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Und weil man die Opferung der Ukraine als Kanonenfutter für dieses zweite russische "Afghanistan" nicht offen als solche bezeichnen kann, ohne das ganze Gefasel von Werten und liberaler Demokratie als hohle Phrasen zu offenbaren, muss man dafür sorgen, dass die schockierte Öffentlichkeit so dermaßen emotional auf David im Kampf gegen Goliath eingeschworen wird, dass es den Geschäftspartnern des russischen Kohlenwasserstoffhändlers moralisch unmöglich gemacht wird, weiter an irgendeiner Form von geschäftlicher oder diplomatischer Beziehung mit ihm festzuhalten, oder gar laut über Friedensverhandlungen nachzudenken.
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In der Analyse ist das ja alles richtig und kann so auch von mir unterschrieben werden. Und ja: Man hätte mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine andere Sicherheitsstruktur etablieren müssen. Unter Einbezug Russlands.
Jetzt sind aber in der Analyse ein paar Dinge unter den Tisch gefallen, die die Sache halt doch komplizierter machen:
a) Trotz aller Widersprüche und Unzulänglichkeiten der sogenannten "westlichen Demokratien" sind EU, Großbritanien und Nordamerika Sehnsuchtsorte der geschassten weltbürgerlichen Unterschicht. Niemand flieht nach Russland oder China. Und das liegt daran, dass - bei allen Einschränkungen und erwähnten Unzulänglichkeiten - bei "den Sehnsuchtsorten" wenig Korruption, ein einigermaßen funktionstüchtiges Rechtssystem, so Dinge wie Gewaltenteiliung, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, (für einige besonders wichtig) Freiheit der eigenen Sexualität, etc… pp… zumindest in irgendeiner Form vorhanden sind. Auch die Ukraine zieht es aus genannten Gründen in die EU - und natürlich verspricht sie sich einen wirtschaftlichen Aufschwung dadurch(, was ein böses Erwachen geben wird, wenn sie dort einmal gelandet sein sollten, aber das ist jetzt nicht das Thema). Das führt uns direkt zu Punkt b).
b) Putinrussland hat militärisch nichts zu befürchten. Was es WIRKLICH kratzt, ist ein ideologisches Problem und das ist die "westliche Lebensweise", die immer näher kommt und den Machtstrukturen gefährlich wird. Es kommt noch etwas dazu, was immer wieder gerne vergessen wird: In D und EU wird demnächst der Schalter umgelegt, um von fossil auf erneuerbar umzuswitchen. Putin war deswegen schon vor dem Krieg ziemlich pissed, denn weder glaubt er an die Klimakatastrophe, noch ist er gewillt, seine wichtigsten Geldquellen versiegen zu lassen. Und jetzt macht er uns allen klar, wie abhängig wir nach wie vor von der Droge der fossilen Energie sind. Aber gut, das ist nur ein nicht ganz unwesentlicher Nebenaspekt. Wie alle Machthaber hat er es natürlich auch drauf mit den vermeintlich guten Gründen für den "gerechten Krieg". Die "guten Gründe" sind: Die NATO bedroht mich! Die Ukraine gibt es gar nicht, bzw. gehört eigentlich sowieso zu Russland! Außerdem sind dort Nazis™! (Wobei es ja leider wirklich Nazis in der Ukraine gibt, aber 1. - wo gibt es diese Arschlöcher denn nicht auf der Welt? und 2. hab ich gelernt, dass in Russland alles "Nazi" genannt wird, was gegen Russland ist.) Alles vorgeschoben, alles Propaganda, nichts davon beschreibt den eigentlichen Grund für diesen Krieg.
c) Putin führt einen Angriffskrieg. Und wie wir aus Tschetschenien und Georgien gelernt haben, wird der geführt, bis alles platt ist und die Putin'sche Ordnung wieder hergestellt ist.
So! Und wenn wir diese Punkte Deiner Analyse hinzufügen, für was sind wir dann? Klar sind wir alle für Frieden. Aber wie erreichen wir den? Soll die Ukraine sich ergeben? Soll die EU weg schauen? Soll die NATO eingreifen? Oder soll sie sich genauso unwürdig verhalten, wie damals in Rojava? Oder jetzt in den Kurdengebieten der Türkei? Sollen schwere Waffen in die Ukraine geliefert werden, um etwas gegen die Luftangriffe machen zu können?
Das sollen jetzt alles gar keine rhetorischen Fragen sein. Sondern jetzt mal im Ernst…!
Es scheint mir irgendwie einfach, eine Haltung, sofern man denn eine hat, anzugreifen, lächerlich zu machen, für unmöglich zu befinden. Und während wir hier bequem von daheim aus in unsere Laptops tippen, sitzt der Rest der Bevölkerung von Mariupol im Stahlwerk fest und wartet unter unwürdigen Bedingungen auf ihre Verschleppung und Verstreuung nach Russland oder gleich auf den Tod.
Also: Was wäre jetzt konkret die richtige Vorgehensweise im Konflikt um die Ukraine?