Wolfgang Schäubles Erbe in Europa sind neoliberale Schocktherapie und Rechtsruck
Ines Schwerdtner
Gastbeitrag Jacques Delors hatte die Vision eines sozialdemokratischen Europas. Was wir dann bekommen haben, ist das neoliberale Europa von Wolfgang Schäuble – und eine starke Rechte. Was die Linke nun für ein sozialistisches Europa tun kann
Das Erbe des ehemaligen deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble sind neoliberale Schocktherapie und Rechtsruck
Fast zeitgleich verstarben über die Weihnachtsfeiertage zwei bekannte Politiker Europas: der französische Sozialdemokrat Jacques Delors und das Gesicht des Troika-Spardiktats, Wolfgang Schäuble. Beide Politiker prägten den Pfad der europäischen Einigung je auf ihre Weise. Gefeiert und gehuldigt wurden sie von vielen Seiten als große europäische Staatsmänner und Demokraten, nicht nur posthum. Erstaunlich schnell vergessen wurde dabei, welche Spuren sie tatsächlich in den Institutionen und im Alltag für die Menschen in Europa hinterlassen haben: das Scheitern der sozialdemokratischen EU Delors – und, als Folge des rigiden Sparzwangs Wolfgang Schäubles, den Rechtsruck.
Als die Mitarbeiter des deutschen Finanzministeriums 2017 ihren Minister verabschiedeten, formten sie eine riesige menschliche schwarze Null. Besser könnte man Schäubles Lebenswerk kaum zusammenfassen. Wie kaum ein anderer steht er für die explosive Mischung an Finanzpolitik, die einst zur Eurokrise führte sowie für den harten Kurs der Austerität, die sie bekämpfen sollte, wie Yanis Varoufakis, ehemaliger griechischer Finanzminister und früherer Kontrahent des Deutschen, erinnert: „eine Politik, die einerseits zur Verarmung Griechenlands und andererseits zur gegenwärtigen Deindustrialisierung Deutschlands und zum Abgleiten Europas in die geopolitische Bedeutungslosigkeit führte. Die Geschichte wird ihn hart verurteilen, aber nicht härter als diejenigen, die seinem katastrophalen Projekt und seiner Politik erlegen sind.“
Die Schocktherapien Wolfgang Schäubles: Wende und Finanzkrise in Europa
Als „Architekt der Wiedervereinigung“ gefeiert, steht Wolfgang Schäuble auch für die erste Schocktherapie, die Ostdeutschland nach der Wende überzog und bis heute nachwirkt. Dass die AfD vor den Landtagswahlen 2024 in Thüringen, Sachsen und Brandenburg als stärkste Kraft da steht, ist eine Folge dieser Schocktherapie. Ebenso wie das Erstarken der Rechten in Europa als eine Folge der zweiten Welle des neoliberalen Sparschocks nach der Finanzkrise 2007-2009.Auch wenn Wolfgang Schäuble nie Kanzler wurde, steht er doch für Jahrzehnte christdemokratischer Politik, die in den 90er und den späten 2000er Jahren eine Verarmungspolitik zugunsten des Kapitals durchsetzte. Wie Varoufakis auch erinnert, tat Schäuble, jetzt als „Vollblutpolitiker“ und „überzeugter Europäer“ gefeiert, dies auch unter Aussetzung der Demokratie selbst. Das Referendum in Griechenland, so damals sein Diktum, dürften nichts an den Entscheidungen der Troika ändern. Als die griechische Bevölkerung 2015 „Nein“ zum EU-Memorandum sagte, das weitere soziale Kürzungen sowie Staatshilfen beinhaltete, setzte sich Schäubles EU gegen diese demokratische Entscheidung durch. Das griechische Volk wurde damit vom deutschen Finanzminister de facto stummgeschaltet. Um das deutsche Wirtschaftsmodell zu retten, das im Wesentlichen auf günstige Energie, einen schwachen Euro und den europäischen Binnenmarkt angewiesen war, durfte man unter keinen Umständen von den harten Regeln, die man einst auch an die eigene Bevölkerung angewandt hatte, abweichen.
Das sozialdemokratische Europa Jacques Delors'Dabei hatte es auch andere Visionen für Europa gegeben. Jacques Delors' Biografie steht beispielhaft für den Weg, den die europäische Sozialdemokratie Ende des 20. Jahrhunderts einschlug. Bevor Delors als EU-Kommissionspräsident den europäischen Binnenmarkt einführte, versuchte er sich als Wirtschaftsminister unter François Mitterrand in den 80er Jahren noch daran, den Bankensektor zu verstaatlichen und eine konsequent keynesianische Wirtschaftspolitik zu verfolgen. Als das kurzlebige sozialistische Experiment in Frankreich scheiterte, schwenkte auch Delors auf einen Austeritätskurs um, der für die EU prägend werden sollte.
Zwar setzte er die Sozialpolitik auf die Tagesordnung der Kommission und stand weiter für die Rechte von arbeitenden Menschen ein. Das ändert aber nichts daran, dass er entscheidend daran beteiligt war, für den EU-Binnenmarkt jenes Regelwerk einzuführen, das neoliberale Prinzipien für Jahrzehnte festschrieb. Damit sorgte Delors dafür, dass die Eurozone von der starken deutschen Wirtschaft und dem strikten Spardiktat Berlins dominiert wird, was südeuropäische Länder regelmäßig an den Rand der Zahlungsunfähigkeit führt und deren wirtschaftliche Entwicklung dauerhaft hemmt. Auf Delors' soziales Europa warten wir bis heute.
Da sie niemals als Sozialunion geplant war, war das Solidarprinzip nie ein konstituierender Faktor der Europäischen Union. Für die Sozialdemokratie des Dritten Weges, die Ende des Jahrtausends in Europa hegemonial war, galten solche Initiativen als überflüssig: Anstelle des Sozialstaatsprinzips trat das Versprechen des ewigen Booms und des sozialen Aufstiegs für alle. Mit den Europawahlen von 1999 verschoben sich Kräfteverhältnisse zugunsten des konservativen Blocks und das historische Fenster für eine soziale Union schloss sich. Seither verordnete sich die EU eine Runde Schocktherapie nach der nächsten, immer an den Interessen des Kapitals orientiert. Das Scheitern des Dritten Weges in Europa bereitete den Weg für Sozialabbau und Austerität. Wer Delors wählte, bekam am Ende Schäuble.
Von den USA lernen statt Schäuble folgen
Auch über Schäubles Tod hinaus werden die Schuldenregeln und der harte Kurs für eine schwarze Null, der fälschlich als „Sparen“ begriffen wird, obwohl es eigentlich um Sozialkürzungen geht, die Politik der deutschen Regierung bestimmen – und damit auch den weiteren Kurs der Europäischen Union, wie kürzlich die neuen Schuldenregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts verdeutlichten. Während Frankreich um flexiblere Schuldenregeln rang, war es der deutsche Finanzminister Christian Lindner, der die Rolle Schäubles nahtlos übernahm und lockere Regeln sowie Ausnahmen wie grüne Investitionen in die Zukunft blockierte. Wir befinden uns inmitten einer dritten Welle der neoliberalen Schocktherapie, die abermals von Berlin ausgeht.
Während sich die USA von der neoliberalen Idee der Deregulierung längst verabschiedet haben und auf staatliche Regulation und Investitionen setzen, steckt Europa im Paradigma der Austerität eines Wolfgang Schäuble fest und findet trotz der katastrophalen Bilanz dieser Politik keinen Ausweg. Das liegt auch daran, dass die Sozialdemokratie in vielen europäischen Ländern dem Ziel eines umfassenden Umbaus der Wirtschaft schon einmal sehr viel näher war. Die institutionelle Erinnerung daran steckt den europäischen Eliten noch bis heute in den Knochen. Die fanatische Orthodoxie eines Wolfgang Schäuble oder eines Christian Lindner lässt sich nur vor diesem historischen Hintergrund erklären: Das Gespenst der Sozialdemokratie und ihres gescheiterten Projekts sucht Europa noch immer heim. Die Frage ist, ob es in realer Gestalt zurückkehren kann, um sein Projekt endlich durchzusetzen.
Die Ausgangslage sieht nicht gut aus. Die politische Situation in der EU ist nach Jahrzehnten der Sparpolitik so düster wie nie zuvor: In vielen Ländern stehen sich Neoliberale und Rechtsextreme als die einzigen politischen Blöcke von Bedeutung gegenüber, bei den kommenden Europawahlen droht ein Durchmarsch der Rechten. Dennoch wäre es ein großer Fehler für die Linke auf dem ganzen Kontinent, die politische Auseinandersetzung diesen beiden Lagern zu überlassen und sich auf das Feld der nationalen oder lokalen Politik zurückzuziehen.
An der Vision eines sozialistischen Europas festhalten
Makroökonomische Fragen werden heute im Wesentlichen in Brüssel entschieden. Wer in Europa ein anderes Wirtschaftsmodell etablieren will, kommt an dieser ökonomischen Schaltstelle nicht vorbei. Während der Pandemie und nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde klar, dass das europäische Regelwerk zwar im Grundsatz neoliberal, aber dennoch flexibel ist und politisch angefochten werden kann. Und wie der französische Linken-Politiker Jean-Luc Mélenchon anmerkt, setzen Rechte wie Viktor Orbán das Mittel des strategischen, selektiven Ungehorsams gegenüber EU-Institutionen immer wieder mit Erfolg ein: Warum sollte es nicht möglich sein, diese Strategie auch von links zu nutzen?
Die gescheiterte Vision einer Friedens- und Sozialunion sollte uns nicht dazu bringen, diesen Gedanken zu verwerfen. Doch anders als die Sozialdemokratie der Vergangenheit, der Generation von Willy Brandt, Harold Wilson, Olof Palme, Bruno Kreisky, François Mitterand und Jacques Delors, dürfen Europas Sozialistinnen und Sozialisten heute nicht mehr bei der Umverteilung und Teilverstaatlichung stehen bleiben: Zu linker Politik in Europa gehört die Etablierung kooperativer Unternehmensformen, die Wirtschaftsdemokratie und eine umfassende Vergesellschaftung, nicht zuletzt in der Pflege.
Das Erbe von Schäuble ist die Politik der Alternativlosigkeit. Die extreme Rechte in Europa schafft es, Alternativen aufzuzeigen. Eine sozialistische Vision von Europa muss mit beidem brechen und aufzeigen, wie die europäischen Institutionen wirtschaftsdemokratisch statt neoliberal funktionieren können. Sozialismus bedeutet, die Menschen unmittelbar an ihrem Arbeitsplatz und in ihrem Alltagsleben demokratisch zu ermächtigen. Eine sozialistische EU müsste sich daran messen lassen.