AlienObserver Marx hat die Ideologie der Bourgeoisie und den damaligen Wirtschaftswissenschaften daran kritisiert, dass sie etwas partikuläres universalisieren. D. h. dass sie den Kapitalismus als etwas darstellen, das es schon immer gegeben hat (obwohl das nicht richtig ist). Diese Universalisierung von etwas Partikulärem, ist bei Marx ein Merkmal der Ideologie der Bourgeioisie, und diese Ideologie sieht man heute noch in den Wirtschaftswissenschaften. In der Anthropologie ist das Thema schon seit hundert Jahren vom Tisch; Kapitalismus existiert erst seit einem sehr kurzen Zeitraum und ist etwas völlig neues, dass es so gesellschaftlich und kulturell noch nie gegeben hat (das ist der Konsens in der Anthropologie).
Marx kritisiert auch (da kommen wir zu meiner Frage) die in der bürgerlichen Gesellschaft propagierte Ideologie von Freiheit und Gleichheit. Es zwar stimmt, dass, vom Gesetz her, der Arbeitsvertrag von zwei gleichen und freien Parteien geschlossen wird (der Arbeitnehmer ist kein Leibeigener oder Sklave mehr),
in der materiellen Realität aber, bleibt dem Proletarier nichts anderes übrig, als dem Arbeitsvertrag zuzustimmen, da es ein Machtgefälle zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gibt und da der Arbeitnehmer, ohne Arbeitsvertrag, einem elenden Leben und Hunger ausgesetzt ist. Das Machtgefälle ist aber nicht zufällig, sondern nach Marx im Kapitalismus systematisch. Ideologien sind immer auf einer Seite wahr und auf der anderen Seite falsch.
Nach Marx ist die Ideologie von Freiheit und Gleichheit selbst ein Faktor in der Entstehung der Ungleichheit und von Zwang. Das heißt, die Ungleichheit und der Zwang sind produktiv in der Realität wirksam mit dem Effekt, dass sie selber an der Verkehrung der in ihr verkörperten Ideologie mitwirkt.
Die normativen Ideen sind nicht nur noch nicht vollständig verwirklicht, sie sind in ihrer Verwirklichung verkehrt (verkehrtes Bewusstsein). Nicht nur sind daher Freiheit und Gleichheit Ideen, die gesellschaftlich wirksam geworden sind und sich in Institutionen zementiert haben. Ihre Wirksamkeit besteht, aus systemischen Gründen, auch darin, sich in ihrer Verwirklichung gleichsam selbst zu untergraben (wieder Verkehrung).
Im Kapitalismus ist es nicht so, dass Freiheit und Gleichheit nur ideologisches Gefasel ist, sie sind in einer gewissen Weise real, in dem Sinne, dass sie unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktion wahr sind, verdreht aber dennoch wahr. Gleichzeitig werden aber neue Formen von Ungleichheit und Ausbeutung generiert.
Die systemische Widersprüchlichkeit von Ideologie und der von ihnen durchsetzten materiellen Praxis ist es, die sich schließlich als falsches Bewusstsein darstellt. Es ist aber ein falsches Bewusstsein, das sich als notwendig herausstellt, weil es Teil der Reproduktion der kapitalistischen Warenwirtschaft ist. Ansonsten würde es den Kapitalismus nicht geben. Ideologien sind also immer zu einem Teil wahr und zu einem anderen falsch.
Diese vermittelnde Position bei Marx mit dem Beispiel der Ideologie der Freiheit und Gleichheit, löst vielleicht dein Problem von Trennung des Kapitalismus und seiner Ideologie (Kapitalismus ist Realität, Neoliberalismus ist Fiktion).