Beiträge von Jimbo

    Danke Tilo für dieses sehr gewinnbringende und hörenswerte Gespräch, wie eigentlich immer. Tausend Dank an Dich und das ganze Team für Deine und Eure zahllosen Stunden Arbeit, die in diese außergewöhnlichen Gespräche fließen.


    Zum Gespräch mit Adam Tooze, ein paar Auszüge, von mir transkribiert (ab ca. Stunde 1.33 im Video):


    Tilo: …zum Beispiel könnte man das ja aus klimawissenschaftlicher Sicht machen und auch politischer Sicht, dass man eine CO2-Budget-Obergrenze einführt, also Deutschland hat noch 200 Gigatonnen CO2 und danach ist halt Schluss. Aber die kapitalistische Sicht ist, glaube ich, der Grund, warum wir das nicht haben, also wir sagen lieber, wir wollen das bis 2045 machen, weil beim Anderen müssten wir ja handeln, weil wir gar keine andere Wahl haben.


    Tooze: Ich bin immer noch unentschlossen in der Frage, ob Kapitalismus nur fossil zu denken ist. [...] Ich halte das für eine These mehr als einen erwiesenen Faktor. [Historisch haben hier immer einen Mehrverbrauch von allem gesehen, Kohl, Öl, Torf Holz, und die Energy-Transition auf erneuerbare Ressourcen ist ein einmaliges Projekt der Menschheit mit offenem Ausgang], aber unter diesem Vorbehalt würde ich immer noch sagen, dass es nicht klar ist, dass es nicht geht, und ich sehe prinzipiell keinen Grund, warum der Kapitalismus nicht umsteigen sollte auf grüne Objekte.


    Tilo: Kann die Ursache für den Klimawandel, also das globale Wirtschaften kapitalistischer Art, auch die Lösung sein?


    Tooze: Ich bin nicht sicher, ob der Kapitalismus wirklich die Ursache ist…


    Tilo: …Wachstum, Wachstum, Wachstum…


    Tooze: …Wachstum und Entwicklung sind die Ursachen meiner Meinung nach. ich meine, es gibt natürlich Kollegen von der linken Seite, die sagen wollen, dass China nichts anderes als Staatskapitalismus ist. Aber wenn wir China nicht auf Staatskapitalismus reduzieren, sondern auch in seiner Eigenständigkeit sehen, dann muss man ja sagen, dass die explosivste Phase des Wachstums im CO2-Ausstoß auf Kohle basierend in der letzten Generation im chinesischen System stattgefunden hat, das heißt meiner Meinung nach nicht ohne weiteres reduzierbar ist auf nur Kapitalismus, sondern auch Entwicklungsvorhaben. Das heißt, die Frage ist, ob wir Entwicklung anders denken können.


    Tilo: Kann es Kapitalismus ohne Wachstum geben? Also da [widersprechen] ja einige Ökonomen.


    Tooze: Wachstum muss ja nicht fossil basiert sein. Angesichts der Tatsache, dass mittlerweile in den meisten fortgeschritten kapitalistischen Gesellschaften seit mehreren Jahrzehnten eine Entkopplung besteht, also selbst in Amerika und in Europa ja die CO2-Ausstöße seit Jahrzehnten rückläufig sind - für Deutschland und Europa ist ja der Spitzensatz Anfang der 80er Jahre und es gab seitdem Wachstum -, denke ich, dass die strenge Behauptung, dass es ohne nicht geht, einfach nicht stichhaltig ist. Das, was man anerkennen muss, ist, dass beide Seiten in dieser Diskussion sich im Grunde nicht auf nicht mehr als irgendwelche Extrapolation aus der Geschichte beziehen können und wir wissen wirklich nicht, was möglich sein wird.


    [...]


    Tilo: Du hast ja mal in einer Kommentierung angesprochen, das habe ich mir gemerkt, dass wir in Deutschland das ja auch seit 1990 mit Wirtschaftswachstum hinbekommen und gleichzeitig weniger CO2 ausgestoßen haben, liege unter anderem daran, dass die deutsche Wirtschaft quasi abgewandert sei in andere Teile der Welt, wo sie dann produziert und CO2 ausstößt, und dadurch werde der der starke Rückgang in Europa zu einem erheblichen Teil [wieder negativ kompensiert].


    Tooze: Das ist kein schlechter Gedanke und ein wichtiger kritischer Einwand. [Worauf] man sich aber nicht kaprizieren sollte, ist der eurozentrische Gedanke, dass damit das Wachstum [der CO2-Emissionen] in China erklärt wird. Das [geht in der Diskussion häufig durcheinander], dass in gewisser Weise das, was in China geschieht, die verdrängte Carbon-Entwicklung aus dem Westen ist. Das unterschätzt ganz massiv, wie stark die [Entwicklung in China alleine ist]. Nur ein Bruchteil des chinesischen Anstiegs ist uns zu verdanken, der Rest ist von ihnen selbst generiert.



    [In den Minuten danach demontiert Tooze dann auch noch die apokalyptischen Zukunftsprognosen zur Erderwärmung des Club of Rome, mit denen Tilo immer um die Ecke kommt. Aber das auch noch abzutippen, erspare ich mir an dieser Stelle.]


    Fazit: Danke, danke, danke Adam Tooze für diese (und viele weitere) differenzierten Gedanken. Endlich mal wieder ein Gast aus der im weiten Sinne politischen Sphäre, der weder Tilos radikal links-dystopischen politischen Ansichten stillschweigend (oder höflich rücksichtsvoll) hinnimmt oder unterstützt noch selbst irgendwelche verbalen Utopiekerzen zündet, die sich zwar schön anhören, aber vollkommen jenseits jeglicher Chance auf praktische Umsetzung sind.


    Für alle euro- oder gar deutschlandzentrische Klimautopisten schmerzhaft, aber von kardinaler Wichtigkeit ist auch Tooze' (im Prinzip für jeden denkenden Menschen offensichtlicher) Hinweis auf die Tatsache, dass China mit seinen 10 Gigatonnen CO2-Ausstoß pro Jahr alleine für mehr als 30% der weltweiten jährlichen CO2-Emissionen verantwortlich und mit seinen Ausbauplänen im Energiebereich über die nächsten Jahre und Jahrzehnte für die Entwicklung des Klimas auf diesem Planeten der kritische Player schlechthin ist.


    Solange China, wie 2022 geschehen und 2023 wahrscheinlich wieder, in Größenordnungen von über 100 Gigawatt an neuer Kohlekraft pro Jahr (oder bildlich umgerechnet zwei mittelgroße deutsche Kraftwerke pro Woche) genehmigt und in Betrieb nimmt, solange ist es nahezu irrelevant, ob wir in Deutschland mit unseren knapp 2% (oder 0,6 Gigatonnen) CO2-Ausstoß pro Jahr ab 2024 keine Öl- und Gasheizungen in Neubauten mehr einbauen oder ob wir unseren ganzen Personenverkehr auf E-Mobilität umstellen (oder oder). Sogar dann, wenn wir in Deutschland unseren jährlichen Pro-Kopf-CO2-Ausstoß in den nächsten Jahren nicht nur nicht senken, sondern sogar noch deutlich erhöhen würden, wäre dies für die Entwicklung des Weltklimas grosso modo irrelevant. Wir können noch so viele Wärmepumpen einbauen, wir könnten auch morgen am Tag im Meer versinken oder, umgekehrt, jedem einzelnen unserer 80 Millionen Bundesbürger einen fetten SUV mit unbegrenzter Tankkarte zur freien Verwendung zur Verfügung stellen - die Klimaentwicklung auf diesem Planeten würde dadurch nicht wesentlich beeinflusst.


    Das Spiel wird in China entschieden - und möglicherweise noch in Indien (2,35 Gigatonnen p. a. aktuell), wenn es irgendwann aus seinem ökonomischen Schlaf erwacht und Chinas Aufstieg nachahmt. Wir Europäer, erst recht wir Deutschen alleine, fallen da rein quantitativ gar nicht ins Gewicht.


    Und wenn es also auf China und potenziell Indien ankommt, wie ließe sich deren CO2-Ausstoß bändigen, geschweige denn reduzieren? Wenn schon Chinas Anstrengungen, hunderte von Millionen seiner Bürger aus einem Zustand bitterster Armut in einen Zustand nicht mehr ganz so großer Armut zu führen, mit dutzenden Gigawatt Kohlezuwachs pro Jahr verbunden sind (also bildlich gesprochen mehreren neuen Kohlekraftwerken pro Monat), und wenn Indien mit ähnlich vielen Einwohnern potenziell einen ähnlichen Weg nehmen wird - was man den dort lebenden Menschen ja eigentlich nur wünschen kann, denn wer kann schon wollen, dass Millionen und Abermillionen Menschen jedes Jahr Hunger leiden, an vorbeugbaren Krankheiten sterben oder kein Dach über dem Kopf haben? -, dann wäre die einzig plausible Antwort: Sie dürfen nicht wachsen. Zumindest heute nicht. Sie dürfen so lange nicht wachsen, bis die Menschheit eine globale Infrastruktur erneuerbarer Energien (Solar, Wind, Wasserstoff, Ammoniak, whatever) soweit aufgebaut und hochskaliert hat, dass sie den Aufstieg von Milliarden Menschen aus bitterster Armut in diesen Ländern energetisch finanzieren kann, denn Aufstieg = steigender Energiebedarf = Kohle, solange EE noch nicht für den Energiebedarf von Milliarden Menschen hochskaliert sind. Und wie lange kann das noch dauern? 10 Jahre? 20 Jahre? 30 Jahre? Bis dahin jedenfalls müssen die Chinesen und die Inder bitte auf weiteren Kohlezubau verzichten und weiter arm bleiben. Sie müssen weiter hungern, ohne regelmäßiges sauberes Wasser auskommen, an Cholera sterben, in Blechhütten schlafen und ohne vernünftige öffentliche Infrastruktur auskommen. Egal was sie sonst tun, sie dürfen auf keinen Fall wachsen, weil sonst unser Klima vor die Wand fährt, irreversibel, Kipppunkte und so. Es kommt ja bekanntlich auf jede Tonne CO2 an. Zwei Kohlekraftwerke pro Woche ist jedenfalls auf keinen Fall mehr drin.


    Will das jemand? Kann das jemand wollen? Und selbst wenn jemand nach reiflicher Abwägung tatsächlich zu dem Schluss käme: "Lieber sollen die Chinesen und die Inder die nächsten 20 Jahre nicht weiter wachsen, als dass das Weltklima irreversibel zerstört wird", wäre das denn überhaupt eine realistische Option? Glaubt hier irgendjemand wirklich, dass sich die Chinesen (und Inder) in den nächsten Jahren und Jahrzehnten von der Kommissionierung und Inbetriebnahme neuer Kohlekraftwerke im großen Stil abbringen lassen werden? Zumindest so lange, bis sie parallel dazu ihre EE-Kapazitäten auf das Niveau aufgebaut haben, das für das Wachstum und anschließenden energetischen Support ihrer riesigen Bevölkerungen auf einen minimal anständigen Lebensstandard notwendig ist? Derjenige möchte sich gerne hier im Thread melden. Ich glaube das jedenfalls nicht.


    Gut, dass Tooze in dem Gespräch auch noch erwähnt, dass sich die aktuell wahrscheinlichsten Klimaprognosen irgendwo im Bereich von 2,5 bis 3 °C plus einpendeln und nicht bei 5 oder 6 °C plus, Chinas Ausstoß schon mit eingerechnet, die ganz katastrophischen Zukunftsszenarien für den Zustand der Welt in 50 oder 100 Jahren also höchstwahrscheinlich ausbleiben werden. Denn ansonsten würde ich sagen: Was immer wir hier in Deutschland und Europa auch in Sachen Klimaschutz machen: we're f*cked.