"[...] Auch das Gesundheitssystem wird unter wirtschaftsliberalen Gesichts punkten reformiert, wobei die Einführung des sogenannten Fallpauschalensystems Ende der 1990er eine Zäsur bezeichnet. Dieses setzt insbesondere Kliniken unter enormen Kostendruck, sorgt letztlich auch für einen Abbau psychotherapeutischer Versorgung in Kliniken [...] Auch im deutschen Gesundheitssystem verläuft sich die vermeintlich heilsbringende Ökonomisierung in einem schwerfälligen Konglomerat aus allpräsenter Geldnot, Personalmangel und überbordender Dokumentationsbürokratie, die in einem sozialistischen Staatsapparat ein würdiges Gegenüber fände [...]
Eine Gesellschaft, die jede Nische einer wirtschaftlichen Effizienzlogik unterwirft, mediale Figuren zu Idolen wählt, die Ellenbogendreistigkeit oder das hämische Vorführen von Schwächeren als eine Form der Ich-Stärke inszenieren, dann aber ratlos auf die gestiegenen Raten psychischer Erkrankungen blickt, hat ein gespaltenes Bewußtsein. Nicht zuletzt werden in der neoliberalen Gesellschaft Machtverhältnisse nach Innen verschoben. Es gibt, zumindest in den Mittelschichten, sozusagen immer weniger den Kapitalisten, der mit der Stoppuhr droht, den man auch klar als den Unterdrücker festmachen kann - dafür die verinnerlichte Stoppuhr, den inneren Chef, der zum Perfektionismus anhält. Jeder Mensch ist seine eigene Firma, die gegen die anderen anzutreten hat, versinnbildlicht in der Wendung von der „Ich AG". Aus einem äußeren Konflikt, der über Gewerkschaften und Arbeitgeber ausgetragen wird, wird ein innerer Konflikt zwischen Leistungsideal und Schweinehund - vielleicht ein neuer Begriff für den Proletarier in der eigenen Seele, den man niederzuringen hat. Aus Klassenkampf wird der Kampf gegen sich selbst. Die Psychologie der neoliberalen Gesellschaft tendiert dazu, letztlich die Verantwortung für die psychische Gesundheit allein dem einzelnen Menschen zuzuschreiben. Wer leidet, soll sein Denken ändern. Wie vor 100 Jahren werden auch in der Psychiatrie und Psychologie gesellschaftliche Ursachen oft nur randständig thematisiert. Gesellschaft wird allenfalls als äußerer Faktor verstanden, der Stress erzeugt, aber nicht als ein Teil von uns selbst, den wir verinnerlicht haben, mit dem wir in uns selbst ringen. Wieder wird - nun schon seit über einem Jahrhundert und mit fragwürdigem Erfolg - nach den genetischen Ursachen für psychische Erkrankungen gesucht, werden psychische Störungen landläufig als „Probleme mit dem Hirnstoffwechsel« erklärt. Nicht wenige vermeintlich naturwissenschaftlich fundierte Erklärungsmodelle, wie etwa die »Serotoninmangelhypothese« als Ursache für Depression, erweisen sich bei genauerer Betrachtung der Forschungsbefunde als starke Vereinfachung oder gar als Mythos, der dennoch Verbreitung findet, vielleicht, weil er gut in den Geist der Zeit passt. Die Psychologie der Zeit geht auf „Selbstoptimierung" einerseits, sucht nach konkret anwendbaren Techniken, das eigene Denken und Fühlen zu beeinflussen. Andererseits sucht sie nach Maßnahmen, die Folgen von Überlastung und Erschöpfung abzumildern, nach Techniken zur „Stressreduktion": negative Gedanken auszublenden, den Strom an Sorgen vorüber ziehen zu lassen, oftmals unter Aufgriff fernöstlicher Meditationstechniken. Tatsächlich erweisen sich solche Ansätze als sehr hilfreich für viele Menschen, hilfreich in dem Sinne, unter den gegebenen Umständen sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Auch hier gibt es aber immer wieder die Tendenz, die Ursachen des Leidens zu verschleiern, gerade dann, wenn das „Störende" nur mehr ausgeblendet, nicht mehr hinterfragt, das Denken überhaupt abgeschaltet werden soll.
Die Strukturen der professionellen psychotherapeutischen Versorgung im Gesundheitswesen sind binnen kurzer Zeit überlastet. Die Gesundheitspolitik sucht nach Möglichkeiten, eine große Zahl an Erkrankten effizient zu therapieren. Die Entscheidungsträger bevorzugen kürzere Therapieformen, setzen - ganz im Geist der Zeit-hierzu finanzielle „Anreize". [...]
Die Psychoanalyse gerät aber nicht nur ins Hintertreffen, weil ihr Wesen dem Zeitgeist von »kürzer, schneller, billiger« widerspricht, sondern vielleicht auch, weil sie keine Sprache für die inneren Konflikte und sozialen Schwierigkeiten der Menschen im Zeitalter des »Turbokapitalismus« findet. Vielleicht bewegen sich Psychoanalytiker in gewisser Hinsicht zu sehr in einem exklusiven Zirkel, einem geschützten sozialen Milieu, in dem das eigene Auskommen gesichert ist. Auch in der Psychoanalyse gibt es Mythen, die gesellschaftliche Machtverhältnisse verdecken, etwa wenn unhinterfragt die Vorstellungen und Werte der akademischen Normalfamilie als allgemein menschliche Prinzipien verhandelt werden, wie z.B. nicht selten in der Bindungstheorie. [...]
Die Gesundheitspolitik unternimmt in den letzten Jahren immer wieder Versuche, Psychotherapie einer Art staatlich gesteuerten Bürokratie zu unterstellen. Der Mangel an Therapieplätzen soll dadurch behoben werden, daß Therapeuten durch staatliche Lenkungsmaßnahmen dazu gebracht werden, mehr Patienten in kürzerer Zeit zu behandeln. Teile der führenden Gesundheitspolitik sehen das Problem in einer zu langen Therapiedauer oder in einer mangelnden Arbeitsmoral von Psychotherapeuten.
[...] Es ist offenkundig in diesem Bereich der Gesellschaft der Glaube noch mächtig, daß man die psychischen Folgen der Ökonomisierung der Gesellschaft am besten durch eine noch intensivere Ökonomisierung des Gesundheitswesens bewältigen könne - abermals in jener eigenartigen Mischung von kapitalistischem Wirtschaftsbetrieb und sozialistischer Planungsbürokratie. Dies in völliger Ignoranz dessen, daß die Ökonomisierung des Gesundheitswesens in den letzten Jahr zehnten auf der ganzen Linie gescheitert ist und ein Gesundheitssystem im Dauerkrisenzustand geschaffen hat. [...] Die Psychoanalyse hat einen langen Weg hinter sich. Sie hat in jeder Gesell schaftsform in der deutschen Geschichte seit 1900 eine Rolle gespielt, war mal vermeintliche Gegnerin, mal Dienerin des Staates, nicht selten beides zu gleich. [...] Psychoanalyse kann keine Gebrauchsanweisungen zur Lösung gesellschaftlicher Krisen bereitstellen. Sie kann aber helfen, anders über sich und die Gesellschaft nachzudenken. Wir haben zum Abschluß unserer Reihe über die Geschichte der Psychoanalyse einige Kernthesen zusammengestellt, die auch für die heutige Zeit Bedeutung haben, mit dem Verweis darauf, daß wir letztlich alle Folgen unseres Podcasts als einen Beitrag zu unserer Gegenwart verstehen.
1) Psychische Erkrankungen haben etwas mit der Gesellschaft zu tun.
Sei es in der Frage, was eine Gesellschaft überhaupt als krank oder „unnormal" definiert, sei es, wie sie mit psychisch Erkrankten umgeht. Psychische Erkrankungen beruhen oft auf einer Verinnerlichung von Erfahrungen, in denen man in einer Weise erniedrigt, unterdrückt, verlassen oder verachtet ist. Wir sind immer auch mit dem identifiziert, was uns leiden läßt - weshalb wir die Gesellschaft nur verändern können, wenn wir auch dem Unterdrücker in uns selbst die Stirn bieten, der uns sagt, wie wir vermeintlich zu sein haben. Deshalb ist auch Psychotherapie immer ein Stück politisch: sei es, indem sie die aufbegehrende Stimme wieder zum Verstummen bringt, sei es, indem sie ihr Gehör verschafft. Psychoanalyse sollte sich niemals nur als ein medizinisch-therapeutisches Verfahren zur Störungsbehandlung verstehen, sondern der gesellschaftlichen Aufgabe von Psychotherapie gerecht werden. Dies fordert ein Bild von psychischer Krankheit heraus, in dem das Problem ganz den einzelnen Menschen zugeschoben ist, als wäre die Welt in Ordnung, nur die eigene Psyche nicht.
2) Menschen sind niemals nur eine Statistik.
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3) Unser psychisches Leben läßt sich nicht kontrollieren.
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4) Das Neue ist immer möglich.
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