellungen war die Pest nicht auf das Mittelalter beschränkt (man denkt da meist an die Epidemie von 1349/50), sondern flammte vor allem im 16. und 17. Jahrhundert immer wieder auf – eben in jener Zeit, als das Waschen mit Wasser zunehmend als schädlich betrachtet wurde.


    Das heißt aber nicht, daß die Menschen von Sauberkeit nichts mehr hielten. Sie mußten nur Möglichkeiten finden, ohne Wasser oder zumindest ohne Eintauchen in selbiges sauber zu werden. Im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts wandelte sich deshalb der Sauberkeitsbegriff: Man rieb sich das Gesicht und z.T. den Körper mit sauberen, parfümierten Tüchern ab, wechselte häufiger die Wäsche und puderte die Haare mit parfümierten Pudern. Hatte man im Mittelalter das Hemd einmal im Monat gewechselt, so wechselte man es im späten 17. Jh. zweimal die Woche. Weiße Wäsche und Wohlgeruch, ordentliche und der Mode entsprechende Kleidung wurden mit Sauberkeit gleichgesetzt³.

  • Lieber Thilo, sei nicht naiv; vergiß nicht, daß Deutschland "nur" zu 2% zur Klimakatastrophe beiträgt und vor allem, daß die restliche unterpriviligierte Welt denselben Lebensstandard anstrebt, den wir genießen dürfen.

  • Ach und mal noch so ne Frage. Wurde da früher, also vor allem bei den von ihr angesprochenen Feudalherren, nach privatem und staatlichem Eigentum unterschieden? Oder war das nicht viel mehr einfach staatliches Eigentum und der Feudalherr halt der Chef über eben dieses?

  • Ob man mit Ausbeutung schlechte Arbeitsbedingungen meint oder nicht, dem Arbeiter MUSS ein Teil seines produzierten Mehrwertes, den er durch seine eigene Arbeit herstellt hat, vom Arbeitgeber abgenommen werden, da sonst kein Profit entsteht. Und das ist selbst der Fall, wenn die Arbeitsbedingungen sehr gut sind. Ausbeutung ist deshalb bei allen Formen von der kapitalistischen Lohnarbeit der Fall. Deswegen ist das für Marx eine Systemfunktion:) Die Existenz von Mehrwert an sich ist keine Ausbeutung, aber die private Aneignung davon, was im Kapitalismus der Fall ist. Ansonsten würde ja der Arbeiter seinen Mehrwert für sich nehmen.

    Dass Ausbeutung und z. B. Abschöpfung im allgemeinen Sprachgebrauch heute unterschiedlich denotiert sind, ist Dir doch hoffentlich auch klar.

    Wenn heute in einer kapitalistischen Gesellschaft, wie der deutschen, von Ausbeutung im Zusammenhang mit Arbeit gesprochen wird, ist nicht die Abschöpfung von Mehrwert gemeint. Vielleicht hat das Marx so funktional verschränkt, das weiß Utan sicher besser, aber heute ist Ausbeutung eben eindeutig denotiert. Ein (festangestellter) Bandarbeiter bei Mercedes wird nicht ausgebeutet, auch wenn sein Mehrwert abgeschöpft wird. So ist das heutige Begriffsverständnis. Aus Marx'scher Perspektive ist das vielleicht semantische Schwurbelei, aber diese Perspektive ist halt alles andere als die vorherrschende.

    Das und nichts sonst war mein Problem und genau da hatte ich eine Mißkommunikation im Interview vermutet.

  • Dass Ausbeutung und z. B. Abschöpfung im allgemeinen Sprachgebrauch heute unterschiedlich denotiert sind, ist Dir doch hoffentlich auch klar.

    Wenn heute in einer kapitalistischen Gesellschaft, wie der deutschen, von Ausbeutung im Zusammenhang mit Arbeit gesprochen wird, ist nicht die Abschöpfung von Mehrwert gemeint. Vielleicht hat das Marx so funktional verschränkt, das weiß Utan sicher besser, aber heute ist Ausbeutung eben eindeutig denotiert. Ein (festangestellter) Bandarbeiter bei Mercedes wird nicht ausgebeutet, auch wenn sein Mehrwert abgeschöpft wird. So ist das heutige Begriffsverständnis. Aus Marx'scher Perspektive ist das vielleicht semantische Schwurbelei, aber diese Perspektive ist halt alles andere als die vorherrschende.

    Das und nichts sonst war mein Problem und genau da hatte ich eine Mißkommunikation im Interview vermutet.

    Du hast Mehrwert und Kapitalist als Begriffe benutzt....

    Gibt bei Marx aber noch den Begriff der Verelendung, den würde Marx eher benutzen als Analogie zum bürgerlichen Ausbeutungsbegriff (schlechte Arbeitsbedingungen), der die systemischen Verhältnisse verschleiert.

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