Aber Russland ignoriert die Erderwärmung nicht einfach – woher rührt die Wut auf die skandinavischen Länder, die beabsichtigen, der NATO beizutreten? Im Zuge der Erderwärmung geht es um die Kontrolle der Nordwestpassage. (Deshalb wollte Trump Dänemark Grönland abkaufen.) Im Zuge der rasanten Entwicklung Chinas, Japans und Südkoreas wird die Haupttransportroute nördlich von Russland und Skandinavien verlaufen. Russlands strategischer Plan ist es, von der Erderwärmung zu profitieren: Es will die Kontrolle über diese Route, dazu Sibirien nutzbarer machen und die Ukraine kontrollieren. Russland wird dann die Nahrungsmittelproduktion so sehr beherrschen, dass es die ganze Welt erpressen kann. Das ist die wirtschaftliche Realität hinter Putins imperialem Traum.
Diejenigen, die dafür plädieren, die Ukraine weniger zu unterstützen und mehr Verhandlungsdruck auf sie auszuüben, wiederholen gerne, dass sie den Krieg gegen Russland nicht gewinnen kann. Stimmt, aber genau darin liegt für mich die Größe des Widerstands der Ukrainer: Sie haben das Unmögliche riskiert und sich pragmatischen Kalkulationen widersetzt, und das Mindeste, was wir ihnen schulden, ist volle Unterstützung. Dazu brauchen wir eine stärkere NATO – aber nicht als verlängerten Arm der US-Politik.
Die US-Strategie, über Europa gegenzusteuern, erklärt sich nicht von selbst: Nicht nur die Ukraine, auch Europa wird zum Schauplatz des Stellvertreterkriegs zwischen den USA und Russland, der durchaus mit einem Kompromiss auf Kosten Europas enden kann. Es gibt für Europa nur zwei Auswege: das Spiel der Neutralität zu spielen – der schnellste Weg in die Katastrophe – oder ein eigenständiger Akteur zu werden. (Man denke nur daran, wie sich die Situation verändern könnte, sollte Trump die nächsten US-Wahlen gewinnen.)
Während einige Linke behaupten, dass der andauernde Krieg im Interesse der NATO liegt, die den Bedarf an neuen Waffen nutzt, um Krisen zu umgehen und Profite zu erzielen, lautet ihre wahre Botschaft an die Ukraine: Okay, ihr seid Opfer einer brutalen Aggression, aber verlasst euch nicht auf unsere Waffen, denn damit spielt ihr dem industriell-militärischen Komplex in die Hände [...]
Beide stehen für einen „Pazifismus“, der nur funktioniert, wenn wir vernachlässigen, dass es bei dem Krieg nicht um die Ukraine geht, sondern um einen Moment des brutalen Versuchs, unsere gesamte geopolitische Lage zu verändern. Das wahre Ziel ist die Zerschlagung der europäischen Einheit, die nicht nur von US-Konservativen und Russland befürwortet wird, sondern auch von der europäischen extremen Rechten und Linken – in Frankreich trifft an dieser Stelle Le Pen auf Mélenchon.
Für einen echten Linken ist heute nicht nur die Unterstützung Russlands absolut inakzeptabel, sondern auch die „zurückhaltendere“ neutrale Forderung, dass die Linke eben in Pazifisten und Unterstützer der Ukraine gespalten und dass dies als Nebensache zu behandeln sei, die den globalen Kampf der Linken gegen den globalen Kapitalismus nicht beeinträchtigen darf.
Man kann heute kein Linker sein, wenn man nicht eindeutig hinter der Ukraine steht. Ein Linker, der „Verständnis“ für Russland zeigt, ist mit jenen Linken vergleichbar, die vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion die deutsche „antiimperialistische“ Rhetorik gegen Großbritannien ernst nahmen und sich für Neutralität im Krieg Deutschlands gegen Frankreich und Großbritannien einsetzten.
[...] Ich schrieb diese Zeilen an dem Tag, als bekannt wurde, dass die britische Innenministerin Priti Patel der Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange an die USA zugestimmt hat. Assanges Verbrechen? Er hat jene Verbrechen öffentlich gemacht, die George W. Bush mit seinem Versprecher zugegeben hat: Die von Wikileaks enthüllten Dokumente zeigten, wie unter Bushs Präsidentschaft „das US-Militär Hunderte von Zivilisten in nicht gemeldeten Vorfällen während des Krieges in Afghanistan getötet hatte, während geleakte Akten aus dem Irakkrieg zeigten, dass 66.000 Zivilisten getötet und Gefangene gefoltert worden waren“. Verbrechen, die mit dem, was Putin in der Ukraine tut, vergleichbar sind. Aus heutiger Sicht können wir sagen, dass Wikileaks Dutzende von amerikanischen Butschas und Mariupols aufgedeckt hat.
Während es also nicht weniger illusorisch ist, Bush vor Gericht zu stellen, als Putin vor das Haager Tribunal, ist das Mindeste, was diejenigen tun sollten, die gegen die russische Invasion in der Ukraine sind, die sofortige Freilassung von Assange zu fordern. Die Ukraine behauptet, sie kämpfe für Europa, und Russland behauptet, es kämpfe für den Rest der Welt gegen die unipolare Hegemonie des Westens. Beide Behauptungen sollten zurückgewiesen werden, und hier kommt der Unterschied zwischen rechts und links zum Tragen.
Aus Sicht der Rechten kämpft die Ukraine für europäische Werte gegen nichteuropäische autoritäre Regime; aus linker Perspektive kämpft die Ukraine für globale Freiheit, und die schließt auch die Freiheit der Russen selbst ein. Deshalb schlägt das Herz eines jeden wahren russischen Patrioten für die Ukraine.