Walter Euchner kritisiert an Agnoli, dass er den ursprünglichen Charakter der Theorie des Gesellschaftsvertrages nicht verstanden habe, obwohl doch selbst Abbé Sieyès einen Unterschied zwischen der multitudo (der Masse der Bevölkerung) und der pouvoir constituant gemacht habe. Er gesteht Agnoli zu, jeder Politikwissenschaftler wisse, dass an seiner Feststellung, die Liberaldemokratie sei eigentlich eine konstitutionelle Oligarchie, etwas Wahres sei, aber es komme auf die normative Messlatte an. Gemessen an einer Gesellschaft der Freien und Gleichen sei das Ergebnis inakzeptabel, aber wenn man nach konkreten Reformmöglichkeiten frage, müsse man das Bild differenzierter zeichnen: Politische Machtwechsel seien weiterhin möglich und vom Ergebnis her relevant.
"[...] Agnoli geht aus von einem Begriff von Theorie als einer
Kritik in emanzipatorischer Absicht. Kritik bestimmt er als eine notwendiger-
weise negative Denkbewegung, die im Bestehenden die immanenten Potentiale
zu dessen Überwindung aufdeckt. Politikwissenschaft kann demnach nur hei-
ßen, die Form des Politischen selbst einer Kritik zu unterziehen, die dessen
Rolle im Gesamtprozess gesellschaftlicher Reproduktion analysiert. 3
Mit diesem Verständnis von Zweck und Methode der Politikwissenschaft ana-
lysiert Agnoli nun den Staat als die Institutionalisierung einer spezifischen
Funktion des auf fortgesetzte Verwertung angewiesenen kapitalistischen Re-
produktionsprozesses. Eine kapitalistische Reproduktion der Gesellschaft, die
nicht auf bewusster Vermittlung menschlicher Bedürfnisse beruht, sondern
diese nur als Mittel zum Zweck bedient und insofern auch kein allgemeines
Interesse formulieren kann, tendiert stets dazu ihre eigenen (sozialen und na-
türlichen) Grundlagen zu zerstören. Daher, so stellt Agnoli in Bezug auf Marx
heraus, ist es „eine unumgängliche Bedingung der Kapitalreproduktion, dass
‚das Kapital endlich an die Kette der Regulation gelegt‘ wird“ (Agnoli 1995:
31). Politisch ist diese Regulation, weil sie kraft des – sich maßgeblich in der
Fähigkeit, allgemeine Gesetze zu erlassen, ausdrückenden – staatlichen Ge-
waltmonopols eine Letztverantwortung für alle gesellschaftlichen Fragen postu-
liert. Schon damit erübrigt sich die orthodoxe Frage nach dem Verhältnis von
„Basis und Überbau“. Denn: „Ohne die organisatorische Einwirkung des Staa-
tes findet Kapitalreproduktion nirgends statt – es sei denn man nehme an, die-
se ereigne sich gewissermaßen ohne die physische Reproduktion der Gesamt-
bevölkerung“ (ebd.: 82).
Dabei ist die politische Regulation des kapitalisti-
schen Verwertungsprozesses aber nicht als „autonom“, sondern vielmehr als
dessen integraler Teil zu begreifen. Weil die materielle Reproduktion von Ge-
sellschaftlichkeit im Kapitalismus an der Fortdauer des Verwertungsprozesses
hängt, ist die politische Regulation auf ihn als ihre eigene Existenzbedingung
verwiesen. Politik ist demnach die Form, in der sich die in Konkurrenten ge-
spaltene und von der Dynamik der Verwertung getriebene kapitalistische Ge-
sellschaft über die allgemeinen Angelegenheiten ihres Überlebens verständigen
muss – „die politische Seite der Entfremdung“ (ebd.: 38).
Staatlichkeit lässt sich mit Agnoli also denken als eine soziale Logik, die ein
Ensemble von Institutionen und Apparaten durchzieht, das auf politische,
d.h. entfremdet-allgemeine, Weise „den objektiven Zwangscharakter der gesell-
schaftlichen Reproduktion“ (Mandel/Agnoli 1980: 19) ausdrückt. 5 Der Staat
ist demnach weder bloß „Überbau“ noch „steuerndes Zentrum“, sondern ein
zentraler Knotenpunkt in der so dynamischen wie krisenhaften Reproduktion
des Kapitalismus (Agnoli 1995: 30). Als solcher ist der Staat aber auch mehr
als ein leeres strategisches Feld. Er ist aus institutionellem Eigeninteresse die
spezifische Form eines gesellschaftlich bestimmten Inhalts: Der „Garantie der
Reproduktion“ (Agnoli 2004: 172).
Um dieser Logik, welche die Grünen im Koalitionspoker in NRW wieder so
treffend „Staatsräson“ genannt haben, entsprechen zu können, muss Staatlich-
keit je spezifische Formen institutioneller Selektivität (Agnoli 2004: 176, vgl.
auch Offe 2006: 95) ausbilden. Diese zielt darauf ab eine flexible Politikformu-
lierung zu ermöglichen, in dem sie die Interessen filtert, die sich aus der gan-
zen Gesellschaft auf den Staat als Knotenpunkt politischer Regulation richten.
Wahlrecht und Parlamentarismus, aber auch Eigentumsgarantie und Steuer-
staat (um nur einige Beispiele zu nennen) können insofern als historisch inno-
vative Formen teilweise gegenläufiger institutioneller Selektivitäten gelesen
werden, welche die Berücksichtigung der für die kapitalistische Reproduktion
der Gesellschaft wesentlichen Interessenartikulation verbürgen und diese zu-
gleich kanalisieren sollen. Inwiefern diese Interessen in den Staatsapparaten
ankommen, hängt nicht nur von der Konfliktbereitschaft ihrer Vertreter ab,
sondern auch davon, dass diese Interessen auf die eine oder andere Weise eine
Bedeutung für den Verwertungsprozess nachweisen.
Politische Souveränität lässt sich insofern als die Fähigkeit eines Staates ver-
stehen, seine verschiedenen Apparate und ihre Selektionsmechanismen, vor
dem Hintergrund der gegensätzlichen Interessen in seinem Machtbereich, so
zu konfigurieren – dass er auch in Zukunft die Mittel dazu hat dies selbst zu
tun. Eine kohärente Konfiguration der institutionellen Selektionsmechanismen
bezeichnet Agnoli dann als eine „institutionelle Strategie“ (Agnoli 2004: 172),
die sich allerdings nicht automatisch ergibt. Ausgehend vom widersprüchli-
chen gesellschaftlichen Prozess versuchen unterschiedliche staatliche Apparate
– aus ihrem Interesse an sich selbst – stets die institutionalisierten Selektions-
mechanismen neu zu strukturieren, um eine flexiblere Politikformulierung zu
ermöglichen. Dies geschieht in einem komplexen sozialen Aushandlungspro-
zess, indem auf unterschiedlichen Ebenen, sowie unter Zugeständnissen an
andere gesellschaftliche Akteure eine neue institutionelle Strategie (Agnoli
2004: 170 ff.) formuliert wird. Zur Debatte steht auch auf dem Feld „souverä-
ner Politik“ also nur wie – nicht ob – die kapitalistische Reproduktion der Ge-
sellschaft zu verbürgen ist. Dass es gleichwohl einen Unterschied macht, „wo“
dieses „wie“ ausgehandelt wird, zeigen die Beispiele von Staaten, die entweder
wie Griechenland ihre Souveränität wegen akutem „Staatsversagen“ (Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft) abtreten müssen, oder Formen peripherer
Staatlichkeit, die nie dazu gekommen sind überhaupt eine (relative) Souveräni-
tät auszubilden (Ataç/Lenner/Schaffar 2008: 10 ff.).
Mit diesem Konzept entwirft Agnoli auch ansatzweise ein Modell des Verhält-
nisses von Struktur und Handlung. Denn die Imperative des kapitalistischen
Reproduktionsprozesses sind natürlich das Ergebnis von sozialen Handlungen
und setzen sich nicht automatisch in diese um. Nicht zuletzt, da aufgrund des
gespaltenen und entfremdeten Charakters der kapitalistischen Gesellschaft
nicht klar ist, was die jeweils erfolgversprechendste Variante der Institutionali-
sierung des Politischen ist. Auch für Agnoli scheidet zur Erklärung der histori-
schen Entwicklung von Staatlichkeit eine ‚Verschwörung‘ von sozialen Macht-
gruppen genauso aus, wie die Vorstellung, dass Staatlichkeit sich ohne Akteure
aus den Reproduktionszwängen des Politischen einfach selbst bilde. Gleich-
wohl umgeht er das Problem nicht einfach, in dem er es handlungstheoretisch
in Richtung sozialer Kontingenz auflöst. Vielmehr nimmt er das Bedingungs-
verhältnis von Ökonomie und Politik im Kapitalismus ernst. Noch für die
günstigsten politischen Kräfteverhältnisse bleibt demnach „durchgängig kon-
stitutiv, was für jede Form kapitalistischer Reproduktion der Gesamtgesell-
schaft gilt: Dass die Erfordernisse der Kapitalverwertung – die gerade nicht
unbedingt identisch sind mit der Summe der Einzelforderungen ‚der Kapitalis-
ten‘ – sich durchsetzen“ (Agnoli 1997: 103). Denn sie müssen sich durchset-
zen, sonst gerät die gesellschaftliche Reproduktion (auch der Akteure) in die
Krise. Die Kontingenz sozialer Praxis findet ihren Platz folglich in einem je-
weils historisch-spezifischen Möglichkeitskorridor, der den Strategien einzelner
Akteure nur eine gewisse Spannbreite von Adaptionsmöglichkeiten an den je-
weiligen Stand des Verwertungsprozesses lässt und die Realisierung davon ab-
weichender Strategien mittelfristig mit der Krise der gesellschaftlichen Repro-
duktion ‚belohnt‘. [...]
Es ist aber doch Ausdruck eines großzügigen Fortschrittbegriffs,
wenn etwa Birgit Sauer meint, Agnoli habe die Möglichkeit eingeräumt, dass
der Staat zum Mittel für „fortschrittliche Politik“ (Sauer 2003: 163) werden
könne. Denn jede realistische demokratische Politik setzt ja gerade voraus,
dass mit den kapitalistischen Verwertungszwängen Schritt gehalten wird. Sozia-
le Kräfteverhältnisse materialisieren sich daher in staatlichen Apparaten lang-
fristig nur im Rahmen der spezifischen Funktion des Politischen im kapitalis-
tischen Reproduktionsprozess. Obwohl Ungleichzeitigkeiten und Spielräume
immer bestehen können, stehen diese nicht nur unter schnödem Finanzie-
rungsvorbehalt, sondern sind stets auch Teil der, auf die Sicherung der politi-
schen Regulation der kapitalistischen Reproduktion der Gesellschaft zielenden,
institutionellen Suchbewegung. So werden Studiengebühren abgeschafft und
gleichzeitig die autoritäre Stiftungsuniversität durchgesetzt oder auch das
Staatsbürgerschaftsrecht modernisiert und die europäischen Außengrenzen
dicht gemacht. All das verweist auf das reproduktionslogische Dilemma jeder
‚fortschrittlichen Regulation‘ des Kapitalismus: keine Politik ohne Verwertung
– und umgekehrt. [...]"
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Jan Schlemermeyer: Kritik der Politik als Politikwissenschaft? Zur Aktualität der Staatstheorie von Johannes Agnoli und den Chancen einer kategorialen Marxrezeption. PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft, 40(160), S. 455–472. (-> PDF S. 7-11)
[Unterstreichungen und Fettungen von mir]