#668 - Soziologe Steffen Mau

  • Dienstag (24.10.) ab 17 Uhr LIVE



    Zu Gast im Studio: Steffen Mau, Soziologe und Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Mau gehört seit 2021 zum Sachverständigenrat für Integration und Migration.


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  • Es gibt Stand 2022 eine 61% Zustimmung für Abtreibung in fast allen Fällen(all/most). 37% Abtreibung illegal in fast allen Fällen.

    https://www.pewresearch.org/re…blic-opinion-on-abortion/


    Fragen:


    Wie erklären Sie sich die "Polarisierung" in den USA?


    Meint "Polarisierung" denn nicht, dass beide Seiten extremer werden? Wo sehen Sie das bei den Demokraten?


    Wie kann man von "Polarisierung" in den USA sprechen, wenn doch offensichtlich die GOP eine Politik gegen die Mehrheit führt? (Siehe Abtreibung, Voting Rights, Gerry Mandering, LGBTQ-Rechte, , Klima, für die Politik der GOP gibt es keine Mehrheit)


    Ist es nicht irreführend von "Polarisierung" zu sprechen, wenn das eigentliche Problem die Radikalisierung der GOP ist?



    Kritik am Narrativ "Polarisierung"

    https://thomaszimmer.substack.…llure-of-the-polarization


    https://thomaszimmer.substack.…icas-elites-love-to-decry

  • Die Politik der GOP (oder halt der republikanischen Partei) richtet sich explizit an die Teile der US-Amerikanischen Gesellschaft, die einem fundamentalistischen Christentum anhängen und die Abtreibung als großes Problem sehen. Und das sind nicht wenige, wenn auch nicht die Mehrheit, aber sie reichen als politische Kraft. Die Mehrheit der Leute in den USA haben eher sozialdemokratische Einstellungen, ähnlich wie die Leute in Deutschland. Aber die GOP erreicht diese Leute halt nicht, weil die GOP Politik für die Reichen und Konzerne macht ;) Deswegen ist die Wahlbeteiligung in den USA auch so niedrig. Nur die "radikalen" gehen wählen.


    Zu der Frage, warum die Leute nicht wirklich gegen das System aufbegehren.


    https://de.wikipedia.org/wiki/…nishierarchie?wprov=sfla1



    Das ist die Maslowsche Bedürfnispyraminde. Je weiter unten das Bedürfnis ist, umso wichtiger ist es. Ganz unten sind die physiologischen Bedürfnisse. Also Essen, Trinken usw. Danach kommt das Bedürfnis nach Sicherheit. Erst wenn die grundlegenden Bedürfnisse gestillt sind, werden für den Menschen danach die weiter oben kommenden wichtig.


    Damit könnte man vielleicht die Aparthie der Leute gegenüber Wandel erklären


    Weil schaut man sich mal die Situation der Meisten an: Die Leute sind so eingenommen von Arbeit und vor allem auch von prekären Arbeitsverhältnissen mit geringen Löhnen und Unsicherheit über ihren Arbeitsplatz. D. h. sie leben in ständiger Angst, dass sie ihre grundlegenden Bedürfnisse nicht decken können. Das lenkt sie davon ab, die Befriedigung höherer Bedürfnisse wie z. B. Soziale oder Selbstverwirklichung zu fordern.


    Was interessant ist: In der Nachkriegszeit gab es eine Wirtschaft, in der die grundlegenden Bedürfnisse gedeckt waren. Die Löhne waren hoch und der Arbeitsplatz war aufgrund der Vollbeschäftigung und dem strengen Kündigungsschutz sehr sicher. In den 60igern und 70igern gab es ja dann diese Aufstände und Revolten, wo die Leute eben diese höhere Bedürfnisse hatten wie z. B. soziale Bedürfnisse oder Selbstverwirklichung. Allgemein sagt man, dass post-materialistische Werte wichtig wurden, also man nicht mehr nur hohe Löhne und sichere Arbeitsplätze gefordert hat.


    Wenn man jetzt ein bisschen fies ist, könnte man sagen, dass die Politiker und die Unternehmerklasse aus den Aufständen in dieser Zeit gelernt haben und wir deswegen immernoch die 40 Stunden Woche (und mehr) und diesen Arbeitswahn und die prekarisierung von Arbeit haben. Aber es ist schwierig, da Intention zu beweisen. David Graeber in Bullshit-Jobs hat ein bisschen was dazu geschrieben.


    Aber wie gesagt, man landet da schnell bei Verschwörungstheorien. Ähnlich ist es auch bei anderen Dingen:


    - Die Infrastruktur heutzutage ist stark auf den Automobilverkehr ausgerichtet. Die engen Wege und engen Straßen verhindern, dass sich größere Menschenmassen zusammenfinden können. Ein spontaner Aufstand ist also allein schon wegen der Infrastruktur schwierig. Man könnte sich fragen, ob das absichtlich so gewollt ist.


    - Fernsehen und heutzutage Smartphones lenken von sozialer Interaktion ab. Menschen verbringen einen riesigen Teil ihrer Zeit mit diesen Geräten. Das ist Vorteilhaft für die Erhaltung des status-quo. Weil die Menschen dadurch weniger miteinander Kontakt haben und weniger auf die Idee kommen, über ihre Probleme zu reden und sich gemeinsam zu organisieren. Es gibt immer dieses zwei Komponenten-System. Der Mensch und der Fernseher, der Mensch und sein Smartphone. Könnte man auch überlegen, ob das gewollt ist.


    Noch irgendwas wollte ich dazu schreiben, aber ist mir jetzt entfallen. Vielleicht fällts mir später wieder ein.


    Also wie gesagt, bei den letzten Punkten ist es halt schwierig zu zeigen, ob das bewußt so hergestellt wurde. Aber was es auf jeden Fall macht, es erhält den status-quo.


    Was die extreme Vermögens- und Einkommensungleicheit angeht: Das wird wohl noch interessant werden. Weil es gibt ja zahlreiche historische Arbeiten dazu, dass Umverteilung nur nach Katastrophen wie Weltkrieg, Pandemie (hatten wir ja mit Corona, aber haben wir ohne größere Probleme gehandelt, mehr oder weniger, und die Reichen wurden ja noch reicher) und Revolutionen passiert ist. Mal sehen, was es diesmal sein wird. Vielleicht sowas wie Zivilisationskollaps oder so.

  • Vielleicht hilft es euch beiden, wenn man feststellt, dass das Buch nicht nur in eurer Filterbubble existiert, sondern durchaus ein "breiteres" Publikum erreicht hat. Ich fand es im Nachhinein etwas schade, dass Tilo in dem Mau-Interview eigentlich kaum auf den Buchinhalt eingegangen ist.

    Danke für den Hinweis. Das Interview ist mir tatsächlich entgangen.


    Zum Buchinhalt:

    "Demobilisierte Klassengesellschaft

    Welches Gesamtbild ergibt sich nun angesichts dieser verschiedenen Puzzleteile? Geht die »Rückkehr der Ungleichheit« mit klassengesellschaftlichen Bewusstseinsformen oder gar einer Intensivierung entsprechender Konflikte einher?


    Wir beobachten in unserem empirischen Material ein insgesamt paradoxes Muster, bei dem eine ausgeprägte Ungleichheitskritik und ein generelles »Unbehagen an Ungleichheit« durch eine relative Zufriedenheit mit der eigenen Lage, durch Meritokratieglauben, moralisierte Anspruchskonkurrenz und individuelle Investitionsstrategien konterkariert wird.

    Hier scheint eine gewisse – schon früher diagnostizierte – »Erschöpfung der utopischen Energien« (Jürgen Habermas)92 des Wohlfahrtsstaates zum Ausdruck zu kommen, die den demokratischen Klassenkampf lähmt. Dass sich mit ihm viele Probleme lösen ließen und dass das Gleichheitsziel durch Umverteilung erreichbar sei, glaubt nur noch ein Teil der Bevölkerung.


    Ein solcher Befund lässt sich durch die Brille von Klaus Dörres These der »demobilisierten Klassengesellschaft« weiter ausbuchstabieren.93 Dabei geht es um die Entpolitisierung der Klassenfrage, die Schwierigkeiten der Organisation kollektiver Interessen sowie die Intensivierung horizontaler Konkurrenz und Distinktion zwischen lohnabhängigen Fraktionen (wie beispielsweise den Prekären und der Facharbeiterschaft).

    Als wichtige Einflussgröße ist die Veränderung politischer Rahmenbedingungen zu benennen: Der Verlust von Machtressourcen in Form abnehmender gewerkschaftlicher Organisation, aber auch die politische Demobilisierung und die Zerfaserung von Milieus sorgen dafür, dass entsprechende Spannungen zwar erlebt, aber nicht klassenförmig ausgetragen werden.


    Die Diagnose der demobilisierten Klassengesellschaft konstatiert den Bruch eines zentralen Transmissionsriemens des »demokratischen Klassenkampfes«, der eben auch darauf aufbaute, dass den ökonomischen Verlierern der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in Form von Parteien und Gewerkschaften wirksame politische und organisationale Einflussmöglichkeiten für Systemkorrekturen zur Verfügung standen.

    Gewerkschaften haben im Lauf der Zeit nicht nur immer mehr Mitglieder verloren, sondern zugleich an sozialer Inklusivität eingebüßt, da statusschwache Gruppen und kleine Einkommensbezieher dort heute eine geringere Rolle spielen.94 Gewerkschaftliche Mobilisierung wird zudem offenbar immer seltener als effektives Mittel der Marktkorrektur und der kollektiven wie individuellen Einkommensverbesserung wahrgenommen. Tatsächlich werden die Gewerkschaften in den vielen Stunden unserer Gruppendiskussionen nur ein einziges Mal erwähnt – und bei der Gelegenheit für ihre Ineffektivität kritisiert. Der schleichende Verfall korporatistischer Arbeitsmarktinstitutionen und die nachlassende Durchsetzungsfähigkeit von Arbeitnehmerorganisationen werden von einem relativen Bedeutungsverlust der industriellen Arbeiterschaft als Wählergruppe begleitet.95


    Empirische Studien verweisen auf ein starkes Gefälle in den Durchsetzungschancen sozialer Gruppen: Es gibt einen politischen Einflussbias zugunsten der Bessergestellten und zugleich eine überproportionale Wahlabstinenz bildungsferner und einkommensschwacher Schichten.96 Die Mobilisierung dieser Gruppen gelingt immer weniger. Darüber hinaus hat das Schrumpfen der Arbeiterklasse die elektorale Basis umverteilender Politik geschmälert, so dass sich linke Parteien auf andere Wählerschaften und Unterstützergruppen ausrichten müssen, um politisch nicht ins Abseits zu geraten.97 Sie sind heute gezwungen, viel stärker auch andere, statushöhere Gruppen anzusprechen. »Neue«, nicht mehr mit der männlichen Industriearbeiterschaft verbundene soziale Risiken stehen auf der Agenda, redistributive Politiken verlieren tendenziell an Bedeutung.98 Fortbestehende und neue ökonomische Unzufriedenheiten bahnen sich nun auch anders ihren Weg und bescheren unter anderem populistischen Parteien Zulauf.99


    Diese Entwicklung wird von den Bürgerinnen durchaus registriert. So klagt der ostdeutsche Berufsschullehrer Ludwig:


    "Früher gab es immer den Kampf der Arbeiterklasse gegen das Kapital. Und heutzutage sind wir in einer Konsumgesellschaft, wo das in den Medien keinen interessiert. Wir werden zugeschüttet mit jedem möglichen Scheiß, der uns interessieren soll. Aber dass es einem Großteil von denen, die Arbeit leisten […], halt schlecht geht und die in die Altersarmut kommen, das wird halt gar nicht ausreichend thematisiert. […] Und dann wird es erst wieder interessant, wenn irgendein Populist ans Ruder kommt. Und dann heißt es: »Ach du je!«"


    Gartenbauer Kevin pflichtet bei:


    "Der Otto Normalverbraucher, der erkennt Probleme, die andere in der Höhe in der Politik gar nicht erkennen. […] [Aber] es ist sehr schwierig, was zu ändern. Im Endeffekt sind ganz oben erst mal Politiker, Wirtschaftsbosse […]. Ich habe da wenig Hoffnung, sagen wir mal so."


    In einer für statusschwache Gruppen typischen Figur wird die Gesellschaft hier als dichotom in ein Oben und ein Unten geteilt wahrgenommen.100 Wirkliche Handlungsmacht kommt dabei nur den wenigen »Politikern und Wirtschaftsbossen« am obersten Ende zu.

    Vom Kampf der Klassen zur Konkurrenz der Individuen

    Was lässt sich aus diesen Befunden für die Konfliktstruktur in der Oben-Unten-Arena lernen? Erweisen sich die oberen Gruppen als Verteidiger des Status quo und die unteren als die Trägerschichten von Ungleichheitskritik und Umverteilungsforderungen, die sich als Klassenspannungen auch politisch entladen können?


    Unsere Antwort lautet: Trotz der zunehmenden Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, trotz einer Erbschaftswelle, die nur wenige Strände erreicht, trotz der Diagnose einer mobilitätsblockierten Gesellschaft und trotz der Ausweitung von Beschäftigungszonen mit geringen Einkommen ist von einem Wiederaufbrechen offen ausgetragener Klassenkämpfe im Deutschland der Gegenwart wenig zu spüren. Beim verteilungspolitischen Konflikt ist die Klassenspezifik der Einstellungen eher schwach bis moderat ausgeprägtund läuft bisweilen auch den Erwartungen diametral entgegen, wenn etwa die statusschwachen Gruppen Umverteilungsskepsis erkennen lassen.


    In Abbildung 3.3 fassen wir das Material der Fokusgruppendebatten noch einmal zusammen. Wir tragen hier einige der wichtigsten argumentativen Repertoires zusammen, mit denen in der Oben-Unten-Arena um Kritik und Legitimation von Ungleichheiten gerungen wird.

    Wie wir gesehen haben, wird der Wohlfahrtsstaat als Sicherungsinstanz gegenüber Lebensrisiken unisono unterstützt. Zudem existiert eine breit geteilte Ungleichheitskritik, für die das Bild der aufklappenden »Schere zwischen Arm und Reich« paradigmatisch ist. Diese Kritik wird allerdings durch moralisch grundierte Deservingness-Unterscheidungen und einen weitverbreiteten Meritokratieglauben relativiert. [...]"


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    Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: Triggerpunkte - Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023, S. 111-115

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