Kapitalismus

  • AlienObserver Marx hat die Ideologie der Bourgeoisie und den damaligen Wirtschaftswissenschaften daran kritisiert, dass sie etwas partikuläres universalisieren. D. h. dass sie den Kapitalismus als etwas darstellen, das es schon immer gegeben hat (obwohl das nicht richtig ist). Diese Universalisierung von etwas Partikulärem, ist bei Marx ein Merkmal der Ideologie der Bourgeioisie, und diese Ideologie sieht man heute noch in den Wirtschaftswissenschaften. In der Anthropologie ist das Thema schon seit hundert Jahren vom Tisch; Kapitalismus existiert erst seit einem sehr kurzen Zeitraum und ist etwas völlig neues, dass es so gesellschaftlich und kulturell noch nie gegeben hat (das ist der Konsens in der Anthropologie).


    Marx kritisiert auch (da kommen wir zu meiner Frage) die in der bürgerlichen Gesellschaft propagierte Ideologie von Freiheit und Gleichheit. Es zwar stimmt, dass, vom Gesetz her, der Arbeitsvertrag von zwei gleichen und freien Parteien geschlossen wird (der Arbeitnehmer ist kein Leibeigener oder Sklave mehr),

    in der materiellen Realität aber, bleibt dem Proletarier nichts anderes übrig, als dem Arbeitsvertrag zuzustimmen, da es ein Machtgefälle zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gibt und da der Arbeitnehmer, ohne Arbeitsvertrag, einem elenden Leben und Hunger ausgesetzt ist. Das Machtgefälle ist aber nicht zufällig, sondern nach Marx im Kapitalismus systematisch. Ideologien sind immer auf einer Seite wahr und auf der anderen Seite falsch.


    Nach Marx ist die Ideologie von Freiheit und Gleichheit selbst ein Faktor in der Entstehung der Ungleichheit und von Zwang. Das heißt, die Ungleichheit und der Zwang sind produktiv in der Realität wirksam mit dem Effekt, dass sie selber an der Verkehrung der in ihr verkörperten Ideologie mitwirkt.


    Die normativen Ideen sind nicht nur noch nicht vollständig verwirklicht, sie sind in ihrer Verwirklichung verkehrt (verkehrtes Bewusstsein). Nicht nur sind daher Freiheit und Gleichheit Ideen, die gesellschaftlich wirksam geworden sind und sich in Institutionen zementiert haben. Ihre Wirksamkeit besteht, aus systemischen Gründen, auch darin, sich in ihrer Verwirklichung gleichsam selbst zu untergraben (wieder Verkehrung).

    Im Kapitalismus ist es nicht so, dass Freiheit und Gleichheit nur ideologisches Gefasel ist, sie sind in einer gewissen Weise real, in dem Sinne, dass sie unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktion wahr sind, verdreht aber dennoch wahr. Gleichzeitig werden aber neue Formen von Ungleichheit und Ausbeutung generiert.


    Die systemische Widersprüchlichkeit von Ideologie und der von ihnen durchsetzten materiellen Praxis ist es, die sich schließlich als falsches Bewusstsein darstellt. Es ist aber ein falsches Bewusstsein, das sich als notwendig herausstellt, weil es Teil der Reproduktion der kapitalistischen Warenwirtschaft ist. Ansonsten würde es den Kapitalismus nicht geben. Ideologien sind also immer zu einem Teil wahr und zu einem anderen falsch.


    Diese vermittelnde Position bei Marx mit dem Beispiel der Ideologie der Freiheit und Gleichheit, löst vielleicht dein Problem von Trennung des Kapitalismus und seiner Ideologie (Kapitalismus ist Realität, Neoliberalismus ist Fiktion).

  • wisst ihr warum das bei den 68 er nicht geklappt hat. sie schrieben zwar über das proletariat aber di art wie sie das schreiben nimmt doch niemanden der angesprochenen mit.


    so gehts mir auch hier . das ist nur anstrengend zu lesen. von denen die es lesen sollten oder mitbekommen scheibt niemand so.


    studenten werden niemals eine arbeiterbewegung anführen und ezu einer besseren gemeinschaft. weil sie viel zu wenige hören wollen.


    wäre es nichtmal zeit Marx zitate in die gegenwart zu übersetzten?

  • @JonnyMadFox Willst du etwa sagen, dass die Antwort Dialektisch ist :)

    Klar warum nicht. Wenn es hilft, die Perspektive zu erweitern 👍 Die dialektische Methode eignet sich für Analysen des Kapitalismus ja gerade deswegen, weil es immer diese zwei Ebenen gibt (z. B. Tauschwert und Gebrauchswert). Aber Foucault finde ich auch interessant, habe mich aber mehr mit seiner Diskursanalyse (der junge Foucault) beschäftigt und mit seinen weniger philosophischen Schriften (z. B. Geburt der Klinik). Der Unterschied von Foucault und Marx liegt darin, dass Marx eine essentialistische Theorie hat, d. h. Klassengesellschaft existiert wirklich, es gibt eine menschliche Natur ect.. Bei Foucault entsteht sowas aus gesellschaftlichen Diskursen und hat vor allem keinen "wirklichen" Kern.

  • Anstatt zu jammern, könntest du auch mal sagen, was du nicht verstanden hast. In der Diskussion ging es auch nicht darum, eine Revolution anzuzetteln, sondern um Neoliberalismus, Marx, Foucault und die ganzen Sachen. Nicht jeder Text, den ich schreibe, hat das Ziel, den average Joe abzuholen. Wieso wird das immer angenommen? Über den Rest kann man reden.


    studenten werden niemals eine arbeiterbewegung anführen


    Deswegen nennt man sie auch Studenten und nicht Arbeiter.

  • Anstatt zu jammern, könntest du auch mal sagen, was du nicht verstanden hast. In der Diskussion ging es auch nicht darum, eine Revolution anzuzetteln, sondern um Neoliberalismus, Marx, Foucault und die ganzen Sachen. Nicht jeder Text, den ich schreibe, hat das Ziel, den average Joe abzuholen. Wieso wird das immer angenommen? Über den Rest kann man reden.


    studenten werden niemals eine arbeiterbewegung anführen


    Deswegen nennt man sie auch Studenten und nicht Arbeiter.

    ehlich.. ich kann das kapital nicht lesen. mir fehlt es an allem um das zu verstehen. und wenn man experten hört dann klingt das ähnlich.

    hier ist es ja ein austausch auf augenhöhe bei euch. mir fällt es schwer. und dem proelatiat (dazu gehöre ich= glaube ich auch.


    habe das wohl falsch verstanden mit den arbeitern aller länder vereinigt euch.

    liegt an mir . verstehe nicht alles.

  • Es gibt "Schummeltexte". Niemand muss das Kapital lesen.

    z.B:


    Cover

    ist aber auch vermessen meine schwächen und Unzulänglichkeiten auf das ganze Proletariat auszuweiten. eigentlich bin nur ich zu blöäd. danke für den link

  • ist aber auch vermessen meine schwächen und Unzulänglichkeiten auf das ganze Proletariat auszuweiten. eigentlich bin nur ich zu blöäd. danke für den link

    Neee. Das Problem ist wahrscheinlich nicht, dass du nicht in der Lage wärst, das zu verstehen. Das Problem ist nur deine eigene Einstellung dazu. Ich habe erst Hauptschulabschluss gemacht, dann real, dann Abitur usw.. Als ich noch in der Hauptschule war, habe ich ständig oben drauf gekriegt. Alles, was ich gemacht habe, war falsch, meine Noten haben mich auch einen Dreck interessiert und so wurde mir das auch vermitttelt.


    Mein ganzes Leben wurde mir gesagt, entweder indirekt oder direkt, dass ich zu nichts taugen würde und sowie zu dumm bin (immer im Vergleich zu meiner Schwester). Irgendwann war ich dann zufällig im Internet auf eine der Stack-Exchange (Frage - Antwort) Platformen. Dort hab ich die Beiträge eines gewissen Ron Maimons gelesen (sind jetzt noch verfügbar). Der Typ war zwar schon seit seiner Geburt ein Genie (Physik Abschluss von Stanford, hat den berühmten Harvard Math 55 Kurs ohne Mühe bestanden und war Tutor dort), er hatte aber in jedem Fachgebiet bei Stack-Exchange eine enorme Kompetenz und fast immer die höchste Punktzahl für die beste Antwort (kein Dummschwätzer). Er hat sich alles über Physik, Mathe, Biologie, Literaturwissenschaft, Religion usw. selbst beigebracht. Er hat es selbst mit dem Physik Nobelpreisträger für Physik Geradus T' Hooft aufgenommen in einer Debatte zu einer Frage bei der Physik-Platform dort. T'Hooft hat darauf sein Paper nochmal überarbeitet. Publiziert hat er selbst (Ron) über theoretische Biologie. Er ist komplett unbekannt in der Welt der Wissenschaften. Seine Attitude hat mich am meisten fasziniert. Die Antworten, die er auf den Platformen geschrieben hat, waren nicht nur normale und richtige 0/8/15 Antworten. Er hat praktisch den conventional wisdom komplett auf den Kopf gedreht, immer eine Perspektive gefunden, auf die niemand sonst gekommen ist. Und alles hat er sich selbst beigebracht.


    Das hat mich damals enorm beeindruck und ich habe mir damals geschworen, dass es kein Fachgebiet gibt, das ich mir nicht auch selbst beibringen kann. In der Zeit habe ich mir dann, bis zu einem gewissen Grad, Quantenphysik und Stringtheorie beigebracht (bei null in der Physik angefangen), obwohl ich mein Leben lang in Mathe in der Schule 4-5 hatte. Seit der Zeit habe ich neben den normalen und beruflichen Sachen, die ich mache, immer ein Projekt laufen. Z. B.eine Zeit lang habe ich mir programmieren selbst beigebracht oder z. B. versucht Marx zu verstehen, bis es mir zu einem bestimmt Punkt gereicht hat und mein Wissen bis jetzt ausreicht, um unbekannte Konzepte oder Texte von Marx schnell zu verstehen.


    Man sollte neue Sachen, die man aus eigenem Antrieb lernen will, am besten so lernen, dass man die Grundkonzepte verstanden hat (weil man kann im Leben ja nicht alles lernen, daher muss man sich auch begrenzen). Im Moment versuche ich, soweit es geht und bis es mir genug ist, Hegel zu verstehen. Immer jeden Tag ein bisschen, Stück für Stück. Oder auch z. B. Wirtschaftswissenschaften oder auch Foucault oder Wissenschaftstheorie, oder auch Latein oder Französisch (blöde Vokabeln ;)). Immer ein bisschen jeden Tag (je nach Zeit und Laune, so verliert man auch nicht die Motivation). Der Punkt an der Sache ist eben, dass jeder Mensch Potenzial hat, solange dieses Potenzial aus einer intrinsischen Motivation heraus kommt (nicht wie bei der Lohnarbeit über Zwang oder Geldanreize). Viele Leute akzeptieren ihre "Ungebildetheit" leider auch immer so. Z. B. meinen sie "ach das thema ist viel zu kompliziert, bin dumm geboren und werde dumm sterben." Dabei haben sie es noch nichtmal versucht zu verstehen, in ihrem eigenen Tempo ohne Druck. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder, alles lernen kann, es ist nur eine Frage der Zeit.

    Ein Tipp, den ich dir dabei geben kann:

    Benutze bei deinen Recherchen extensiv das Internet (und natürlich auch Bücher). Das Internet ist voll von Erklärungen zu egal welchem Thema. Je mehr Erklärungen du liest (also zu dem Thema, Konzept ect. das dich gerade interessiert), umso besser. Weil jeder Autor eine andere Erklärung hat, mal schwieriger, mal einfacher. Irgendwann geht dir dann ein Licht auf und du hast es verstanden, dann weiter zum Nächsten. Du musst auch Bücher nie ganz lesen, einfach nur die Stelle, die das Konzept erklärt, also auch selektiv lesen (PDFs, Artikel, Journals, Blogbeiträge, YouTube Videos, oder auch persönlich bei Discord, wo du Leute fragen kannst, Facebook Gruppen sind auch oft nützlich).


    Von daher: Es soll sich hier bloß niemand einbilden, er könnte irgend etwas nicht lernen. Das Klassensystem festigt sehr oft auch die Ansicht, dass Beruf und Bildung irgendwie vorgegeben wäre und mal halt einfach "dumm" ist und sich mit allem abfinden muss.

  • Ein Proletarier ist einfach ein Arbeitnehmer. Der Kapitalist ist der Arbeitgeber. (es gibt noch breitere oder engere definitionen, aber diese definition ist alltagstauglich). Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben entgegengesetzte Interessen (z. B. die Höhe des Lohns oder Arbeitszeit). Da wir in einer Gesellschaft leben, in der Lohnarbeit (Arbeitnehmer arbeitet für Arbeitgeber) die Regel ist, drehen sich viele Dinge insgeheim um die entgegengesetzten Interessen dieser zwei Gruppen. Das ist die Theorie von Marx, grob zusammengefasst.

    @nase

  • Falls es jemanden interessiert (und als Beweis, dass ich mir diese Geschichte nicht aus dem Arsch gezogen habe). Das ist der Account von Ron auf stack-exchange:


    https://stackexchange.com/users/2949908/ron-maimon


    Auf Quora hatte er auch einen aktiven Account:


    https://www.quora.com/profile/Ron-Maimon


    (man kann alle seine antworten lesen, bei beiden platformen, bei stack-exchange über "aktivity")


    Er wurde bei beiden Platformen gebannt.

    Bei Quora steht auch sein Text dazu. Wie bei jedem Genie, hat er aber auch eine kleine Macke. Irgendwann ist er auf die Verschwörungsschine gelangt. Seine Antworten zu Naturwissenschaft sind aber, wie seine Antworten bei den Stack-Exchange Platformen beweisen, nach wie vor richtig und haben immer sehr viele up-votes bekommen und Kommentare bekommen, besonders wenn er mit seinen Antworten den conventional wisdom auf den Kopf gestellt hat (ka wie ich es anders ausdrücken soll).

  • @nase keine Sorge, ein Problem bei diesen Texten hier ist auch, dass sie Fachbegriffe auf eine ganz bestimmte Art und Weise meinen, die aber manchmal eine andere Bedeutung haben können je nach Autor. Gerade die Klassengesellschaft, Klassenkampf usw. ist so universal.

    Oder Kapitalismus, den es im alten Griechenland schon gab unter einem anderen Namen:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Chrematistik


    Gleichzeitig ist der Kapitalismus trotzdem jung, weil zB. erst seit 1600 er wirklich zum Thema wird und die Welt, wir als breite Bevölkerung, davon was merken. Davor haben die meisten Menschen eher von Subsitenzwirtschaft gelebt, also so Bauern mit einem Bauernhof aufm Dorf. In der Antiken gab es sogar noch Sklaven dazu. Und Gott hat gesagt, wie die Welt aussah und auszusehen hatte....Da war die Welt noch iO....

  • Ein Proletarier ist einfach ein Arbeitnehmer. Der Kapitalist ist der Arbeitgeber. (es gibt noch breitere oder engere definitionen, aber diese definition ist alltagstauglich). Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben entgegengesetzte Interessen (z. B. die Höhe des Lohns oder Arbeitszeit). Da wir in einer Gesellschaft leben, in der Lohnarbeit (Arbeitnehmer arbeitet für Arbeitgeber) die Regel ist, drehen sich viele Dinge insgeheim um die entgegengesetzten Interessen dieser zwei Gruppen. Das ist die Theorie von Marx, grob zusammengefasst.

    @nase

    Diese Aufteilung zwischen Proletarier und Kapitalist/Bourgeois wird in der modernen Soziologie auch immer wieder gerne problematisiert, aber im groben stimmt sie. Man arbeitet 8 Stunden und der Unternehmer bekommt seinen Mehrwert (den man erwirtschaftet).


    Der Punkt ist, wenn du ein Laden besitzt, dann machst du nicht so viel Geld und arbeitest wahrscheinlich auch selbst und dann bekommst du auch den Mehrwert. Das ist zB. so ein Fall, wo man andere Kategorisierungen vornimmt. Hier kann man sagen: aber du musst dann für dein Geld arbeiten und jeder der für sein Geld arbeitet und von seiner Arbeit also lebt, ist Proletarier, weil ein Proletarier hat nichts anderes als seine Arbeit zu verkaufen. (das ist so inetwa die Definition des P von Marx )


    Dann wurde von Richard David Precht mal angesprochen: Wo landen eig die Hart4-Empfänger rein? Die arbeiten nicht und kriegen Geld .... usw.


    Oder was ist mit dem Staat an sich? bekommt der nicht auch was von meinem hart erwirtschafteten Lohn und Mehrwert? Marx oder eher die linken haben ein sehr zwiespältiges Verhältnis zum Staat. Der Staat sorgt dafür, dass keine Revolutionen ausbrechen durch sein Gewaltmonopol: sobald Häuser besetzt werden, kommt die Polizei, Militär usw. um das Eigentumsrecht des Hauseigentümers durchzusetzen. Gleichzeitig sorgt der Staat nicht nur für bessere Arbeitsbedinungen, Krankenversicherungen, Pension usw. sondern auch für bessere Lebensbedingungen wie Feuerwehr, Infrastruktur usw.


    Marx selbst hat in seinen Analysen diese Kategorisierung zwischen Oben und Unten meist noch konkretisiert und abgefeinert je nach Umständen und Kontexten. Es ist eben sehr grob und meist stimmt sie oder eher: die ist gut genug um die Dynamik zu erklären, die zwischen zB. arm und reich entstehen. In der Tat ist so sogar unser heutiges politsches links-rechts-Schema aufzuschlüsseln: Arbeiter sind links, Unternehmer sind rechts.

  • Utan ich meinte damit erstmal die Ideologie des Neoliberalismus.

    Aber wie überwindet man den Neoliberalismus, ohne den Kapitalismus insgesamt in Frage zu stellen, wenn neoliberale Ideologie eigentlich nichts anderes tut, als eine "wissenschaftliche" Legitimation für die kapitalistische Vermarktung der Gesellschaft zu liefern, und ihr mit dem marketplace of ideas einen hehren Zweck unterschiebt, der (innerhalb der systemischen Logik einer kapitalistischen Marktwirtschaft) moralisch deutlich weniger angreifbar erscheint, als die bloße Geldvermehrung der Kapitalisten?


    Die allgemeine Vermarktung fand immerhin schon lange vor den ersten Zusammenkünften der Mt. Pelerin-Society statt und wurde bereits zu Marx' Zeiten unter den ökonomischen und politischen Eliten in England als eine quasi natürliche Entwicklung, oder jedenfalls nicht ausreichend genug als untragbares moralisch-ethisches Problem angesehen, um der kapitalistischen Dynamik eine harte politische Grenze zu setzen.

    Marx spottet nicht umsonst über die "doppelt freien" ehemaligen LandarbeiterInnen, denen es nach Beendigung der Leibeigenschaft und der daraufhin erfolgten privaten Landnahme zwar frei stand, ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen, die aber gleichzeitig auch von jeglichem alternativen Mittel zur Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisses nach sicherer Unterkunft, Kleidung und Nahrungsmitteln "befreit" und somit gezwungen waren, sich den privaten Eigentümern der Produktionsmittel gegen Lohn anzudienen, um sich die nötigen Tauschmittel zum Erwerb von Gebrauchsmitteln zu erarbeiten, welche sie nun nicht mehr selbst zu eigenen Gebrauch herstellen konnten.


    Die heutige parlamentarische Demokratie, bei der alle StaatsbürgerInnen formal das gleiche Recht und die gleiche Freiheit haben, mit ihren Wählerstimmen die jeweils passend erscheinenden politischen VerhandlungspartnerInnen der Lobbyverbände und Großkonzerne zu GesetzgeberInnen zu erheben, ist nicht das Ergebnis idealistischer staatstheoretischer Ideen, die von humanistischen und liberalen Philosophen ersonnen und dann demokratisch in Gesetzesrang erhoben wurden, sondern das Resultat von langwierigen und zum Teil blutigen Auseinandersetzungen zwischen der Arbeiterklasse und dem Kapital.


    Auch die viel gerühmte Soziale Marktwirtschaft™ war - genau wie der amerikanische New Deal - nicht das Ergebnis philosophiścher Überlegungen, sondern eine Folge klassenkämpferischer Kompromisse, welche die Arbeiterbewegung den Kapitaleigentümern unter Androhung von kollektiver Arbeitsverweigerung bis hin zu revolutionärer Gewalt vor der Drohkulisse des gerade noch überlebten Zivilisationsbruches im dritten Reich und der neu entstandenen sowjetischen Systemkonkurrenz abtrotzen musste

    .

    Heute, 75 jahre nach dem Ende des letzten großen Zusammenbruches, haben die westlichen Industriegesellschaften durch systematische Ausbeutung von Mensch und Natur im Rest der Welt ihren eigenen allgemeinen Lebensstandard im Vergleich zur Vorkriegszeit (und zum überwiegenden Rest der Weltbevölkerung) auf ein derart hohes Niveau anheben können, dass es den gemeinen LohnarbeiterInnen nicht mehr unmittelbar bewusst ist, dass auch sie weiterhin einen Teil ihrer Arbeitskraft als Mehrwert an ihre ArbeitgeberInnen abgeben, ohne dafür entlohnt zu werden.

    Der Preis der Arbeitskraft pro Zeit gilt nahezu widerspruchslos als Ergebnis des Wettbewerbs von Anbietern und Nachfragern auf dem Arbeitsmarkt. Sie hat keinen eigenen Wert mehr. Selbst die Höhe von Mindestlöhnen orientiert sich nicht an einer gesellschaftlichen Wertschätzung der individuellen Leistung, sondern sie ist ein politischer Kompromiss auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen internationaler Wettbewerbsfähigkeit und Nachfragestabilisation auf dem Binnenmarkt.


    Was den Gewerkschaftern, Sozialisten und Kommunisten früherer Generationen noch völlig klar war und sie zu Streiks und Aufständen veranlasste: die simple Tatsache, dass kein Unternehmen Arbeitsplätze schafft, wenn es ohne sie genau so viel Gewinn machen könnte, und dass es daher offenbar einen direkten Zusammenhang zwischen Lohnarbeit und Profit geben muss, gilt selbst linksliberalen BildungsbürgerInnen heute als ewig-gestrige, fortschrittsfeindliche Haltung, mit der sich nur noch alte SED-Kader, dogmatische MarxistInnen, oder realitätsferne TräumerInnen beschäftigen.


    Der Waren- und Geldfetisch hat das Bewusstsein der Marktsubjekte von der Beziehung ihrer eigenen Arbeit zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse soweit abstrahiert und pervertiert, das es ihnen als völlig selbstverständlich vorkommt, auf ihre Funktion als human ressources, als Produktionsfaktor Arbeit, als mikroökonomische Rechengröße in der Wertschöpfungskette reduziert zu werden und den Wert ihrer individuellen Leistung nicht anhand ihrer tatsächlichen Nützlichkeit selbst zu bemessen, sondern ihn anhand von Tauschwerten messen zu lassen, die sie zum Erwerb von Gebrauchswerten benötigen.

    Das Geld und die Waren die sie dafür bekommen, sind scheinbar naturgemäß der Kitt, der das arbeitende mit dem arbeitgebenden und das kaufende mit dem verkaufenden Individuum verbindet. Der Markt ist zum scheinbar alternativlosen Instrumentarium des gesellschaftlichen Zusammenhaltes geworden. Bricht er zusammen, dann zerbricht auch die Gesellschaft.


    Das meiste davon ist nichts neues und es ist auch nicht das Resultat von vierzig Jahren politisch angewandter neoliberaler Ideolgieproduktion. Es war schon im England des mittleren neunzehnten Jahrhunderts eine erkennbare Begleiterscheinung der kapitalistischen Industriegesellschaft. Der Neoliberalismus hat es lediglich besser verschleiert und einen noch effizienteren Verblendungszusammenhang in den Köpfen der Gesellschaftsmitglieder installiert, als es das kapitalistische System und seine ideologischen Apologeten unter den klassischen Liberalen zuvor bereits vermochten.


    Wenn man heute den Aussagen neoliberaler Ökonomieprofessoren, Philosophen oder Politologen folgt, dann reden sie in der Öffentlichkeit eigentlich nie davon, dass der Staat die Märkte vor zu viel demokratischer Einflussnahme durch das gemeine Volk und seine irrationalen Bedürfnisse schützen müsse, sondern sie verkleiden das in eine deutlich weniger negativ erscheinende Forderung nach staatlicher Setzung positiver ökonomischer Anreize. Dafür ist mittlerweile leider auch das linksliberale Spektrum bis tief in DIE LINKE und die Grüne Partei hinein hoch empfänglich.


    Dabei sorgt jeder positive Markt-Anreiz, der das Verhalten der Marktsubjekte in eine gewünschte Richtung lenken soll, zwangsläufig dafür, dass damit auch ein neuer Weg eröffnet wird, um privates Kapital zu akkumulieren, noch mehr Geld aus Geld zu machen und damit noch mehr ökonomische Macht anzuhäufen.

    Ohne Aussicht auf zusätzlichen Profit reizt es keinen Investor, sein Geld in irgendetwas zu investieren, es sei denn der Staat verleidet ihm andere Investitionen, indem er sie z.B. deutlich höher besteuert oder sie gleich ganz verbietet. Damit setzt die Politik dann allerdings aus (neo)liberaler Sicht negative Anreize. Das propagandistische Framing von "nanny state", über "Verbotspartei" bis hin zur Beschwörung eines antidemokratischen Angriffes auf das "Grundrecht" des Indidviduums, mit seinem privaten Eigentum und seinem hart vedienten Geld ja wohl tun und lassen zu können, was es selbst für richtig halte, schreibt sich in den PR-Abteilungen der Konzerne, ihrer Denkfabriken und ihrer politischen Verbündeten quasi von selbst, wann immer PolitikerInnen einen zaghaften Ansatz zu strengerer Regulierung im Dienste des Gemeinwohles erkennen lassen.


    Gleichzeitig hat es der ideologische Überbau des kapitalistischen Verwertungszusammenhanges dem abhängig beschäftigten wie dem unternehmerischen Marktsubjekt schon von Kindesbeinen an ins Hirn gesetzt, dass es ein/e freie/r, mündige/r BürgerIn zu sein habe und dass jegliche Form von staatlicher Freiheitsbeschneidung über den Schutz des Eigentums und der öffentlichen Ordnung hinaus nicht nur abzulehnen, sondern - wie die Geschichte ja gezeigt habe - dass es sogar seine staatsbürgerliche Pflicht sei, gegen solches Unrecht aufzustehen und sich z.b. im Demokratischen Widerstand™ zu organisieren.


    Natürlich verkommt das schöne politikwissenschaftliche Ideal von der wehrhaften Demokratie so zu einer Farce, zu einem Possenspiel, bei dem die demokratie eigentlich gegen sich selbst kämpft und bei dem am Ende niemand mehr weiß, wer eigentlich "die Guten" und wer "die Bösen" sind, während alle Beteiligten dennoch der festen Überzeugung anhängen, jeweils auf der richtigen Seite zu stehen und gegen die falsche Seite zu kämpfen.

    Die Einzigen die daraus am Ende gestärkt hervor gehen sind diejenigen, denen die Idee von Demokratie und Mitbestimmung bei der Durchsetzung ihrer ökonomischen oder machtpolitischen Interessen schon von je her ein Dorn im Auge war.

    Ich behaupte, dass der gegenwärtige Streit um die Corona-Maßnahmen diesen Irrsinn absolut exemplarisch abbildet.


    Will man diesen immergleichen Kreislauf durchbrechen, dann kann man nicht bei einem Endprodukt der kapitalistischen Ideologieproduktion anfangen, sondern man muss dem Problem auf den eigentlichen Grund gehen und es radikal an der Wurzel bekämpfen, indem man den Ideologie-Produktionsprozess als Resultat der materiellen Produktionsverhältnisse offenlegt, die ihn antreiben und die ohne ihn keinen Bestand hätten.


    Und das muss man dann als politische Linke leider vor allem denjenigen begreifbar machen, die ihre Abhängigkeit von diesen Verhältnissen am stärksten internalisiert und akzeptiert haben, weil ihnen (scheinbar) gar keine Alternative dazu bleibt, als sich in ihnen als AnbieterInnen ihrer Arbeitskraft ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und denen radikale Kritik an jenen Verhältnissen von (und in) denen sie abhängig sind, wie ein Angriff auf ihre eigene Freiheit erscheint, obwohl sie eigentlich ihre Befreiung bewirken soll.

  • Dann wurde von Richard David Precht mal angesprochen: Wo landen eig die Hart4-Empfänger rein? Die arbeiten nicht und kriegen Geld .... usw.

    Auch Proletariat:

    Die Kriterien, nach denen Karl Marx diese gesellschaftlichen Klassen bestimmte, sind nichts weiter als ihre jeweiligen Eigentums-verhältnisse und die daraus abgeleiteten Einkommensquellen. Diese sind durch die spezielle Arbeitsteilung einer Gesellschaft bestimmt. Nach dieser rein ökonomischen Bestimmung gehören zunächst alle zur Lohnarbeiterklasse, die keine Existenzmittel (Produktionsmittel) besitzen außer ihrer Arbeitskraft und daher von ihrer Arbeit leben müssen.


    Es sind Menschen, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt“. K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 468.


    https://marx-forum.de/marx-lex…kon_k/klassenanalyse.html


    Das Karl Marx Lexikon von dem Betreiber des Karl Marx Forum, kann ich sehr empfehlen.

  • Aber wie überwindet man den Neoliberalismus, ohne den Kapitalismus insgesamt in Frage zu stellen ...?


    Aber warum sollte man das tun, das sage ich doch gar nicht (Bin noch nicht durch muss das aber schonmal loswerden).


    Was ich sage ist: Es genügt leider nicht die Institutionen des Kapitalismus wie das Geldsystem, die Börse oder die Investmentbanken zu stürzen oder ein Bürgergeld einzuführen. Aber man sollte das auf jeden Fall tun.


    Man muss sich der Ideologie in den Köpfen selbst stellen und den Menschen klar machen, dass z.B: Arme nicht an ihrer Armut Schuld sind sondern dass Armut ein System hat das Arme arm hält. Oder dass nicht jeder nur darauf aus ist, den anderen zu übervorteilen, sondern solidarisch ist (usw.). Sonst fürchte ich hat man dadurch nicht viel erreicht.


    Natürlich müssen wir dazu den Kapitalismus in Frage stellen, aber eben dadurch, dass man die Ideologie angreift.

  • Neoliberalismus beenden wäre dann, denke ich, zurück zur einer keynesianischen Wirtschaftsordnung wie in der Nachkriegszeit mit hohen Investitionen des Staates und viel Wirtschaftspolitik, die die Nachfrage ankurbelt. Aber wie genau das funktionieren soll, ist fraglich aus sehr vielen Gründen. Ich denke, es kann nur noch vorwärts gehen. Entweder folgt die nächste Diktatur oder ein totalitäres autoritäres Wirtschaftssystem oder halt wirklich etwas jenseits des Kapitalismus.


    Marx war auch der Auffassung, dass Zentralisierungsprozesses wie Bildung von Monopolen, auch eine gute Seite haben. Weil man am Ende praktisch nur noch diese zentralisierte Struktur angreifen muss, ein deutliches Ziel existiert.


    Ich kann Artikel aus der Nachkriegszeit vom Archiv des Spiegel empfehlen. Sehr interessante Artikel findet man da. Die Gewerkschaften hatten damals noch ein sehr gutes Verhältnis zu Politikern der SPD (Willy Brandt und Co.) und auch viel Einfluss.


    https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2020.html

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