[...] Dazu kommt, dass die Querdenker:innen in einem verschobenen politischen Koordinatensystem agieren, in dem Herrschaftskritik häufig normativ ungeordnet auftritt. Die Linke ist hier längst nicht mehr die führende Kraft, während der Pandemie unterstützte sie überwiegend die Maßnahmen des Staates. Auf eine bestimmte Weise sind die Querdenker:innen damit eine Fortsetzung und Radikalisierung der »Anti-Politik«, die seit der Finanz- und der Eurokrise einen rapiden Aufstieg erlebt hat. Die »Anti-Politik« von Bewegungen wie Occupy oder des italienischen Movimento 5 Stelle war ein Ausdruck moralischer Rebellion.128 Auch die französischen Gelbwesten zeugten von einer tiefen Entfremdung von der liberalen Demokratie. Mit ihren basisdemokratischen Praktiken können wir diese Bewegungen als Bestandteile einer neuen Gegen-Demokratie verstehen. Sie kritisierten die Funktionsweise liberaler Demokratien und ihre Institutionen in ganz grundsätzlicher Weise. Was ihnen fehlte, war eine alternative gesellschaftliche und politische Vision.
Die Querdenker:innen sind ebenfalls Ausdruck politischer Entfremdung, auch sie verfügen über kein politisches Projekt, eignen sich die Herrschaftskritik gewissermaßen quer an. Die Kritik der klassischen sozialen Bewegungen richtete sich in der Regel gegen den (kapitalistischen) Staat, die Querdenker:innen sehen eine Verschwörung am Werk.
Wenn sie die Dominanz der offiziellen Expert:innen infrage stellen, stehen sie auf verdrehte Weise in der Tradition früherer sozialer Bewegungen: So konfrontierten etwa die Vertreter:innen der Anti-Atomkraft-Bewegung die offizielle Expertise, Kernkraftwerke seien sicher, mit einer systematischen, aber wissenschaftlichen Gegenexpertise. Die Gegenexpert:innen der sozialen Bewegungen schufen eine Gegenöffentlichkeit, die Wissenschaft, Macht- und Alltagsfragen miteinander verband.129
Die Querdenker:innen setzen hingegen auf häretische Expert:innen, auf Renegat:innen, die ihre Legitimation allein aus dem Antagonismus zum »Mainstream« beziehen.130
Die vorgebrachte Kritik ist epistemisch, weil sie einen Zweifel an der Realität des Virus formuliert, sie hat aber keine eigene theoretische Grundlage, wie es beispielsweise der Marxismus für die Arbeiter- oder der Feminismus für die Frauenbewegung war. Statt Theorie gibt es nur noch Sound- und Argument-Bites, die erratisch zusammengefügt werden; auf argumentative Stringenz legen die Querdenker:innen nur wenig Wert. Sie unterstellen, jeder könne Experte sein. Die Demokratisierung des Wissens schlägt hier um in eine individuelle Anmaßung von Wissen. Wie in einem Zerrspiegel finden wir dabei auch klassische Slogans früherer Bewegungen: Wo sich die Parole »Mein Körper gehört mir« im Feminismus auf das Recht auf Abtreibung bezog, kommt darin nun die Abwehr der Impf-Solidarität zum Ausdruck. Die Querdenker:innen sind emotional, stets misstrauisch und in einem gewissen Sinne immer dagegen. Im Namen der Demokratie unterlaufen sie demokratische Normen. Hinter den Parolen der Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe steckt bisweilen ein destruktiver Nihilismus – und gerade diese Destruktivität ist ein Kernbestandteil des libertären Autoritarismus.[...]
Erweitert man den analytischen Blick geografisch, können die in diesem Buch behandelten Phänomene des libertären Autoritarismus als Teil eines internationalen postpolitischen Aufbegehrens gelten. Dies muss nicht zwangsläufig nach rechts driften, sondern kann auch weiterhin eine hybride Form annehmen oder wieder stärker nach links tendieren. Die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, obwohl in ihr strukturell eine Anlage zum Autoritarismus vorhanden war, hat sich nicht zuletzt dank einer konzertierten linken Intervention nicht in eine Vorfeldbewegung von Marine Le Pens Rassemblement National entwickelt.[...]