#589 - Ideenhistoriker Oliver Weber

  • Ich sehe die französischen und amerikanischen Revolutionen schon eindeutig als Schritte in der Entwicklung des Sozialismus. Der war ja nicht einfach plötzlich da. Er entwickelt sich ja immer noch.

    Hmmm... Da müsste man jetzt mal einen Ideenhistoriker fragen, ob das Schritte der Entwicklung des Sozialismus waren, oder ob sich der Sozialismus nicht eher als Gegenbewegung zur postrevolutionären Ordnung entwickelte.


    Der alte Revolutionsprophet K. Marx, sah jedenfalls gut fünfzig Jahre später in Frankreich 1848 alles andere als den Sozialismus am Werk, sondern vielmehr die Herrschaft einer bräsigen Bourgeoisie, die sich dann in der sogennanten Februar-"Revolution" relativ widerstandslos von einem Neffen Napoleons I., der sich als populistischer Arbeiter- und Bauernführer inszenierte, in die Diktatur der "2. Republik" unter seiner Herrschaft als neuer Kaiser Napoleon III. usurpieren ließ:


    Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Caussidière für Danton, Louis Blanc für Robespierre, die Montagne von 1848-1851 für die Montagne von 1793-1795, der Neffe [Louis Napoleon III.] für den Onkel [Napoleon I.]. Und dieselbe Karikatur in den Umständen, unter denen die zweite Auflage des achtzehnten Brumaire herausgegeben wird!

    Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wußte nichts besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793-1795 zu parodieren. So übersetzt der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache, aber den Geist der neuen Sprache hat er sich nur angeeignet, und frei in ihr zu produzieren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergißt.

    Bei Betrachtung jener weltgeschichtlichen Totenbeschwörungen zeigt sich sofort ein springender Unterschied. Camille Desmoulins, Danton, Robespierre, <116> St-Just, Napoleon, die Heroen, wie die Parteien und die Masse der alten französischen Revolution, vollbrachten in dem römischen Kostüme und mit römischen Phrasen die Aufgaben ihrer Zeit, die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Die einen schlugen den feudalen Boden in Stücke und mähten die feudalen Köpfe ab, die darauf gewachsen waren. Der andere schuf im Innern von Frankreich die Bedingungen, worunter erst die freie Konkurrenz entwickelt, das parzellierte Grundeigentum ausgebeutet, die entfesselte industrielle Produktivkraft der Nation verwandt werden konnte, und jenseits der französischen Grenzen fegte er überall die feudalen Gestaltungen weg, soweit es nötig war, um der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich eine entsprechende, zeitgemäße Umgebung auf dem europäischen Kontinent zu verschaffen. Die neue Gesellschaftsformation einmal hergestellt, verschwanden die vorsündflutlichen Kolosse und mit ihnen das wieder auferstandene Römertum – die Brutusse, Gracchusse, Publicolas, die Tribunen, die Senatoren und Cäsar selbst. Die bürgerliche Gesellschaft in ihrer nüchternen Wirklichkeit hatte sich ihre wahren Dolmetscher und Sprachführer erzeugt in den Says, Cousins, Royer-Collards, Benjamin Constants und Guizots, ihre wirklichen Heerführer saßen hinter dem Kontortisch, und der Speckkopf Ludwigs XVIII. war ihr politisches Haupt. Ganz absorbiert in die Produktion des Reichtums und in den friedlichen Kampf der Konkurrenz begriff sie nicht mehr, daß die Gespenster der Römerzeit ihre Wiege gehütet hatten. Aber unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des Bürgerkriegs und der Völkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen. Und ihre Gladiatoren fanden in den klassisch strengen Überlieferungen der römischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurfte, um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten. So hatten auf einer andern Entwicklungsstufe, ein Jahrhundert früher, Cromwell und das englische Volk dem Alten Testament Sprache, Leidenschaften und Illusionen für ihre bürgerliche Revolution entlehnt. Als das wirkliche Ziel erreicht, als die bürgerliche Umgestaltung der englischen Gesellschaft vollbracht war, verdrängte Locke den Habakuk.

    Die Totenerweckung in jenen Revolutionen diente also dazu, die neuen Kämpfe zu verherrlichen, nicht die alten zu parodieren, die gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertreiben, nicht vor ihrer Lösung in der Wirklichkeit zurückzuflüchten, den Geist der Revolution wiederzufinden, nicht ihr Gespenst wieder umgehen zu machen.[...]


    Jetzt kann man natürlich marxistisch-leninistisch konstatieren, dass die Herrschaft der Bourgeoisie und ihrer kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte eine historische Notwendigkeit gewesen sei, um dem Proletariat die kommunistische Revolution zu ermöglichen, aber bisher ist das ja leider noch nirgendwo tatsächlich passiert.

    Die großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts in Russland und China fanden schliesslich nicht in hochentwickelten Industrieländern statt, sondern in eher rückständigen Gesellschaften, deren vorwiegend mit einfacher Landwirtschaft beschäftigte Produktivkräfte dann von den Revolutionsführern erst mit brutaler Staatsgewalt entwickelt werden mussten.


    Ich würde sagen, die französischen und amerikanischen Revolutionen und der mit ihnen zur Blüte gebrachte klassische Liberalismus waren historische Ereignisse in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation, die unter anderem auch die Voraussetzungen zur Entwicklung des (theoretischen!) Sozialismus schufen, aber aus diesen Voraussetzungen entstanden letztendlich auch alle möglichen Diktaturen - z.B. das postrevolutionäre Imperium des Kaisers Napoleon I. - bis hin zum Faschismus und zum National-"sozialismus".


    Immerhin berufen sich auch erzkonservative und absolut pro-kapitalistische PolitikerInnen in Frankreich und in den USA heute noch auf die revolutionären Gründungsakte ihrer Staaten und legitimieren ihre Herrschaft damit, die einzig aufrechten BewahrerInnen des freiheitlich-republikanischen Geistes wider die Agenten des Chaos und des freiheitsfeindlichen Kollektivismus der Sozialisten zu sein.

  • Ja nun habt ihr Marner  Utan das was ich meine in längere Absätze verpackt. Ist vielleicht besser so. Ich widerspreche nicht.

    Aber nur vielleicht, pick doch aus beiden Beiträgen raus was du gut findest oder eben nicht. Ohne Widerspruch und Nörgeln kein Fortschritt. Wäre schön hier wieder mehr Beiträge von ein paar anderen als der immergleichen Hand voll Leutys zu lesen.

  • Aber nur vielleicht, pick doch aus beiden Beiträgen raus was du gut findest oder eben nicht. Ohne Widerspruch und Nörgeln kein Fortschritt. Wäre schön hier wieder mehr Beiträge von ein paar anderen als der immergleichen Hand voll Leutys.

    Wie gesagt habe ich nichts zu nörgeln. Und euer nörgeln fand ich gut. Es kam noch nicht mal als nörgeln rüber, denn ihr habt nur die Details hinzugefügt die ich absichtlich (oder aus Mangel an Talent und/oder Wissen) weggelassen hatte.

  • Ja nun habt ihr Marner  Utan das was ich meine in längere Absätze verpackt. Ist vielleicht besser so. Ich widerspreche nicht.



    Ich glaube, du verwechselst Klassischen Liberalismus mit Klassischer Ökonomie.

    Wenn man sagt, man wäre Klassischer Liberaler, dann muss sich das nicht nur auf seine ökonomischen Ansichten beziehen. Klassischer Liberalismus vertritt ja auch Werte wie politische Gleichheit, Meinungsfreiheit, Bildung, Eigentum usw. und in der Hinsicht gibt es Überschneidungen mit dem Sozialismus. Der Unterschied zum Sozialismus liegt dann in den Vorstellungen von Ökonomie, da der Sozialismus den Kapitalismus strikt ablehnt (sein Gegenpol ist) , der Klassische Liberalismus aber nicht. Natürlich gibts auch Marktsozialismus, wenn man Annimmt, dass es nicht-kapitalistische Marktsysteme gibt. John Stuart Mill könnte man zum Marktsozialismus zählen, da er Kooperative mit Marktsystem als Ziel der ökonomischen Entwicklung gesehen hat. Und in diesem Marktsystem sollen dann Werte wie politische Gleichheit, Meinungsfreiheit, Bildung, Eigentum (Kollektiveigentum dann) usw. realisiert sein. Ich bin auch ein Vertreter von Kooperativen, aber nicht in einem Marktsystem, sondern in einer dezentralen Planwirtschaft, da Marktsysteme sehr viele Nachteile haben.


    Es ist halt komplex 😄 Zu dem Allem könnte man noch viel mehr sagen. Z. B. was ist die genaue Auffassung von Eigentum und Markt. Welche Formen von Sozialismus. Wie ist Freiheit definiert? (positive, negative, republikanische Freiheit) ect. Politische Begriffe sind halt komplex.

  • Vecna Als ungefähre Daumenregel kann man sich merken, dass der Klassische Liberalismus viele Gemeinsamkeiten mit dem Sozialismus in seinen nicht-Ökonomischen Werten hat, aber es gibt grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen von der Ökonomie (Kapitalismus vs. Nicht-Kapitalismus).

  • Daran war mir noch wichtig, zu sagen, dass das Prinzip, dass Menschen Kontrolle über ihre Arbeit haben, in unserer Gesellschaft nicht realisiert ist, weil Lohnarbeit, als dominantes Arbeitsverhältnis, in Hierarchien organisiert ist.

  • Ich glaube, du verwechselst Klassischen Liberalismus mit Klassischer Ökonomie.

    Nein nein. Das verwechsle ich explizit nicht.

    Als ungefähre Daumenregel kann man sich merken, dass der Klassische Liberalismus viele Gemeinsamkeiten mit dem Sozialismus in seinen nicht-Ökonomischen Werten hat

    Das ist ja genau das was ich auch schrieb. Ich fühle mich also bestätigt in meiner Analyse.

  • Nein nein. Das verwechsle ich explizit nicht.

    Das ist ja genau das was ich auch schrieb. Ich fühle mich also bestätigt in meiner Analyse.

    Der Sozialismus hat aber nicht seinen Ursprung im Klassischen Liberalismus, was deine These war. Sozialismus wird auch historisch auf Leute wie Robert Owen zurückgeführt.

  • Ryan Chapman hat ne coole Folge über Sozialismus. Er sagt dass Sozialismus und Liberalismus sich nebeneinander entwickelt haben. Die Geschichte des Sozialismus sei verflechtet mit der Geschichte des Liberalismus. Man könne auch sagen Liberalismus sei eine "parent ideology" des Sozialismus.



    Der screenshot ist aus dem Video und kommt aus dem Buch "Socialist Thought: A Documentary History", 1993 von Fried und Sanders (Ich habs nicht gelesen).


    Das klingt dann wieder so ähnlich wie ich am Anfang schrieb (Sozialismus habe einen Ursprung im Liberalismus).



  • Warum ist dir das denn so wichtig?

    Wie können eigentlich die Werte des Kl. Lib. realisiert sein in einer Gesellschaft mit massiver Vermögens- und Einkommensungleicheit? Zu der Marktsysteme notwendigerweise führen.

  • Es ist nicht super wichtig. Wir plappern doch hier nur nett miteinander und vielleicht kann ich von Euch was lernen. Warum sollte es wichtig sein? Wir haben gerade wahrlich andere Probleme! Das Video fand ich aber sehr gut und das wollte ich hier teilen falls es einen interessiert. Er hat das Thema Liberalismus gegen Sozialismus zufällig auch angesprochen.

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