Evocracy - Ein evolutionär-demokratischer Ansatz

  • Hallo Leute,


    wir sind ein kleines Team aus Wissenschaftlern und Programmierern und haben einen neuen Ansatz für demokratische Entscheidungsfindung entwickelt [1,2,3]. Der Ansatz basiert auf einem evolutionären Prinzip (daher "Evocracy", zu Deutsch "Evokratie") und hat das Ziel, Entscheidungsfindungsprozesse deutlich effizienter zu machen. Außerdem skaliert der Prozess so gut, dass es potentiell für globale Entscheidungen (mit allen 8 Mrd. Menschen) eingesetzt werden kann. Ich habe kürzlich einen einführenden Artikel geschrieben [2]. Wir haben bereits einen ersten Open Source Prototypen [4] entwickelt und getestet [5]. Das Konzept ist darauf ausgelegt, dass es langfristig dezentral und verteilt im Web3 (d.h. ohne zentrale Autorität) funktionieren kann. Aus unserer Sicht ist das eine notwendige Bedingung für einen globalen Einsatz. Wer mehr ins Detail gehen möchte, kann auch gerne in unser Whitepaper schauen [3].


    Wir haben noch einen sehr langen Weg vor uns, aber schon einen Anfang gemacht. Aktuell sind wir auf der Suche nach Personen, die Interesse haben uns zu unterstützen, uns Feedback zu geben, die Software ausprobieren möchten, uns dabei helfen Aufmerksamkeit zu bekommen, sich einfach mit uns vernetzen möchten oder auch aktiv mitmachen möchten.


    Wenn ihr mit uns in Kontakt kommen möchtet, meldet euch gerne bei unserem selbst gehosteten Mattermost an (bevorzugt) oder tretet unserem Discord bei. Folgt uns gerne auch bei Mastodon, X/Twitter oder LinkedIn. Ihr könnt euch auch gerne mit mir persönlich bei Mastodon, X/Twitter oder LinkedIn vernetzen.


    Nehmt den Post gerne als Anlass, eine Diskussion zu starten. Schreibt mir gerne Fragen, Feedback und Kritik. Ich versuche, auf alles einzugehen und bin wirklich gespannt, was ihr darüber denkt!


    Liebe Grüße

    Carlo


    [1] https://openevocracy.org/

    [2] https://medium.com/@carlo.mich…from-scratch-657a0293c070

    [3] https://openevocracy.org/files…paper_v1-2_2023-09-11.pdf

    [4] https://gitlab.com/evocracy/openevocracy

    [5] https://medium.com/@jlubo/open…r-erste-test-85cc9b00b79e

  • Hab es mir mal kurz angeguckt, auf den ersten Blick klingt das natürlich ganz gut, open source und dezentral usw.


    Aber das eine "AI" in diesen Selektionsprozess involviert ist gefällt mir auf den ersten Blick eher nicht so gut, aber vllt. kannst du dazu ja mal etwas mehr erzählen, was ist das für eine "AI"?


    Außerdem fehlt mir irgendwie der Aspekt der Sicherheit, darauf wird - soweit ich es jetzt kurz gesehen habe - nicht wirklich was gesagt. Daher einfach mal kurz die Frage, wo siehst du Sicherheitsprobleme bzw Manipulationsmöglichkeiten die dein System anfällig machen für Probleme?

  • Hab mich sehr über die inspirierenden Fragen gefreut! :) Habe versucht sehr ausführlich zu antworten, frag gerne nochmal nach, wenn etwas unklar ist oder ich die Frage nicht richtig aufgegriffen habe!


    Aber das eine "AI" in diesen Selektionsprozess involviert ist gefällt mir auf den ersten Blick eher nicht so gut, aber vllt. kannst du dazu ja mal etwas mehr erzählen, was ist das für eine "AI"?

    Das Prinzip bei Evocracy ist ja im Grunde, dass eine Diskussion zu einem Thema in Kleingruppen aufgeteilt wird. Diese Kleingruppen schreiben dann einen gemeinsamen Lösungsvorschlag und wählen eine:n Repräsentant:in für die jeweilige Kleingruppe. Die gewählten Person werden dann wieder zufällig auf Kleingruppen aufgeteilt, schreiben wieder einen gemeinsamen Lösungsvorschlag (basierend auf den Vorherigen), wählen wieder jeweils ein:n Repräsentant:in etc. So lange, bis nur noch eine Gruppe und damit ein Vorschlag übrig bleibt. Jede dieser "Runden" nennen wir "Level". Das Grundprinzip ist im Artikel in Figure 1 dargestellt.


    Beim ersten Test letztes Jahr haben wir gemerkt, dass die Gruppen in höheren Levels einen relativ hohen Aufwand alleine damit haben, die Lösungen aus den vorigen Gruppen zusammenzufassen. Das war zusätzlich erschwert durch Verantwortungsdiffusion (d.h. niemand wollte sich "anmaßen" im Namen der anderen einfach drauflos zu schreiben). Bei unserem Test war das Problem noch nicht so schwerwiegend, aber wir hatten das Gefühl, dass es bei mehr Levels wirklich zu einem zeitintensiven Problem werden könnte.


    Unsere Idee war daher, dass wir einen Zusammenfassungs-Algorithmus ("KI") verwenden könnten, der die Vorschläge aus den vorherigen Gruppen "neutral" zusammenfasst und sich die Mitglieder dann auf die inhaltliche Diskussion konzentrieren können. Dabei ist die KI-Zusammenfassung also nur der Startpunkt für die Gruppenarbeit, nicht das Ergebnis.


    Nichtsdestotrotz ist es bisher nur eine Idee. Weitere Tests werden später zeigen, ob es funktioniert und v.a. ob die KI neutral genug ist (hängt ja letztlich von den Trainingsdaten ab). Sollte sich herausstellen, dass die KI einen wahrnehmbar verzerrenden Einfluss hat, werden wir sie nicht nutzen. Angedacht ist sie lediglich als Assistent, einen direkten inhaltlichen Eingriff wollen wir auf keinen Fall. Meiner Ansicht nach ist das auch nicht sinnvoll möglich.


    Außerdem fehlt mir irgendwie der Aspekt der Sicherheit, darauf wird - soweit ich es jetzt kurz gesehen habe - nicht wirklich was gesagt. Daher einfach mal kurz die Frage, wo siehst du Sicherheitsprobleme bzw Manipulationsmöglichkeiten die dein System anfällig machen für Probleme?


    Das ist in der Tat eine große Herausforderung! Maßgeblich kommen die Schwierigkeiten daher, dass das System dezentral und die Benutzer anonym sein soll. Wobei anonym im Sinne von Kryptowährungen verstanden werden muss. D.h. ein Account ist zwar durch keinerlei Informationsgehalt einer Person zuzuordnen (ein Account hat keinen Namen, Adresse o.ä.), die Daten des Accounts sind aber öffentlich einsehbar. Wenn also jemand einen Account einer Person zuordnen kann, dann ist auch die Anonymität verloren (wobei die Person dann auch einfach einen neuen Account anlegen kann).

    Aber zum Problem: Das System wäre zunächst leicht komprimierbar, in dem eine Person/Organisation einfach viele Accounts anlegt, die entweder von bezahlten Menschen oder von Bots zur Einflussnahme genutzt werden. Das würde in den Tat den ganzen Ansatz zunichte machen. Wir gehen aktuell davon aus, dass man es mit einem Web of Trust (bzw. allgemein einem Trust-Framework) und einem Reputationssystem lösen kann. Beides basiert im Wesentlichen auf gegenseitigen Bestätigungen. D.h. du benötigst eine bestimmte Anzahl an Bestätigungen von bereits bestätigten Accounts um als "vertrauenswürdig" zu gelten. Es gibt eine Masterarbeit zu dem Thema, in dem untersucht wurde wie DIDs (decentralized IDs) auf denzentrale Art und Weise verifiziert werden könnten.


    Es gibt noch ein paar weitere kleinere Ideen, aber das ist der Kerngedanke. Wir gehen auch davon aus, dass es nicht möglich sein wird das System 100 Prozent wasserdicht zu machen. Aber die Kosten bzw. der Aufwand für Betrug sollen so hoch sein, dass der Einfluss von Manipulationen wiederum so marginal ist, dass er in der Praxis keine Rolle spielt.

    Wichtig ist in jedem Fall, dass wir zentrale Autoritäten (d.h. einen staatlich ausgestellte ID, z.B. BundID) möglichst umgehen wollen. In Deutschland würde das sicher noch gut funktionieren, aber an vielen Orten auf der Welt wäre das sicher problematisch.


    ---


    Allgemein sei vielleicht noch gesagt, dass alles auch noch sehr offen ist. Wir haben das Gefühl, dass es sich alles so langsam zu einem konsistenten Ganzen zusammenfügt, aber der Ansatz ist eigentlich immer noch im Wandel und wird regelmäßig durch neue Ideen vom Kernteam, aber auch von "außen" (wie z.B. hier im Forum) stark beeinflusst. Das ist auch mit ein Grund, warum ich hier schreibe :) Einige Technologien für eine vollständige dezentrale/verteilte Umsetzung sind auch noch ganz am Anfang der Entwicklung bzw. noch Gegenstand von Forschung (also nicht von uns, sondern grundsätzlich). Es wird also noch ein langer Weg, aber wir haben einfach das Gefühl, dass es viel Potential hat und die Grundbausteine da sind.

  • in welchen bereichen wollt ihr damit anwendung finden? also was is das ziel? demokratische mitbestimmung in unternehmen? bei volksentscheiden etc? also keine ahnung, mastodon ist angeblich auch besser und fairer als viele andere social media plattformen, es benutzt aber nach wie vor so gut wie niemand. also meine frage ist, wie sieht euer plan aus, dass euch das am ende nicht auch so geht? mal davon ausgehend, dass euer ding eigentlich gut und fair ist zeigt einem die reale welt oft, dass dinge die gut und fair sind oft nicht unbedingt gut ankommen bei der gesellschaft.

  • Danke auch dir für deine Fragen. Ich versuch mich mal mit einer Antwort :)

    in welchen bereichen wollt ihr damit anwendung finden? also was is das ziel? demokratische mitbestimmung in unternehmen? bei volksentscheiden etc?

    So wie unsere aktuell "koventionell" programmierte Web-Anwendung funktioniert, eignet sie sich für Gemeinden, Städte, Unternehmen, NGOs, etc. ab einer Größe von ~100 Teilnehmer:innen aufwärts. Möglich wäre aber auch ein Einsatz auf staatlicher Ebene, so ähnlich wie die Bürgerräte immer mal wieder ausprobiert werden. Nur ist unserer Ansicht nach Evocracy ein signifikant "besseres" und effizienteres Entscheidungsfindungsverfahren als Bürgerräte. Zusätzlich ist es von Anfang an digital geplant. Für Volksentscheide wiederum ist Evocracy eher ungeeignet, vielleicht eher als eine Alternative zum Volksentscheid. Evocracy ist ja ein strukturiertes inhaltliches Diskussionsverfahren, so dass die Fragestellung immer offen sein muss. Eine geschlossene Frage (ja/nein), wie bei einem Volksentscheid, ist bei Evocracy nicht möglich. Möglich wäre letztlich auch ein Einsatz zur gemeinsamen Formulierung von Petitionen.


    Das alles wäre mit der existierenden Software im Grunde schon möglich. Gibt sicher noch vieles zu verbessern, aber die Grundfunktionalität existiert. Unsere Vision ist aber eher eine denzentrale/verteilte Anwendung, die global eingesetzt werden kann. Personen können dann Themen einbringen, die sie für diskussionswürdig halten. Eine Art Relevanz-Voting entscheidet dann fließend bei jedem Thema, ob das jeweilige Thema aktuell zur Diskussion freigegeben wird oder nicht. So genannte Bezugsgruppen und Interessengruppen definieren für ein Thema den relevanten Bereich (d.h. ob das Thema beispielsweise nur für "Berlin" gilt, für "Südafrika" oder für die ganze Welt). Die Länge der Diskussionen richtet sich im Wesentlichen nach der Anzahl der Teilnehmer:innen (weil dadurch die Anzahl der notwendigen Level definiert sind). Allgemein sollen aber die Parameter des Systems von den Benutzer:innen selbst gewählt und ein (extremwertkorrigierter) Durchschnitt ergibt die verwendeten Systemparameter. Technologisch würde dann alles dezentral ablaufen (mit Hilfe von Blockchain-Technologie) und verteilt gespeichert werden (unter Verwendung von z.B. IPFS). Was ich hier so lapidar hier als Buzz-Wörter fallen lasse, ist im Detail jeweils aber leider sehr komplex und aufwändig umzusetzen.

    In jedem Fall muss unterschieden werden zwischen dem Entscheidugsfindungsverfahren "Evocracy" und der dezentralen globalen Realisierung. Leider haben wir da noch nicht so gute Begriffe herausgearbeitet um das klarer zu trennen bzw. zu kommunizieren.


    also keine ahnung, mastodon ist angeblich auch besser und fairer als viele andere social media plattformen, es benutzt aber nach wie vor so gut wie niemand. also meine frage ist, wie sieht euer plan aus, dass euch das am ende nicht auch so geht? mal davon ausgehend, dass euer ding eigentlich gut und fair ist zeigt einem die reale welt oft, dass dinge die gut und fair sind oft nicht unbedingt gut ankommen bei der gesellschaft.


    Das ist definitiv ein Problem. Allerdings gibt es ein paar Aspekte, die uns hier Hoffnung machen. Technisch ist es so, dass Mastodon zwar mit dem ActivityPub Protokoll eine gewisse Dezentralität ermöglicht, aber es gibt keinerlei Kontrollmechanismus, dass alle beteligten "Nodes" ihre Funktion nach einem bestimmten vorgegebenen Algorithmus abarbeiten. Zusätzlich gibt es auch keine Replikation der Daten. Und letztlich ist das migrieren von Daten z.B. Benutzer:innen-Konten zu anderen Server nicht so direkt möglich. Letzteres wird aber gerade in Teilen vom AT Protkoll (das Protokoll hinter Bluesky) verbessert. Nichtsdestotrotz sind alle diese Ansätze alles andere als konsequent dezentral und zudem auch nur bedingt benutzerfreundlich. Eine "echte" komplexe dezentrale Anwendung (über Smart Contracts hinaus) gibt es meines Wissens noch gar nicht. Projekte die am ehesten noch an sowas dran sind, sind z.B. ICP oder Polkadot. Wenn es gelingt die Anwendung konsequent dezentral und gleichzeitig benutzerfreundlich zu gestalten, dann hat es technisch denke ich eine Chance.

    Ein anderes Argument wäre aber auch inhaltlich. Als Mastodon gestartet ist, gab es Twitter schon. Es ist immer schwierig eine bestehende Struktur zu verdrängen. Interessanterweise sieht man das auch gut im Krypto-Bereich. Bitcoin ist keine kommerziell/werbefinanzierte Anwendung (wie Twitter oder Facebook). Im Gegenteil ist es ein vollständig dezentrales Bezahlsystem. Aber obwohl es inzwischen deutlich bessere Alternativen gibt (mit Smart Contracts, Zero-knowledge proof, Proof-of-Stake, etc.), bleibt Bitcoin als zentrale Kryptowährung bestehen (sowohl bzgl. Martkkapitalisierung, als auch bzgl. öffentlicher Wahrnehmung).


    Kurzum: Ich glaube die Technologie ist nicht immer entscheidend. Vielmehr ist entscheidend, ob man etwas "Neues" etabliert oder versucht etwas bestehendes zu ersetzen. Da unserer Ansicht nach soetwas wie Evocracy noch nicht existiert, sehen wir hier eine Chance. Dumm wäre vielleicht nur, wenn sich in 10 Jahren jemand etwas besseres ausdenkt und dann Evocracy nicht mehr verdrängen kann ;)

  • carlo

    Hat den Titel des Themas von „Evocracy - Ein evolutionärer demokratischer Ansatz“ zu „Evocracy - Ein evolutionär-demokratischer Ansatz“ geändert.

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