Ist der "Amazon-Lieferfahrerjonny" der typische User des Jung & Naiv Forums? Und wenn ja - wo nimmt der denn die Zeit dafür her?
Glaubst Du ernsthaft, ich würde mir einbilden, dass man dem einfach nur ein paar Vorträge über Marx halten müsste, damit er sich in einen Kommunisten verwandelt?
Vermutlich nicht.
Aber wen genau hast Du denn dann als Ziel für Deine Agitation auserkoren, wenn es nicht der Proletarier ist?
Nein, glaube ich nicht. Deshalb frage ich ja auch immer wieder, was genau Du hoffst, mit Deinen Textwänden zu erreichen?
Und ich frage das nicht in böser Absicht.
Maja Göpel macht nichts anderes, als an das gute, ökologische, klimafreundliche Gewissen der Leute und der "wertvollen jungen Unternehmer*innen" zu appellieren. Sie setzt nichts praktisch um, sondern sie hält Vorträge, schreibt Bücher und gibt Interviews. Sie hat keine politische Macht. Sie ist Wissenschaftlerin. Ihre "Macht" besteht darin, dass sie öffentlich auftritt und damit ihre moralischen Appelle und Vorschläge zur besseren, klimafreundlicheren Kapitalismusverwaltung vor einem breiteren, größtenteils eher bessergebildeten Publikum halten kann - also zum Beispiel vor Leuten wie Dir, die offensichtlich gewillt sind, sich mit sowas geistig auseinanderzusetzen und die neben der harten Maloche im Büro auch noch die Zeit dazu haben, es sich anzugucken.
Exakt.
Deshalb finde ich es ja auch schräg, ihr ausgerechnet daraus einen Strick drehen zu wollen. Ist sie in diesen Appellen zu extrem, verliert sie ihr Publikum (und damit ihre "Macht"), sie hat also überhaupt keine andere Möglichkeit, als gute Mine zum bösen Spiel zu machen, um, wenn schon nichts radikal gut, dann doch wenigstens moralisch weniger scheiße zu machen.
Ganz davon abgesehen, dass ich leider nicht zur Bullshitjob-Mittelschichtsbüroclique gehöre, aber am Band stehe ich halt auch nicht (mehr), von daher sehe ich mich nicht als "Proletarier" im eigentlichen Sinne.
Leute wie Maja Göpel gehören zur geistigen Elite des Landes. Ihnen wird zumindest von einem Teil der Bevölkerung, und vor allem von ihrerseits öffentlichkeitswirksamen JournalistInnen und anderen prominenten Expertinnen und AktivistInnen Gehör geschenkt, die sie dann entweder ihrerseits öffentlich kritisieren, ihr öffentlich beipflichten, oder im Fall der AktivistInnen dann ihre "Message" an ihre Basis weiter geben - in jedem Fall werden ihre Ansichten öffentlich verbreitet.
Aber eben nur solange sie sich halbwegs an die "Spielregeln" hält. Eine Greta hat da einen Nimbus, die bekommt man kaum mundtot gemacht, aber schauen wir uns eine Ulrike Guérot an, sehen wir, was passiert, wenn man vom Mainstream abweicht (der Vergleich ist ein bisschen schief, ich weiß schon, aber ich denke, Du weißt, was ich damit aussagen will). Was passiert mit derer Meinung? Die findet öffentlich schlicht nicht mehr statt, von obskuren Nischenprogrammen abgesehen. Und genau so würde es auch Umweltradikalinskis gehen, hießen sie nun Göpel, Quaschning oder sonstwie.
Du lässt es klingen, als wäre die öffentliche Position und damit die "Meinungsmacht" irgendwie sakrosankt mit der Person verknüpft, das sehe ich ganz anders. Die Reichweite geht Hand in Hand mit dem Arrangement zur Mainstreammeinung (bewusst nicht Mehrheitsmeinung). Auch das ist ein Spiel um Marktmacht.
Zur "geistigen Elite" des Landes gehören letztlich quasi alle Uniprofessoren, wenn man mal so förmlich argumentieren wollte, zur medial vertretenen geistigen Elite gehören hingegen nur eine kleine Auswahl derer, was Gründe hat. Einer davon ist mMn das in diesem Absatz von mir geschilderte (dass Göpel hübsch anzuschauen ist, wie ja z. B. auch Precht, dürfte ebenfalls nicht zu deren Schaden sein in Bezug auf die Medienkompatibilität).
Die Arbeiterbewegung, die in früheren Zeiten revolutionäre Umstürze versuchte, oder wenigstens Arbeitskämpfe gegen Staat und Kapital für bessere Arbeitsbedingungen führte, hat sich nicht spontan aus dem Nichts heraus zu schlagkräftigen sozialistischen oder Kommunistischen Parteien und Gewerkschaften organisisert, sondern sie wurde von den Erkenntnissen damaliger Berufsintellektueller beeinflusst, die dem allgemeinen Unmut über die miserablen Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnen eine Ursache, eine Richtung und ein Ziel gaben, das über den bloßen Ausdruck heißer Wut gegen "Die da Oben" und den rachsüchtigen Wunsch, es denen mal so richtig zu zeigen (indem man z. B. eine rechtsradikale Partei wählt) hinaus reichte.
Das ist mir vollkommen klar, nur welche Erkenntnis ziehen wir daraus?
Die Frage, die daraus erwachsen muss, ist doch: wie zur Hölle haben die das genau angestellt?
Und bei der Beantwortung dieser Frage hilft eben die zehntausendste seitenlange Abhandlung über Marx' Theorie nicht weiter, es geht um die praktische Umsetzung. Wie auch immer. Und genau zu diesem Punkt/dieser Frage komme ich ja jetzt auch zum zehntausendsten Male zurück...
Die ArbeiterInnen haben das vermutlich auch nicht alle komplett durchdrungen und "Das Kapital" in allen drei dicken Bänden gelesen, aber einige von ihnen waren offenbar - trotz der harten Maloche zu wesentlich unmenschlicheren Bedingungen bei wesentlich längeren Arbeitszeiten als selbst prekär bezahlte "Amazon-Lieferfahrerjonnys" sie heute zu ertragen haben - dazu in der Lage, grundsätzliche Systemkritik nicht nur zu verstehen, sondern sie auch ihren KollegInnen zu erklären.
Das Ziel der kommunistischen Systemkritiker und ihrer Arbeiterparteien, deren zwei prominenteste Vertreter zu diesem Zweck sogar mal diese berühmte Manifest verfassten, war es, die ArbeiterInnen zu emanzipieren und dazu zu ermächtigen, selbst zu erkennen, woran es lag, dass sie zu so unmenschlichen Bedingungen und Zeiten zu arbeiten hatten, nur um den Eigentümern der Produktionsmittel ihre Profite zu ermöglichen.
Das Ziel war, die Leute zu mobilisieren und zu organisieren, weil schon damals klar war, dass eine Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse nicht durch den richtigen politischen Willen von oben herab zu erzielen ist, sondern nur durch massenhaften, gezielten, und geistig gegen politische Propaganda der Gegenseite gerüsteten Druck von unten.
Schon klar, aber dann muss man doch resümieren, dass dieses Ziel heute weniger denn je erreicht wird. Ja, Arbeitskämpfe haben aufgrund der veränderten Vorzeichen auf dem Arbeitsmarkt aktuell eine andere Dynamik als früher, aber das grundsätzliche Hinterfragen der Besitzverhältnisse sehe ich bei den allerwenigsten.
Da stellt sich doch dann die Frage: Geht es der arbeitenden Bevölkerung inkl. der prekär bezahlten "Amazon-Lieferfahrerjonnys" zu gut? Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen, es ist ja schließlich auch nicht so, dass in Indonesien, Bangladesch oder sonstwo konkret Bestrebungen in nennenswerten Ausmaßen zur revolutionären Veränderung der Besitzverhältnisse vonstatten gingen (und dort sind die Zustände ja in der Tat nochmal ganz andere als hierzulande).
Es war nicht die Absicht der Kapitalismuskritiker, den Kapitalisten und ihren politischen Verbündeten mit moralischen Appellen ins schlechte Gewissen zu reden und dabei die abhängig beschäftigten Objekte der kapitalistischen Ausbeutung als abgestumpfte Masse zu behandeln, der man gar nicht zutrauen konnte, ihren eigenen Verstand sinnvoll zu benutzen, um ihre Lage richtig einzuschätzen und sich selbst dagegen zu organisieren.
Ja, schon klar. Aber angesichts eines weltumspannenden Kapitalismus, scheint mir der Ansatz (bisher) auch nicht so wirklich gefruchtet zu haben.
Ich könnte Dir jetzt also genau den Vorwurf machen, den der irre Freak mir hier die ganze Zeit macht, und Dir unterstellen, dass Du den "Amazon-Lieferfahrerjonnys" einfach nicht zutraust, sich genauso verständnisvoll (oder kritisch) mit den Einlassungen prominenter Berufsintellektueller wie Maja Göpel zu befassen, wie Du und andere bessergebildete und "progressive" Jung & Naiv-ZuschauerInnen es offenbar tun, und dass ihr deshalb davon ausgeht, dass man dem dumpfen Pöbel eben die richtige Haltung vordenken müsse, dass man ihn zu seinem Glück in einer besseren, gerechteren und klimafreundlicheren Welt zwingen und es ihm auch ohne sein aktives Zutun und notfalls gegen seinen Willen durch eine bessere politische Führung bescheren sollte.
Das traue ich in der Tat sehr vielen Menschen, und da rede ich ganz gewiss nicht nur von "Amazon-Lieferfahrerjonnys", nicht zu. Aus ideologischer Verblendung, aus fehlender mentaler Kapazität oder aus schlichtem Desinteresse...
Und jedem, der sich mit Soziologie und (im besonderen Entwicklungs-)Psychologie auseinandersetzt, wird man auch nicht zwei Mal sagen müssen, dass Menschen auch mal zu ihrem Glück gezwungen werden müssen. Die Frage ist immer, wie clever man das verkauft (Nudging hier nur mal als eines der Konzepte eingeworfen).
Der Sicherheitsgurt/Katalysator im Auto oder das Rauchverbot in Restaurants nur mal als zwei Beispiele dafür, wie sowas manchmal sinnvollerweise über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden werden kann/muss, und hinterher fragen sich alle, wie der Zustand davor eigentlich überhaupt denkbar war...
Die Frage dabei ist halt immer, ist das, was man selbst für gut für alle anderen Menschen hält, letztlich tatsächlich gut für sie oder hält man es nur dafür? Christian Lindner glaubt bestimmt, dass er mit Steuersenkungen etwas Gutes für die Menschen bewirkt, da gehe ich fest von aus...
Aber eigentlich interessiert mich nach wie vor viel mehr, was so schwer daran ist...
...das einfach mal zu belegen.
Denn - ganz ehrlich - so lange Du das nicht machst, sieht es dann eben leider weiterhin so aus, dass man Dir vorwerfen muss, nur nach Bauchgefühl und persönlicher Befindlichkeit zu argumentieren.
Ich behaupte es nie wieder, versprochen.