Alles anzeigen[BZ:] Frau Amlinger, Herr Nachtwey, die Proteste gegen Corona-Maßnahmen waren geprägt von einem Beharren auf Freiheit und Autonomie, eigentlich also anti-autoritären Werten. Sie analysieren die Querdenker-Szene dennoch als „libertäre Autoritäre“. Was macht dort den autoritären Charakter aus?
Carolin Amlinger: Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, würden sich selbst nicht als Rechte oder Autoritäre bezeichnen. Oft wurden sie links oder liberal sozialisiert, Selbstverwirklichung und Kosmopolitismus sind wichtige Werte für sie. Mittlerweile tragen sie jedoch ein so absolutes Freiheitsverständnis vor, dass wir einen Drift ins Autoritäre beobachten können. Wir sehen aber keine Identifikation mit einem starken Führer wie beim klassischen Autoritären. Es gibt auch keinen Hang zu konventionellen Werten. Was wir aber gefunden haben, ist autoritäre Aggression gegenüber Personen und Institutionen, die angeblich ihre individuellen Freiheitsrechte missachten.
[BZ:] Aus welchen Milieus stammen diese libertären Autoritären? Sind das alles abgehängte Arbeiter?
Oliver Nachtwey: Eben nicht. In unseren Untersuchungen sind wir fast gar nicht auf Arbeiter, sondern auf Personen aus der modernen Mitte gestoßen. Wenig Industrie- oder Facharbeiter, dafür viele Angestellte und Selbständige, Menschen mit höherer Qualifikation. Wir haben nicht den klassischen Konservativen gefunden, der auch mal zu autoritären Ideen neigt, sondern Leute, die von progressiven Ideen kommen und über die politische Dynamik dann immer schneller nach rechts gehen. Das meinen wir, wenn wir von „Drift“ sprechen.
[BZ:] Wie kam es, dass der Staat in diesem Milieu schnell zu einer Hassfigur wurde?
Oliver Nachtwey: Es gibt erhebliche Klassenunterschiede in der Art, wie man den Staat vorher erlebt hat. Man sieht das zum Beispiel am Hartz-IV-Empfänger: Wer in Deutschland Transferzahlungen bezogen hat, der hat unmittelbare Erfahrungen mit dem Staat gemacht. Man musste sein Privatleben bis ins Badezimmer, bis zur Zahnbürste offenbaren und konnte sanktioniert werden, wenn man sich dem nicht gefügt hat.
Carolin Amlinger: Für die unteren Klassen und Arbeiter hat der Staat immer schon stark in das Alltagsleben hineindirigiert. Für jene Milieus, die auf Selbstverwirklichung und Autonomie zielen, war der Staat hingegen immer Garant ihrer Freiheit. Er war also nicht als disziplinierende Instanz präsent.
Oliver Nachtwey: Die Leute in unserer Untersuchung haben eigentlich immer vom Staat profitiert. Man hatte gute Straßen, eine gute Bildung und generell eine Gesellschaft, die funktioniert. Aber weil diese Gesellschaft funktioniert hat, blieb sie unsichtbar und wurde als selbstverständlich hingenommen.
Carolin Amlinger: Und in der Pandemie waren plötzlich auch diese Milieus mit Staatsinterventionen konfrontiert, die sie vorher nicht kannten.
[BZ:] Werden wir also zu Bürgern, die nicht mehr mit Krisen umgehen können, die nur der Staat lösen kann?
Oliver Nachtwey: Der Kapitalismus erzeugt diese Krisen. Auch die Pandemie ist eine Folge der Globalisierung. Wenn man sich die Geschwindigkeit ihrer Verbreitung anschaut, lag das daran, dass die Welt so eng vernetzt ist. Der Staat hat immer eine Doppelfunktion: Er muss die Wirtschaft am Laufen halten, aber dafür auch Regeln setzen. Das auch das nötig ist, haben viele verdrängt. Die Wahrnehmung lautet jetzt, dass er sich gegen eine Gruppe richtet, die immer wahnsinnig vom Staat profitiert hat. Und vor allem in dem Sinn, dass sie konkret wenig mit ihm zu tun hatte.
Carolin Amlinger: Krisen erscheinen so nicht mehr als gesellschaftliche Konflikte, sondern als individuelle Angelegenheiten. Dieses, wie wir es angelehnt an den ungarischen Philosophen Georg Lukács nennen, verdinglichte Bewusstsein der eigenen Situation sorgt dafür, dass man nicht mehr so leicht in Zusammenhängen denken kann. Alles erscheint fragmentiert: Energiekrise, Klimakrise, Pandemie. Die Proteste, die wir beobachtet haben, wehren die Gesellschaft als solche – teilweise eben autoritär – ab und verdrängen die eigene Verstrickung in ihr. [...]