Ich komme nun zu einem weiteren wichtigen Kapitel des Buches:
4.7 Rebound-Effekte
Dennoch wird an der Hoffnung auf einen plünderungsfreien Überschuss festgehalten, der nicht nur das vorindustrielle Niveau deutlich übertreffen, sondern stetig quantitativ und qualitativ gesteigert werden soll. Das ist verständlich: Denn so unhaltbar ökonomische Effizienz- und Fortschrittsprojektionen aus thermodynamischer Sicht auch sind – dies einzugestehen würde bedeuten, das Glaubensfundament der Moderne zu erschüttern. Die seit mehr als einem Jahrhundert handlungsleitende Vision, der zufolge Frieden, Gerechtigkeit und bequemer Konsumwohlstand durch nie endendes wirtschaftliches Wachstum herzustellen seien, ließe sich nur schwer legitimieren. Dabei reicht es nicht einmal aus, das BIP konstant zu halten, um ein bestimmtes materielles Versorgungsniveau zu stabilisieren. Binswanger [145] hat zeigen können, dass unter industriellen Produktionsbedingungen bereits ein Aussetzen der Wachstumsdynamik (also keine Reduktion, sondern lediglich Nullwachstum) dazu führt, eine Abwärtsspirale der Wertschöpfung auszulösen.
Um dieses Dilemma zu lösen, wird versucht, die moderne Wohlstandsvision durch „grünes“ Wachstum zu retten. Aber das Unterfangen, wirtschaftliches Wachstum mittels technischer Innovationen von Umweltschäden zu entkoppeln, ist – insbesondere bezogen auf Klimaschutz – bislang gescheitert. In der Nachhaltigkeitsforschung setzt sich zunehmend die Auffassung durch, dass dies kein Zufall, sondern systematischen Ursprungs, nämlich auf sog. „Rebound-Effekte“ zurückzuführen ist. Dabei lassen sich zwei besonders wichtige Rebound-Kategorien identifizieren, deren erste darauf gründet, dass die Beseitigung eines Umweltproblems damit erkauft wird, anderswo, später oder auf andere Weise ein zusätzliches oder neues Umweltproblem zu verursachen. Wenn beispielsweise Energiesparbirnen eingesetzt werden, um durch Effizienz den Elektrizitätsbedarf zu senken, steht dem entgegen, dass die Produktion und Entsorgung dieser Leuchtmittel schon wegen ihres Quecksilbergehalts eine neue Schadensquelle hervorrufen. Die zweite Kategorie, nämlich finanzielle Rebound-Effekte, beruht beispielsweise darauf, dass die Einsparungen an Stromkosten (um bei obigem Beispiel zu bleiben) zusätzliche Kaufkraft entstehen lässt, die wiederum für andere Güter verwendet werden kann, so dass im Saldo die Energieverbräuche nicht sinken oder sogar steigen können.
Beide Rebound-Typen, auf die in den Abschn. 4.7.1 und 4.7.2 eingegangen werden soll, implizieren indes nicht, dass umweltentlastender technischer Fortschritt per se wirkungslos sein muss. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die entsprechenden Innovationen unter den Vorbehalt gestellt werden, dass der Industrieoutput weiter wachsen soll. Ein Überblick über dieses Thema findet sich bei Paech [146,147] und Santarius [148].
Steigerungen des BIP setzen zusätzliche Produktion voraus, die als Leistung von mindestens einem Anbieter zu einem Empfänger übertragen werden muss und einen Geldfluss induziert, der zusätzliche Kaufkraft entstehen lässt. Der Wertschöpfungszuwachs hat somit eine materielle Entstehungsseite und eine finanzielle Verwendungsseite des damit induzierten Einkommenszuwachses. Beide Wirkungen wären ökologisch zu neutralisieren, um die Wirtschaft ökologisch unschädlich wachsen zu lassen. Mit anderen Worten: Selbst wenn sich die Entstehung einer geldwerten und damit BIP-relevanten Leistungsübertragung technisch jemals entmaterialisieren ließe – was mit Ausnahme singulärer und kaum hochskalierbarer Laborversuche bislang nicht absehbar ist –, bliebe das Entkopplungsproblem so lange ungelöst, wie sich mit dem zusätzlichen Einkommen beliebige Güter finanzieren lassen, die nicht vollständig entmaterialisiert sind. Beide Entkopplungsprobleme sollen kurz am Beispiel der Energiewende beleuchtet werden.
4.7.1 Entstehungsseite des BIP: Materielle Rebound-Effekte
Wie müssten Güter beschaffen sein, die als geldwerte Leistungen von mindestens einem Anbieter zu einem Nachfrager übertragen werden, deren Herstellung, physischer Transfer, Nutzung und Entsorgung jedoch aller Flächen-, Materie- und Energieverbräuche enthoben sind? Bisher ersonnene Green Growth-Lösungen erfüllen diese Voraussetzung offenkundig nicht, ganz gleich ob es sich dabei um Passivhäuser, Elektromobile, Windturbinen, Fotovoltaikanlagen, Blockheizkraftwerke, Smart Grids, solarthermische Heizungen, Carsharing, Energiesparbirnen, digitale Services usw. handelt. Nichts von alledem kommt ohne physischen Aufwand, insbesondere neue Produktionskapazitäten, Distributionssysteme, Mobilität und hierzu erforderliche Infrastrukturen aus, was somit zu einer weiteren materiellen Addition führen muss, solange sich daraus wirtschaftliches Wachstum speisen soll.
Aber könnten die „grünen“ Lösungen die weniger nachhaltige Produktion nicht einfach ersetzen, anstatt addiert zu werden, sodass im Saldo eine ökologische Entlastung eintritt? Nein, denn erstens wäre es nicht hinreichend, nur Outputströme zu ersetzen, solange der hierzu zwangsläufig nötige Strukturwandel mit einer Addition an materiellen Bestandsgrößen und Flächenverbräuchen (wie bei Passivhäusern oder Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien) einherginge. Folglich wären die bisherigen Kapazitäten und Infrastrukturen zu beseitigen. Aber wie könnte die Materie ganzer Industrien, Gebäudekomplexe oder etlicher Millionen an fossil angetriebenen Pkw (um sie durch E-Mobile zu ersetzen) und Heizungsanlagen (um sie durch Elektro- oder solarthermische Anlagen zu ersetzen) ohne Entropieproduktion verschwinden?
Zweitens könnte das BIP gerade dann nicht systematisch wachsen, wenn jedem grünen Wertschöpfungsgewinn ein Verlust infolge des Rückbaus alter Wertschöpfungsstrukturen entgegenstünde. So entpuppen sich die momentan als Flaggschiff einer prosperierenden „Green Economy“ bestaunten Wertschöpfungsbeiträge der erneuerbaren Energien bei genauerer Betrachtung als Strohfeuereffekt. Nachdem nämlich die vorübergehende Phase des Kapazitätsaufbaus abgeschlossen ist, reduziert sich der Wertschöpfungsbeitrag auf einen Energiefluss, der nur vergleichsweise bescheidene Effekte auf das BIP und den Arbeitsmarkt haben dürfte und sich nur dadurch steigern ließe, dass der Bau neuer Anlagen unbegrenzt fortgesetzt würde. Aber dann drohten unweigerlich zusätzliche Umweltschäden: Die materiellen Bestandsgrößen expandierten und die schon jetzt kaum mehr akzeptierten Landschaftszerstörungen nähmen entsprechend zu.
Damit wird ein unlösbares Dilemma deutlich: Insoweit auch „grüne Technologien“ niemals – schon gar nicht bei ganzheitlicher Betrachtung aller Systemvoraussetzungen – immateriell, also zum ökologischen Nulltarif zu haben sein können, besteht ihr theoretisch maximaler Entlastungseffekt ohnehin nur darin, Umweltschäden in andere Erscheinungsformen zu transformieren oder in andere ökologische Medien zu verlagern, statt sie zu vermeiden. Dies erfolgt auf vierfache Weise.
1. Die physische Verlagerung lässt sich am Beispiel der Energiesparbirne demonstrieren, die zwar im Vergleich zum Standardleuchtmittel energieeffizienter ist, sich jedoch in der Produktion und Entsorgung als problematischer erweist.
2. Räumliche Verlagerungseffekte bestehen darin, umweltintensive Prozessstufen der Herstellung in entfernt liegende Länder (oft China oder Indien) zu verschieben, so dass die ökologischen Schäden in den Umweltbilanzen Europas nichtmehr erfasst werden.
3. Manche umwelttechnologischen Neuerungen wie etwa Wärmedämmverbundsysteme oder Fotovoltaikanlagen verwandeln sich nach ca. 20 Jahren in ein Entsorgungsproblem, so dass hier eine zeitliche Verlagerung vorliegt.
4. Wiederum andere Maßnahmen wie etwa Windkraftanlagen erzeugen zwar vergleichsweise weniger Emissionen (vollkommen emissionsfrei können sie schon infolge der Anlagenproduktion nicht sein), verbrauchen oder beeinträchtigen dafür Landschaften und Flächen. Hier liegt eine systemische Verlagerung vor, d. h. Umweltschäden werden von einem physischen Aggregatzustand in einen anderen überführt, aber eben nicht vermieden. Überdies stößt eine derartige Verlagerung irgendwann an quantitative Systemgrenzen, etwa wenn alle geeigneten Flächen besetzt sind.
Mutmaßlich umweltentlastende Innovationen können sogar mehrere der oben genannten Verlagerungseffekte verursachen. Deshalb sind die Versuche gegenstandslos, ökologische Entlastungserfolge der Energiewende empirisch zu belegen, zumal sich die Verlagerungseffekte nicht in CO2 -Äquivalente umrechnen lassen. Selbst wenn es irgendwann zu erwähnenswerten CO2 -Einsparungen käme – wie viel Hektar an beeinträchtigten oder zerstörten Landschaften wäre eine von dramatischer Flächenverknappung betroffene Gesellschaft bereit, als Preis dafür zu zahlen? Und selbst wenn dieser Preis akzeptiert würde, ließe sich wohl kaum von einem Nachhaltigkeitsfortschritt sprechen, insoweit lediglich eine bestimmte Schadenskategorie gegen eine anderen ausgetauscht würde. Dieser Befund deckt eine Ambivalenz jenes technischen Fortschritts auf, durch den wirtschaftliches Wachstum von Umweltschäden entkoppelt werden soll: Er basiert – zumindest wenn alle indirekten und verästelten Folgen einbezogen werden – auf einem Tausch und eben nicht auf einer Vermehrung von Optionen: Ein Mehr im Hier und Jetzt wird mit einem Weniger anderswo und später erkauft.
(Quelle: Kümmel, Lindenberger, Paech (2018) Energie, Entropie, Kreativität - Was das Wirtschaftswachstum treibt und bremst, Springer Spektrum)