Kapitalismus

  • Von den zwei Smilies kannst du also darauf schließen, was ich gemeint habe? Na dann. Du beschreibst einfach nur die typischen Kritikpunke von Genossenschaften, die bekannt sind, aber zu denen es auch viele Ansätze zur Lösung des Problems gibt, so wie bei den meisten Sachen. Und tut mir Leid, dass ich nicht 24 Stunden hier im Forum mit dem Schreiben von Gish Gallop verbringen kann.

  • Und tut mir Leid, dass ich nicht 24 Stunden hier im Forum mit dem Schreiben von Gish Gallop verbringen kann.

    Aber das muss Dir doch nicht leid tun.

    Du kannst ja statt dessen einfach weiter davon ausgehen, dass alles was Dir schon bekannt ist auch für alle anderen nur überflüssiges Gesabbel ist, so lange Du es nicht selbst hier rein schreibst.

  • Zu dem ersten Teil:


    Ok das ist die normale Kritik, die sich Genossenschaften und die Worker Co-ops immer anhören müssen. Es gibt aber noch andere Finanzierungsmöglichkeiten als von einem milliardenschweren Angel Investor oder von einer Bank, die Zinsen verlangt. In GB gibt es z. B. den CNFE. Ein Fund, der Genossenschaften finanziert und der Kapital von vielen verschiedenen Quellen bezieht (auch von privaten Individuen). Eine andere Möglichkeit wäre ein steuerfinanziertes Modell, das aber von der Politik abhängt. Andere Möglichkeiten sind soziale Organisationen, NGOs und viel mehr.

    Es gibt bei jeder Form Probleme, aber diese Probleme beschreiben den Ist-Zustand nicht das Was-Sein-Könnte. Es ist wie bei allem. Sozialer Fortschritt kann nur stattfinden, wenn es genug politischen Aktivismus von unten gibt, der Druck auf die Politik oder auf andere Institutionen ausübt. Und als Kapitalismuskritiker, der du ja angeblich sein willst, reicht es nicht nur zu kritisieren und dann zu sagen: "Ja irgendwie werden die Probleme schon gelöst werden, das sollen dann andere machen." Als Kapitalismuskritiker muss man den Leuten auch Alternativen aufzeigen.

    Das war immer so in der Geschichte.

    Jean Sylvain Bailly und andere Mitglieder der moderaten Parteien in der Nationalversammlung während der französischen Revolution waren von der konstitutionellen Monarchie in England inspiriert und wollten das Modell auch für Frankreich unter Ludwig 16. (ein erster Schritt zur Abschaffung der Monarchie). Alle Minister, die Ludwig seit der Revolution bis zu seinen Tod hatte, waren von Ideen der Aufklärung beeinflusst (Z. B. Jacque Nicker). Die Reformation in Europa war von den Ideen von Martin Luther inspiriert. Viele Anarchisten in Spanien hatten ihre Ideen von Michail Bakunin. Die Arbeiterbewegung, Frauenbewegung, Umweltbewegung usw. habe alle auf Ideen von Leuten basiert. Ich kann mir schon vorstellen wie witzig es wären, wenn bei einer Demo zum 8-Stunden Tag plötzlich jemand wie du ans Mikrophon kommt und meint: "Ach das geht doch alles gar nicht wegen xyz." Hajo.

  • Utan



    Nur weil deine Vorstellungskraft sehr beschränkt ist, bedeutet das nicht, dass man die Probleme nicht lösen kann. Wobei du ja auch selbst keine Lösungen anbietest.


    Das ist in der Vergangenheit natürlich auch alles nie perfekt gewesen oder wurde sogar wieder in den alten Zustand zurückgesetzt (wie bei der franz. Revolution). Aber es geht ja um Fortschritt, wie gesagt. Die Bezeichnung von Genossenschaften als Start-Ups finde ich etwas unangebracht. Mit Start-Ups ist auch immer eine Start-Up Kultur verbunden, die meist nicht viel mit den Zielen einer Genossenschaft zu tun hat oder dabei kommen solche Start-Ups wie dieses dubiose Einhorn Unternehmen heraus.


    Zu dem von Chomsky:

    Wie kommst du anhand des Zitats von Chomsky, zu dem Schluss, dass Chomsky meint, Kapitalismus ohne Märkte wäre nicht möglich? Klar braucht es erstmal Märkte, damit die Unternehmen Märkte kontrollieren können, das ist aber gar nicht der Punkt. Monopolisierungsprozesse haben mittlerweile dazu geführt, dass ein Wesensmerkmal von Märkten, der Wettbewerb, ausgeschaltet ist (oder zu einem hohen Maß ausgeschaltet ist). Dann kann man nicht mehr von Markt reden, sondern hat eben Planwirtschaft, die aber trotzdem noch der Profitmaximierung unterliegt und die Lohnarbeit als Arbeitsmodell hat, zwei charakteristische Merkmale des Kapitalismus. Jedes Unternehmen versucht, sich selbst ausserhalb des Marktes zu stellen. Was ist denn, deiner Meinung nach, in der Soviet Union passiert? Wo gab es hier einen Markt und Marktpreise? Wobei das Konzept von Markt sowieso sehr dubios ist und man auch die Frage stellen kann, ob es überhaupt jemals so etwas gab, weil jeder Markt immer stark kontrolliert wird.


    Die Version des Marktes aus der Neoklassik gibt es natürlich nicht. Das sind mehr Hypothesen, die es in jedem Modell über die Gesellschaft gibt. Dass die Neoklassik hochidealisierte Märkte in ihrem Modell hat, ist kein wirklicher Kritikpunkt. In der newtonischen Mechanik gibt es die reibungslose Ebene, die genauso wenig in der Realität existiert. Der Unterschied ist, dass die Vorhersagen der Neoklassik überhaupt nicht den empirischen Befunden übereinstimmen, in der Physik schon. Die Neoklassik ist einfach ein falsches Modell. Ich kann in einem Modell stark idealisierte Annahmen machen und trotzdem stimmt das Modell mit der Wirklichkeit überein. Aber es müssen halt die richtigen Annahmen sein, egal ob sie am Ende idealisiert sind oder nicht.

  • Märkte ohne Kapitalismus gibt es auch nicht nur theoretisch, oh man 🤦🏻‍♂️ was für Behauptungen. Kein Wunder, dass viele Leute denken, die einzige Alternative zum Kapitalismus wäre eine Diktatur. Weil diese dummen Behauptungen immer verbreitet werden. Such dir am besten einen Job in der Politik Utan , FDP oder so. Das passiert halt, wenn Demagogen mit Talent zum Geschwätz die Leute um die Finger wickeln 🤦🏻‍♂️

  • Aus dem Interview mit Chomsky:


    LF: Have you ever had a taste of a non market system — had a flash of optimism –– oh this is how we could live?


    NC: A functioning family for example, and there are bigger groups, cooperatives are a case in point. It certainly can be done. The biggest I know is Mondragon but there are many in between and a lot more could be done. Right here in Boston in one of the suburbs about two years ago, there was a small but profitable enterprise building high tech equipment. The multi-national who owned the company didn’t want to keep it on the books so they decided to close it down. The workforce and the union, UE (United Electrical workers), offered to buy it, and the community was supportive. It could have worked if there had been popular support. If there had been an Occupy movement then, I think that could have been a great thing for them to concentrate on. If it had worked you would have had another profitable, worker-owned and worker managed profitable enterprise. There‘s a fair amount of that already around the country. Gar Alperovitz has written about them, Seymour Melman has worked on them. Jonathan Feldman was working on these things.

    There are real examples and I don’t see why they shouldn’t survive. Of course they’re going to be beaten back. The power system is not going to want them any more than they want popular democracy any more than the states of middle east and the west are going to tolerate the Arab spring… .They’re going to try to beat it back.


    Er sagt genau das gleiche wie ich dazu 🤦🏻‍♂️

  • Ja gut Jonny. Dass Du der Überzeugung bist, hier der einzige mit Durchblick zu sein hättest Du auch wesentlich kürzer ausdrücken können.


    Von wegen Gish-Gallop und so...


    Ich hab's Dir ja schon mal empfohlen: Gründe halt mal eine Genossenschaft.


    Da kannst Du dann ganz praktisch Deine Ideen, bzw. die Deiner anarchistischen Ideengeber verwirklichen - sofern Du Leute findest, die auch bereit sind mitzumachen.


    Oder noch besser: Geh' einfach mal zur Mittagpause in die Betriebskantine irgendeines größeren deutschen Mittelständlers Deiner Wahl und halte einen Vortrag darüber, wie schön man den Betrieb demokratisieren könnte, wenn man nur genug Aktivisten dafür hätte.


    Würde mich - so rein empirisch - persönlich interessieren, wie lange es dauert, bis die Arbeiter die Du da selbstorganisieren willst Dich eigenhändig vom Werksgelände prügeln.


    TL/DR: Du wirsft mir vor, ich würde alles mit theoretischem Gesabbel zerreden, während Du selbst Vorträge darüber hälst, was theoretisch alles möglich wäre. Aber wie Du die Bedingungen - sprich: Das gesellschaftliche Bewusstsein - so verändern willst, dass sich genügend Menschen diesen (auch aus meiner Sicht guten) Ideen anschliessen, ohne politisch zu arbeiten, kannst Du genau so wenig erklären wie ich. Du kannst halt gut Bücher lesen. Ist ja auch wichtig.

  • Oder noch besser: Geh' einfach mal zur Mittagpause in die Betriebskantine irgendeines größeren deutschen Mittelständlers Deiner Wahl und halte einen Vortrag darüber, wie schön man den Betrieb demokratisieren könnte, wenn man nur genug Aktivisten dafür hätte.

    Ich hab mal über längere Zeit versucht nen Betriebsrat bei nem alten Arbeitgeber von mir einzuführen. Irgendwie waren auch so ziemlich alle dafür, mit denen ich in der Firma darüber geredet habe. Von nötigen 3 Initiatoren hab ich aber nur einen weiteren gefunden, der auch bereit war da seine Unterschrift drunter zu setzen. Alle anderen hatten diverse Gründe das nicht zu machen (die meisten waren schlicht um ihre Stellung und mögliches Weiterkommen, welches faktisch nicht gegeben war, besorgt). Und dabei wussten wir alle, dass es dabei am Ende auch nur um ne symbolische Handlung geht, mit der man versuchen wollte den Chefs mal noch etwas klarer den Willen danach einbezogen zu werden und nicht nur als Arbeitssklaven behandelt zu werden bzw überhaupt mal menschlicher behandelt zu werden mitzuteilen.


    Nur mal so als Schwank der mir bei den Zeilen gerade so in den Kopf geschossen ist.



  • Ich hab's Dir ja schon mal empfohlen: Gründe halt mal eine Genossenschaft.


    Erinnert mich an die Ancaps, die immer sagen: "Wer seinen Job nicht mag, soll halt ein Unternehmen gründen 11!!1elf."


    TL/DR: Du wirsft mir vor, ich würde alles mit theoretischem Gesabbel zerreden,


    Wo? Du machst alles, aber bestimmt nix, was mit Theorien zu tun hat oder schon gar nicht mit Alternativen. Sehr fragwürdig, wie du zu dieser Aussage über mich kommst.


    Das gesellschaftliche Bewusstsein - so verändern willst, dass sich genügend Menschen diesen (auch aus meiner Sicht guten) Ideen anschliessen, ohne politisch zu arbeiten, kannst Du genau so wenig erklären wie ich. Du kannst halt gut Bücher lesen. Ist ja auch wichtig.


    Ohne politisch zu arbeiten? In meinem letzten post habe ich doch klar gesagt, dass politischer Aktivismus Druck auf die Politik ausüben soll. So wie es schon tausende Male in der Geschichte passiert ist und überhaupt die einzige Methode ist, wie man sozialen Fortschritt erreicht (nie über Parteien, literally). Wieso soll das heutzutage plötzlich nicht mehr gehen? Dass die Menschen von der kapitalistischen Ideologie tiefenindokriniert sind, stimmt nur zum Teil. Dazu kannst du entweder die (IMO korrekte) Theorie von Gramsci lesen oder dich einfach mit normalen Menschen über ihre Arbeit oder über unser Wirtschaftssystem unterhalten (am besten beides zusammen). Ich höre bei solchen Gesprächen fast immer nur Opposition zu dem, was die Politiker so von sich geben. Die meisten Menschen haben viel radikalere Vorstellungen von dem, was unser Zusammenleben betrifft. Sie haben nur Schwierigkeiten es zu artikulieren. Viele Ideen von anarchistischen Strömungen sind einfach nur common-sense unter den Menschen (z. B. hassen Menschen universell illegitime Autoritäten, ja auch du hasst sie, weil sie die Kreativität und den inneren Drang nach Autonomie der Menschen untergräbt. Oder dass Menschen Mitspracherecht haben sollten, bei Entscheidungen, die sie betreffen). Es ist nur unter der Oberfläche versteckt. Abgesehen von dem ganzen ist das ominöse Bewusstsein kein monolithischer starrer und unveränderlicher Block.


    Deine persönlichen Erfahrungen ok, aber es sind eben nur Anekdoten, die stark von den Erfahrungen anderer abweichen können und jeder kann tausende Gegenbeispiele finden. Es wundert mich sehr, wie viele hier angeblich anti-kapitalistisch sein wollen, aber bei konkreten Vorstellungen dann kalte Füße bekommen. Vielleicht würde der ein oder andere ja seine Privilegien verlieren oder hat Angst davor, nicht mehr alle zwei Jahre ein neues IPhone kaufen zu dürfen, obwohl dann jemand anders in einem Entwicklungsland dafür eine gescheite Bezahlung bekommt, von der er leben kann.

  • Deine persönlichen Erfahrungen ok, aber es sind eben nur Anekdoten, die stark von den Erfahrungen anderer abweichen können und jeder kann tausende Gegenbeispiele finden. Es wundert mich sehr, wie viele hier angeblich anti-kapitalistisch sein wollen, aber bei konkreten Vorstellungen dann kalte Füße bekommen. Vielleicht würde der ein oder andere ja seine Privilegien verlieren oder hat Angst davor, nicht mehr alle zwei Jahre ein neues IPhone kaufen zu dürfen, obwohl dann jemand anders in einem Entwicklungsland dafür eine gescheite Bezahlung bekommt, von der er leben kann.

    Find ich ein wenig abgehoben und unfair von dir. Mir und meiner Familie geht's finanziell zwar gut, aber ich weiß, wie schnell sich das ändern kann und hab selbst mehrere Jahre prekär gelebt. Ich möchte das meiner Familie nicht zumuten, zumal ich danach nicht weiß, ob wir da nochmal rauskommen. Ja, das ist meinetwegen ein Paradebeispiel dafür, dass die Mittelschicht nach unten blickt, und nicht nach oben. Ich will auch positive Veränderungen für die “unteren“ 50% - nicht nur hier in Unser-EU, sondern auch im Rest der Welt.


    Der Spruch mit dem IPhone ist dann halt aber schon `ne miese Nummer von dir. Du kritisierst hier meines Erachtens zwei weit auseinanderliegende Ebenen. Die sind ziemlich sicher miteinander verknüpft, aber ich frag mich dann doch auch, was du für einen moralisch einwandfreien Lifestyle pflegst, dass du hier dann so mahnend mit dem Zeigefinger auf die Möchtegernlinken zeigst.

  • Wenn ich mal Bedenken habe, der Kapitalismus sei gefährdet, dann lese ich einfach ein paar linke Streitereien und weiß wieder, der Kapitalismus ist gefestigt wie nie zuvor :D

    🤔da könnte was dran sein.

    Erster post von dir, der Sinn macht 😄(nichts für ungut)

  • Dazu kannst du entweder die (IMO korrekte) Theorie von Gramsci lesen oder dich einfach mit normalen Menschen über ihre Arbeit oder über unser Wirtschaftssystem unterhalten


    Du wirfst mir exakt das vor, was Du selbst hier an den Tag legst: eine weitgehend von der Alltagsrealität der arbeitenden Bevölkerung abgehobene, weltfremde Haltung, die sich darin ergeht, ihren Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft durch das Studium akademischer Texte und historischer Abhandlungen zu filtern.

    Auch Gramsci hat nicht in unserer heutigen Welt gelebt - er starb noch vor Ausbruch des zweiten Weltrkrieges - und schon gleich gar nicht hier bei uns im Mutterland der intellektuellen Abgehobenheit akademisch-philosophischer Diskurse über Ökonomie, Moral und Erkenntnisfähigkeit in der jeweiligen Gesellschaft vom eigentlichen Gegenstand ihrer Betrachtungen.


    Ich schreibe unter anderem genau deswegen solche Romane in irgendwelche linksliberalen Foren, weil ich mich mit "normalen" Menschen über ihre Arbeit oder über unser Wirtschaftssystem unterhalte, anstatt mir nur tonnenweise Literatur darüber reinzuziehen und mich dann zu wundern, warum die offenbar sonst kaum jemand liest oder versteht, und weil ich dabei leider immer wieder feststelle, dass die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen, welche die meisten Menschen durchaus plagt, wenn der dünne Firnis der Konsumfreiheit als Heilsversprechen der sie üblicherweise verschleiert, mal wieder Risse bekommt, eben genau nicht dazu führt, die Verhältnisse radikal verändern zu wollen, sondern immer häufiger dazu, sich radikalst möglich in ihnen und im eigenen Bisschen Wohlstand einzuigeln und ihn mit aller Macht gegen den Rest der Welt zu verteidigen.


    Ich rede übrigens auch recht häufig mit AnarchistInnen über solche Themen, die sich weniger mit Bakunin, Kropotkin oder Chomsky ins Studierzimmer zurück ziehen, als zu versuchen, ihre Vorstellung dessen, was eine herrschaftslose Gessellschaft sein könnte in die heutige Praxis zumzusetzen - und dabei immer wieder beherzt an dem traurigen Umstand scheitern, dass es kein richtiges Leben im Falschen geben kann.


    Ich hab' Dir auch schon erzählt, dass ich aus einer Arbeiterfamilie komme, in der ganz bestimmt keine abgehobenen Diskurse geführt werden, dass ich den größten Teil meines Arbeitslebens mit körperlicher Arbeit verbracht habe, und dass ich Mitgründer einer Genossenschaft bin, die mich und die anderen aktiven GenossInnen fast jeden Tag mit der traurigen Tatsache konfrontiert, dass es eben leider nicht ausreicht, die materiellen Verhältnisse der Leute ein bischen besser zu machen, wenn die Leute dabei das selbe hyperindividualisierte Anspruchsdenken und die selbe "wer-zahlt-schafft-an" Service-Menatalität an den Tag legen, die sie auch schon durch ihr bisheriges Leben als abhängig Beschäftigte und zahlende Konsumautomaten geleitet hat, und die sie nicht einfach abstreifen können, nur weil man ihnen ein paar Vorträge über herrschafstlose Selbstverwaltung hält und ihnen die Möglichkeit gibt, sich mehr zu beteiligen und mitzugestalten.

    Und das ist keine anekdotische Einzelbetrachtung, sondern der ganz normale Alltag in vielen anderen Genossenschaften und selbst in den meisten "anarchistischen" Wohnprojekten, wo man zwar auf jede Anti-Nazi und ProAsyl Demo rennt und ganz laut "A...! Anti...! Anticapitalista!" schreit, und dann zu Hause im von der verhassten Staatsmacht geduldeten besetzten Haus froh ist, wenn einem der kapitalistische Energiekonzern nicht den Strom abstellt, oder wenn jemand anders aus dem Kollektiv sich dafür zuständig fühlt, das kaputte Klo zu reparieren, mit der Kommunalpolitik zähe Verhandlungen zu führen, oder sich nach deren Scheitern mit den Bullen zu prügeln, wenn die mal wieder illegal das Haus durchsuchen wollen.


    Kann ja sein, dass Du mir das alles nicht glaubst - ich kann es hier nicht zweifelsfrei beweisen, ohne mich privat angreifbar zu machen - aber um aus meinen Beiträgen heraus zu lesen, dass ich unsere gegenwärtige Parteienlandschaft für geeignet hielte, mit reiner Wahlkampfrethorik etwas an der alles durchdringenden Dominanz kapitalistischer Systemlogik, hedonistischem Hyperindividualismus und neoliberaler Ideologie zu ändern, muss man mich (aus mir nach wie vor unerfindlichen Gründen) schon absichtlich falsch verstehen wollen.

    Im Gegenteil: Dieser nahezu ehrfürchtige Glaube an die Wirkmächtigkeit der gegenwärtigen politischen Klasse, die fast schon literarische Fixierung auf die feierlichen Reden politischer ProtagonistInnen auf irgendwelchen pompösen Weltbühnen, das bräsige Festhalten an den etablierten politischen Strukturen und ihrer technokratischen Stellschraubenmechanik als einzig möglichem Instrumentarium für einen gesellschaftlichen Wandel unter völliger Ausblendung der systemisch-ideologischen Zusammenhänge, denen diese Strukturen und ihre Stellschraubenapparate längst weitgehend unterworfen sind, war einer meiner Hauptkritikpunkte an den aus meiner Sicht allesamt ziemlich banalen, sozialdemokratischen Ansätzen der politischen Welterklärung durch zutiefst strukturkonservative, bürgerliche Intellektuelle wie z.B. Stefan Schulz und viele seiner bevorzugten Gesprächspartner im Aufwachen-Podcast.


    Ich weiß auch nicht wie oft ich im anderen Forum schon geschrieben habe, dass mir völlig klar ist, dass die meisten Menschen mit diesem System unglücklich sind, dass viele von ihnen die politische Klasse insgesamt verachten, und dass sie dennoch ihre Probleme damit nicht artikulieren können. Ich versuche allerdings den Grund dafür zu beschreiben, weil ich - wie jeder Linke der sich mit normalen Menschen ersthaft unterhält und sich dann anhört, wie weit entfernt von deren Alltagserfahrung sämtliche öffentlich geführten politischen Debatten stattfinden - auch sehe, dass der ganze Unmut und Frust, der sich dabei aufstaut, von links nicht mehr in genau den linksradikalen Aktivismus kanalisiert wird, den wir beide uns ja offenbar wünschen würden, sondern dass er von rechts aufgegriffen und in einen Zustand permanenter Angst vor dem Verlust von Besitzsständen durch konstruierte Bedrohungen verwandelt wird, die mit dem eigentlichen Problem überhaupt nichts, oder bestenfalls als deren Symptome zu tun haben.


    Denn wenn man nicht klar macht, dass eines der Hauptprobleme unserer Zeit nicht darin besteht, den Leuten zu erklären, dass sie in ungerechten Verhältnissen leben, sondern darin, dass ihnen diese Verhältnisse als alternativlos vorkommen, und dass jahrzehntelange Indoktrination durch die permanente Ideologieproduktion jener Verhältnisse ihnen alles was darauf hinaus liefe, sie radikal zu verändern als noch schlimmer erscheinen und ihnen die nackte Verlustangst ins Gebein fahren lässt, dann wird man aus der latenten, diffusen Systemgegnerschaft keine linksrevolutionäre Bewegung destillieren können, sondern - wenn überhaupt - nur eine rechtsreaktionäre.

    .

    Warum, denkst Du, schreibe ich hier ständig irendwas von einem "Gesellschaftlichen Bewusstsein", dass sich ändern müsse und reite immer wieder auf Marx' deutscher Ideologie herum? Glaubst Du, ich würde mir ernsthaft einbilden, ich könnte damit FabrikarbeiterInnen, KrankenpflegerInnen, oder PaketbotInnen zu radikaler Kapitalismuskritik bekehren? Lesen die das Aufwachen- oders das Jung&Naiv-Forum? Wer ist hier die Zielgruppe?


    1/2...

  • 2/2


    10.000 zeichen-Limit (sorry Tilo)

    In meinem letzten post habe ich doch klar gesagt, dass politischer Aktivismus Druck auf die Politik ausüben soll. So wie es schon tausende Male in der Geschichte passiert ist und überhaupt die einzige Methode ist, wie man sozialen Fortschritt erreicht (nie über Parteien, literally).


    Und damit hast Du zwar vollkommen recht, aber Du hast halt nicht erklärt, wo er denn herkommen soll, der Aktivismus. Wie kommt er zustande?


    ...Und zwar nicht in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als Antonio Gramsci seine Gefängnishefte schrieb und die westliche Welt gerade einen verhehrenden maschinisierten Krieg hinter sich hatte, und eine noch verheerendere Weltwirtschaftskrise durchlebte, als in Russland gerade eine sozialistische Revolution statt gefunden hatte und selbst im deutschen Heimatland von Befehl und Gehorsam die Arbeiterräte in vielen Regionen kurzzeitig die Produktionsmittel übernommen hatten, bevor sie von der sozialdemokratischen Staatsmacht niederkartätscht wurden, als die Arbeiterbewegung noch eine revolutionäre Kraft und Gewerkschaften noch keine ausgelaugten, verbürgerlichten Besitzstandswahrungsvereine waren, und als sozialistische und kommunistische Parteien noch so viel Protestpotenzial entfalten konnten, dass sie damit selbst den Präsidenten des kapitalistischsten aller Länder gegen den eisernen Widerstand des Großkapitals zu sozialdemokratischen Reformen zwingen konnten.


    Wie geht das heute, in den zwanziger Jahren des 21. jahrhunderts, wo sich im Online-Konsumparadies Deutschland die größte Bewegung zum "demokratischen Widerstand" erst dann formiert, wenn der Staat ausnahmsweise mal Maßnahmen ergreift, die ihm nicht von den Lobbyverbänden der Privatwirtschaft vorgegeben wurden, wo man den "systemrelevanten" Arbeitskräften erst auf dem Balkon Beifall klatscht und sich dann das nächste Paket vom Online-Handelsmonopolisten von ebensolchen unterbezahlten Arbeitskräften in den fünften Stock im schicken, kernsanierten Gründerzeitaltbau tragen lässt, wo man in kollektive Panik verfällt, wenn der Staat einmal ausnahmsweise nicht die Armen und Vertriebenen dieser Welt vor den Toren Europas verelenden lässt, wo man selbst in umweltbewegten Kreisen über den Klimawandel diskutiert, als wäre das Aufhalten einer globalen Katastrophe eine reine Frage der Technologie, der Wissenschaft und der richtigen Bepreisung von Kohlendioxidemissionen und nicht eine Frage des soziökonomischen Systems, und wo prominente Fernsehphilosophen mit engagierten Sozialforschern darüber diskutieren, ob man eine vollkommen hypothetische, öffentlich finanzierte Nachfragesubvention für die Privatwirtschaft jetzt auch armen Leuten mit zu viel Kindern geben, oder ob man sie nicht doch lieber nur echten LeistungsträgerInnen zukommen lassen dürfe?


    Ich behaupte: Die ganze schöne anarchistische, marxistische, oder sonstig herrschafts- und kapitalismuskritische Theorie ist komplett für die Tonne, wenn sie nicht in die öffentliche Debatte und damit in die Köpfe der Menschen getragen wird. Das kapitalistische System hat sich - insbesondere im Exportüberschussparadies UnserLand - in den letzten 150 Jahren Kapitalismus und den letzten 30-40 Jahren Neoliberalismus genauso gegen kleine, autonome Projekte zu seiner Unterwanderung abgeschirmt, wie es sich gegen alle Versuche immunisiert hat, noch signifikant durch politische Stellschrauben kontrolliert zu werden.


    Das einzige, womit es vielleicht noch überwunden werden kann, ist die radikale, fundamentale und fundierte Kritik an seinen inneren Widersprüchen in die breite Masse zu tragen. Da hilft kein gutes Beispiel und kein Leuchtturmprojekt mehr, das im social media-Sumpf in windeseile unter ferner liefen versandet, sondern nur noch radikale Kritik. Und das meine ich damit, wenn ich von "politischer Arbeit" schreibe. Nicht Parteiarbeit, nicht individuelle Selbstbeherrschung und Optimierug zum besseren Menschsein und auch nicht Partikularwiderstand in politischen oder rechts- wie linksidentitären Gruppenzusammenhängen, sondern penetrante, öffentliche Diskussion und Debatte um die tatsächlichen materiellen Verhältnisse hinter den ideologischen Luftschlössern.


    Erst wenn sich ein solches Bewusstsein - nicht allgemeine Zustimmung! - überhaupt wieder gebildet hat, kann man als Linker vielleicht mit sowas wie Gramscis Hegemonietheorie ankommen. Bis dahin ist das eine vollkommen realitätsferne akademische Diskussion, die den Kampf um die kulturelle Hegemonie von einer sie erkämpfenden Bewegung abhängig macht, die es hierzulande auf der ökonomisch(!) Linken Seite des politischen Spektrums überhaupt nicht mehr gibt.

  • Das einzige, womit es vielleicht noch überwunden werden kann, ist die radikale, fundamentale und fundierte Kritik an seinen inneren Widersprüchen in die breite Masse zu tragen. Da hilft kein gutes Beispiel und kein Leuchtturmprojekt mehr, das im social media-Sumpf in windeseile unter ferner liefen versandet, sondern nur noch radikale Kritik. Und das meine ich damit, wenn ich von "politischer Arbeit" schreibe. Nicht Parteiarbeit, nicht individuelle Selbstbeherrschung und Optimierug zum besseren Menschsein und auch nicht Partikularwiderstand in politischen oder rechts- wie linksidentitären Gruppenzusammenhängen, sondern penetrante, öffentliche Diskussion und Debatte um die tatsächlichen materiellen Verhältnisse hinter den ideologischen Luftschlössern.

    Naja, es sind ja nicht nur ideologische Luftschlösser, sondern auch materielle Vorteile, die wir hier in Deutschland gegenüber vielen anderen Ländern genießen und/oder wenn man in die Vergangenheit blickt.


    Ich kann Hohli verstehen, wenn er schreibt, dass er Angst hat abzusteigen und erstmal nicht für Experimente bereitsteht, mir geht es genau so. Der Kapitalismus den Marx beschreibt, mag in der Funktionsweise immer noch so sein und damit meine ich den Mehrwert und die autoritäre Struktur/Lohnarbeit, die die meisten jeden Tag mehrer Stunden erdulden. Doch würde ich diese Menschen nicht gleich für unmündig erklären und sie bedürfen nur einer besseren "Aufklärung".


    Hier wurde öfters behauptet der Kapitalismus generiere keinen Wohlstand. Das stimmt, aber die Geschichte zeigt, das gerade ein Kapitalismus in Form eines laissez-fairen Kapitalismus dazu führt, das Monopole entstehen und damit ökonomische Macht zentralisiert. Hingegen führt ein stark eingezäunter Kapitalismus oft dazu, dass hier der generierte Wohlstand verteilt wird, nach Esping-Andersen würde ich diese Cluster von Ländern als "sozialdemokratisch-skandinavisch" beschreiben. Die Frage warum der Kapitalismus soviel produziert, liegt zweifelslos an der Arbeitsteilung auf der einen Seite und die Hoffnung auf ein besseres Leben auf der anderen Seite, etwas das Adam Smith herausarbeitete und immer noch stimmen sollte. Was Adam Smith aber überschätzt war, ist die "Sozial- und Moralverantwortung" der Menschen. Hayek hat nicht unrecht, wenn er behauptet, wir Sorgen uns ins erster Linie um den Nahbereich, wie Familie, Freunde und Nachbarn. Wir sollten allerdings Hayeks Schlüsse daraus umdrehen. Insofern das wir seine Argumentation übernehmen, mit dem Wissen, dass wir uns zu oft nur um den Nahbereich kümmern und uns klar machen, dass wir nicht nur Verantwortung für uns selbst und eben jenen Nahbereich tragen, sondern unser Handeln immer eine gesellschaftliche Akt ist. Ich halte die sozialdemokratische Lösung immer noch für einen zentralen gangbaren Weg, der es ermöglich genau den Kapitalismus nicht nur auf sozioökonomischer Ebene einzudämmen, sondern auch eben auf soziokultureller Ebene.


    Die Frage ist, kann man Arbeitsteilung mit unseren normativen Wünschen verbinden und gleichzeitig mit den materiellen Wohlstand. Wir wissen seit Adam Smith und irgendwann später auch Marx, dass das Sein, das Bewusstsein bestimmt. Die einfachte Lösung wäre natürlich Arbeitsteilung abschaffen, eine unrealistische und nicht wünschenswerte Vorstellung, besser wäre es zu starke Arbeitsteilung zu verringern (Was viele Arbeitgeber mittlerweile von sich aus machen, da sie erkannt haben, dass es unproduktiv ist) oder die Arbeitsalltag in autoritären Strukturen zu verringern (Mit dem bewussten Wissen, dass dies unter Umständen zu einen materiellen Wohlstandsverlust führen kann). Vielleicht ist sowas wie eine 35-Stunden Woche, einer der ersten Schritte und ein zweiter Schritt, sowas wie die Förderung von Genossenschaften. (Fraglich natürlich, ob Zweitens überhaupt mit geltenden EU-Recht zu vereinbaren wäre. Wir leben ja mittlerweile in einer beschränkten Demokratie, dank EU und immer neuen Verfassungseinträgen, die kaum zu verändern sind.) Wichtig halte ich es auch, umfangreich in Schulen Sozialwissenschaften zu unterrichten. Ich weiß nicht, wie es heute ist, ich hatte damals erst ab der Oberstufe sowas wie Politik und Wirtschaft und dann auch maximal 2 Stunden in der Woche. Soziologie und auch Recht hatte ich nie.

  • was ich mich immer frage: wenn das sein, das bewusstsein bestimmt und man immer wieder ein falsches bewusstsein feststellt - bis dahin, dass es kein richtiges im falschem gibt. wie kommt man dann zur annahmen, dass ein aufgeklärtes "richtiges" bewusstsein das seiende (z.b. durch revolution) bestimmen kann? mmn betrifft das den punkt wo utan hoffnung schöpft, aber dann doch eigentlich entgegen der bestehenden these, oder?

    Ich behaupte: Die ganze schöne anarchistische, marxistische, oder sonstig herrschafts- und kapitalismuskritische Theorie ist komplett für die Tonne, wenn sie nicht in die öffentliche Debatte und damit in die Köpfe der Menschen getragen wird. [...]


    Das einzige, womit es vielleicht noch überwunden werden kann, ist die radikale, fundamentale und fundierte Kritik an seinen inneren Widersprüchen in die breite Masse zu tragen. Da hilft kein gutes Beispiel und kein Leuchtturmprojekt mehr, das im social media-Sumpf in windeseile unter ferner liefen versandet, sondern nur noch radikale Kritik. Und das meine ich damit, wenn ich von "politischer Arbeit" schreibe. Nicht Parteiarbeit, nicht individuelle Selbstbeherrschung und Optimierug zum besseren Menschsein und auch nicht Partikularwiderstand in politischen oder rechts- wie linksidentitären Gruppenzusammenhängen, sondern penetrante, öffentliche Diskussion und Debatte um die tatsächlichen materiellen Verhältnisse hinter den ideologischen Luftschlössern.

    vielleicht betrachte ich dies nur als paradox, weil mir ggf. informationen oder ein verständnis fehlt. aber wie geht man damit um, bzw. wo ist da der höhlenausgang den ich ggf. im moment nicht sehe?
    ich hatte daher die these zur anwendbarkeit und weil ich fanboy des relationalen-denkens bin mal wie folgt umformuliert: die wechselwirkung von sein und bewusstsein bestimmt unser handeln. ist jetzt nicht der stein des weisen, hilft aber ggf. den unterschied und lösungsansätze aufzuzeigen.

    (ist vielleicht auch eher was für den marx-thread, aber das thema ist in der bisherigen kommunikation auch enthalten)

  • @SeBu Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, ist halt einfach Bullshit (und theoretischer humbug). Marx hat das auch nie so eng gesehen. Und dann wird mir Theoriegefasel vorgeworfen 🤦🏻‍♂️ Utan dreht es sich auch gerade so, wie er will. Jedes Kind weiß, dass tausend Sachen von tausend Sachen abhängen, das ist einfach eine Binsenweißheit. Wenn man es etwas akademischer Ausdrücken will, kann man von mir aus den Begriff von Althusser dafür benutzen: Überdetermination. Aber Althusser ist, was Theorie angeht, up in outer space.

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