#660 - Nahostexperte Michael Lüders

  • Wie in jeder anderen aktuellen talkShow hatte auch hier der Interviewer dem nichts gescheites entgegenzusetzen.

    Nur seine Haltung.


    Eine Haltungs hält die russische Tötungsmaschine nicht auf. Kompromisse können das.


    Eine Haltung klärt den Hergang der NS-Sabotage nicht auf. Ein UN-Untersuchungsausschuss kann das.


    Eine Haltung verändert die wirtschaftlichen Entwicklung nicht. Der Abbau von Sanktionen könnte das.


    Ist aus politischen Gründen alles unzulässig. So bleibt wütender Haltungsjournalismus.

  • Das lustige ist, dass In dem Interview eigentlich genau das passiert, worüber sich Lüders durchaus zu recht beklagt: man sucht in solchen öffentlichen Debatten nicht mehr nach gut durchdachten Begründungen für die eigenen Argumente, sondern nach moralischen Fehlern in der Argumentation des Diskussionsgegners. Wie er richtig sagt, ist es nicht grundsätzlich illegitim, einen moralischen Standpunkt zu vertreten, aber als Argument taugt die Moral eben nichts, wenn man sie nicht universell in jedem Fall gleichsam rigoros vertritt.


    Dass er kein Ukraine-, bzw. Osteuropa-Experte ist, sicher auch einiges übertreibt, bzw. nicht besonders tief durchdrungen hat, und aus einer eher einseitig amerikakritischen und NATO-konträren Position heraus argumentiert, könnte man auch sachlich diskutieren. Ihm daraus unbedingt den Strick "AfD-Nähe" drehen zu wollen ist schon einigermaßen albern, aber entspricht immerhin der vom linksliberalen Teil des deutschen Bildungsbürgertums nahezu einhellig geteilten Erzählung vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Fortsetzung des großen Kulturkampfes mit militärischen Mitteln - bis hin zum "Vernichtungskrieg" gegen die ukrainische Kultur und ihre nationale Identität.


    Was mir wirklich sauer aufstößt, ist der Versuch, aus Lüders' Verweis auf die knallharte Interessenvertretung der Staatsführung als althergebrachtem Primat nationaler Politik eine Vertretung von "Werten" zu machen, ohne dabei überhaupt mal zu hinterfragen, was so einen Staat und eine Nation überhaupt ausmacht, wie sie zustande gekommen ist, und was sie heute im globalisierten Spätkapitalismus noch zusammenhält. Irgendwann sagt Lüders dann mit Verweis auf Machiavelli, dass auch der "gute" Fürst in einer Welt der Niedertracht nicht immer gut sein kann.


    Lüders ist sicher kein linksradikaler Kapitalismus- oder gar Staatskritiker sondern eher ein alter Sozialdemokrat, der die Welt nicht mehr versteht. Aber immerhin hat er als solcher verstanden, dass keine Staatsführung der Welt sich einerseits auf die blau-gelb gefärbten Fahnen schreiben kann, überall auf dem Planeten für die Menschenrechte und die Freiheit einzustehen, und dabei andererseits die gesamte eigene kapitalistische Nationalökonomie von schwarzem auf grünen Kapitalismus umzustellen, wenn sie es sich dabei mit den privaten Kapitalgebern verscherzt, die damit ihren Profit machen müssen, damit der lohnabhängige Pöbel noch Arbeitsplätze hat und sich etwas zu Essen kaufen und seine Miete bezahlen kann.


    Statt ihm also einfachst gestrickte "gotcha"-Fragen nach der Priorität des Wirtschaftswachstums über die wertegeleitete Außenpolitik, oder nach seiner Beratertätigkeit für die private Wirtschaft zu stellen, hätte man ja mal der Frage nachgehen können, ob zwischen dem Anspruch führender Mitglieder unserer deutschen politischen (und publizistischen) Klasse, den Rest der Welt am wertebasierten deutschen Wesen genesen zu lassen, und dem - immer noch - enormen ökonomischen Wertschöpfungspotenzial des deutschen (und in Deutschland investierten) Kapitals nicht vielleicht ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, dessen Sachzwängen sich eine deutsche Spitzenpolitiker*in auch mit der strammsten moralischen Haltung nicht entziehen kann, so lange sie einer Staatsführung angehört, die eine Gesellschaft zu verwalten hat, in welcher die allgegenwärtige Konkurrenz sich bei der Erwirtschaftung des Bruttoinlandsproduktes einen Dreck um moralische Werte schert, und die nach außen in ebenso "niederträchtiger" Konkurrenz nicht nur mit ihren geopolitischen Widersachern, sondern auch mit ihren eigenen Wertepartnern steht.


    Das gilt natürlich gleichermaßen für die mafiöse Kamarilla, die den russischen Staat führt und noch viel mehr für die Regierung der Ukraine, deren nationale Ökonomie nicht erst seit dem russischen Angriff wie in keinem anderen europäischen Land davon abhängt, dass ihr das ausländische Kapital nicht ausgeht. Die Staatsräson wird weder dort im Kriegsgebiet, noch im Kreml, noch hier im sicheren Drittland von irgendwelchen kulturellen Werten oder einer höheren Moral bestimmt, sondern einzig und alleine davon, wie gut sich das nationale Geschäftsmodell im internationalen Wettbewerb behaupten kann. Alles was die Herrscher*innen der kapitalistischen Nationen sich selbst und ihren Bevölkerungen darüber öffentlich zurecht moralisieren ist pure Ideologie.

  • Nach Betrachtung des Interviews zwischen Tilo und Michael Lüders möchte ich meine Bedenken und Kritik zum Ausdruck bringen.


    Ein gutes Interview sollte die Chance bieten, tief in die Gedanken und Ansichten des Interviewpartners einzutauchen. Einem Interviewer obliegt die Verantwortung, objektiv und neutral zu agieren. Bei diesem Gespräch schien Tilo jedoch eher in der Rolle eines "Advocatus Diaboli" zu agieren, wobei er den Eindruck erweckte, Michael Lüders' Expertise und Ruf in Frage stellen zu wollen.


    Die Resonanz aus der Community war unübersehbar. Der Live-Chat, die Kommentarspalte auf YouTube und zahlreiche Forenbeiträge haben das Unbehagen vieler Zuschauer gegenüber der Interviewführung zum Ausdruck gebracht. Statt die profundierten Einblicke eines Experten wie Michael Lüders zu schätzen und zu ergründen, lag der Fokus scheinbar darauf, ihn mit Schwarz-Weiß-Fragen zu konfrontieren, die nicht der Komplexität seiner Themen und Kenntnisse gerecht wurden. Ein Paradebeispiel dafür war die Fragestellung bezüglich des Irans und ob Michael Lüders sich wünscht, dass es dort zu einem Regimewechsel kommt. Durch diese Fragestellung wurden kaum die Nuancen und Tiefen der realen politischen Landschaft von dort berücksichtigt.


    Es ist bedauerlich, dass bei einem solchen Gespräch die Chance verpasst wurde, wirklich tiefgreifende Einblicke in den Nahen Osten und die globalen politischen Dynamiken zu gewinnen. Mehr noch, es schien fast so, als ob der Hauptzweck des Interviews darin bestand, den Gast in eine Ecke zu drängen und nicht, ein bereicherndes Gespräch für die Zuschauer zu führen.


    Abschließend hoffe ich, dass zukünftige Interviews mit mehr Respekt und Offenheit geführt werden und man sich daran erinnert, dass das Hauptziel darin bestehen sollte, Wissen zu teilen und zu erweitern, anstatt den Gast in Frage zu stellen oder zu diskreditieren.

    Jedes Volk hat seinen eigenen Begriff von Gut und Böse.

    Fjodor Michailowitsch Dostojewski

  • Dass Tilo Lüders anpackt wie jeden anderen spricht doch für ihn. Wenn Storch oder Melnyk in die Zange genommen werden wird gejohlt, aber sich über ein "hier wurde die bubble nicht richtig bespielt" zu echauffieren spricht Bände. Lüders war aber einfach schon besser, fachlich und in der B-Note (bei der Frage nach seinen Beraterjobs wäre er fast entgleist).

    Sein neuestes Buch klang trotzdem interessant, leider wurde der Titel verschwiegen, also das mit der norwegischen Agentin.

  • Dass Tilo Lüders anpackt wie jeden anderen spricht doch für ihn. Wenn Storch oder Melnyk in die Zange genommen werden wird gejohlt, aber sich über ein "hier wurde die bubble nicht richtig bespielt" zu echauffieren spricht Bände. L

    Du denkst also Lüders bewegt sich auf einer Stufe mit Storch und Melnyk?!


    Wie wärs wenn er Lüders anpackt wie alle anderen Experten die er sonst einläd?


    PS;


    Selbst beim Melnyk Interview gabs diese konstante passiv aggressive Art der Interviewführung nicht.

  • Muss sehr weh tun zu erleben, wie Lüders sich entblößt hat. Kann ich verstehen.

    Nein, in der Tat war die Art der Interviewführung schmerzhaft zu erleben. Es gibt Aspeke an Lüders die sehr interessant sind. Und ebenso Aspekte, die man kritisch, aber konstruktiv diskutieren darf.


    Aber das war, wie mehrere User hier schon, leider zu recht, attestiert haben, ein Tiefpunkt in der J&N Geschichte. Das hatte in der Tat zwischendurch Lanz Charakter. Traurig.

  • Lüders kommt jetzt auch nicht gerade mit neuen Ideen oder einer besonders tiefen Analyse daher. Kommt mir eher vor als ob er die ganzen mainstream Narrative in seinem Buch bündelt. Glaube nicht, dass man irgendwas nicht schon tausendmal wiederholtes erfährt, wenn man sein Buch liest. Eher sehr oberflächliches. Aber ich hab das Buch nicht gelesen und werde es auch nicht lesen.

  • Ist euch eigentlich mal aufgefallen, dass „Wollt ihr, dass Ukraine gewinnt?“ in etwa so swingt wie „Wollt ihr den totalen Krieg?“?.

    Sorry Roy aber das ist doch Quatsch.


    Den "totalen Krieg" hier bei uns und mit uns wollen unsere politischen Führungskräfte und das entsprechend geneigte Expertentum dies- und jenseits des Atlantiks ja gerade nicht.

    Die wollen, dass "die Ukrainer" das Gemetzel für "unsere" #Freiheit schön bei sich im Land behalten. Der "zweite Hitler" (W. Selenskyj) soll dieses mal besiegt werden, ohne dass "wir" dafür wieder Millionen von wertvollen Fachkräften verheizen müssen.

  • Sorry Roy aber das ist doch Quatsch.


    Den "totalen Krieg" hier bei uns und mit uns wollen unsere politischen Führungskräfte und das entsprechend geneigte Expertentum dies- und jenseits des Atlantiks ja gerade nicht.

    Die wollen, dass "die Ukrainer" das Gemetzel für "unsere" #Freiheit schön bei sich im Land behalten. Der "zweite Hitler" (W. Selenskyj) soll dieses mal besiegt werden, ohne dass "wir" dafür wieder Millionen von wertvollen Fachkräften verheizen müssen.

    Ja eben. Und doch soll der korrekte Bürger dieses Gelöbnis ablegen. Wohlwissend, dass es im besten Fall ein irrationaler Fiebertraum ist. Gegen jede faktische Grundlage. Es ist ja gerade dieses offene Bekenntnis zum Wahnsinn, das in Rage gefordert wird und darüber bestimmt, ob man noch Teil der guten, reinen Gesellschaft ist oder ob man mit seinen Argumenten ausgeschlossen gehört. Totaler Wirtschaftskrieg, totaler Krieg … zunächst müssen ja erstmal die Köpfe total drauf sein. Und dieses total bekloppte Interview, in dem diese Frage auch genauso gestellt wurde, ist ein Zeitzeugnis, dass diese blinde Rage, die offensichtlich auch die Besten von uns befallen kann, dokumentiert.


    Ich würde hier auf jeden Fall immer sofort die Gegenfrage stellen: „Willst du den totalen Krieg?“


    … denn letztendlich läuft es mit dieser unversöhnlichen, eindimensionalen Bekenntnisfrage total darauf hinaus.

  • Also ich stimme Dir - und Herrn Lüders - ja darin zu, dass da eine Menge irrationales Zeug in den führenden Köpfen und im verblödeten Kommentariat auf Twix und in den Qualitätsmedien herum spukt. Aber dass die einen "totalen" Krieg möglicherweise riskieren, liegt ja nicht daran, dass sie ihn selbst wollen, sondern daran, dass sie sich felsenfest in den Kopf betoniert haben, der dämonische Russenhitler werde ihn ganz bestimmt anfangen, wenn man ihn nicht gleich an der Ostfront vernichtend schlägt.


    Im Zweifel muss man immer davon ausgehen, dass unsere politischen Anführer*innen - und ihre medialen BegleitmusikerInnen - alle nicht so klug sind wie sie selbst und ihre treuen AnhängerInnen es glauben, und dass die eigentlich nur so tun, als hätten sie einen Plan und ein klares Ziel vor Augen, damit den Fans nicht auffällt, dass sie eigentlich nur fast blind auf Sicht in einer Nebelwand herum stochern.

  • Marner

    Verstehe in etwa, was du meinst. Doch das Melnyk-iVIew bestach genau dadurch, dass TIlo ihm lediglich neutral anbot, zu einem kritischen Punkt Stellung zu beziehen. Er wurde vor eine Weggabelung gestellt und konnte sich aussuchen, ob und wo er lang laufen möchte. Und Melnyk lief. Genau diese Fairness vonseiten TIlo gepaart mit der Freiwilligkeit Melnyks wurde von allen goutiert und gab dem Ganzen die Wirkmacht, die nur schwer folgenlos bleiben konnte.


    Sternstundeninterview.


    Im Gegenzug war das hier ggü Lüders eine Mission mit Vorführcharakter. Der Antrieb dazu ist imo einfach nachzuvollziehen, ich unterstelle mal - Lüder's "nerviger" Populärhaltung im gefühlten AfD- Pöbelmeinungsband soll was entgegensetzt werden. Also quasi ein Erziehungsauftrag, der eigentlich nach dem Format Appell oder Unterricht verlangt, hier aber in Form eines iViews gelöst werden muss.


    Folgerichtig kippt das Ganze fix in eine Art Minesweeper und man muss einem zunehmend gestressten Protagonisten anstatt beim gelassenen Austausch ala Melnyk nun beim Lauf durch ein Minenfeld zuschauen. Der Diskussionsfluss bricht ab, es geht entlang der Zeitachse vor allem darum, das Minenfeld immer wieder neu zu bestücken.


    Das hat dann vor allem zum Ergebnis, dass "Zuschauer" umgehend mit dem so Interviewten fraternisiert.


    Erinnert ein bisschen an das Ringen um GlobalSouth wo man vor allem dadurch überzeugen möchte, dass man im Ernstfall sprechunfähig ist und lieber Minesweeper spielt.

  • 👍🏼 stark analysiert. Leider analysiert das JN Team das selbst ganz anders. Zumindest scheint Hans in den YT Kommentaren das Melnyk Interview als Referenz zu benutzen, um dieses hier zu rechtfertigen.

  • Im Zweifel muss man immer davon ausgehen, dass unsere politischen Anführer*innen - und ihre medialen BegleitmusikerInnen - alle nicht so klug sind wie sie selbst und ihre treuen AnhängerInnen es glauben, und dass die eigentlich nur so tun, als hätten sie einen Plan und ein klares Ziel vor Augen, damit den Fans nicht auffällt, dass sie eigentlich nur fast blind auf Sicht in einer Nebelwand herum stochern.

    Gut möglich. Und eben darum halte ich eine Appeasementhaltung gegenüber diesen Irren für brandgefährlich. Ihnen muss unbedingt ganz klar entgegengetreten werden. Mit einer klaren Sprache, die aufzeigt, auf welchem Pfad sie sich befinden.

  • leie

    Das seh ich gerade nicht. Wie oft musste Tilo Lüders denn einfangen, damit der auf Fragen antwortet und nicht einfach erzählt was er sich an Textbausteinen zurecht gelegt hat? Der hatte keinen Bock an eine Weggabel herangeführt (interviewed) zu werden, der wollte wie in seinem youtube channel was erzählen, im Sinne eines Vortrages, auf Tilos Reichweite (gut die 10fache) natürlich.


    Die "Zuschauer", die du selbst schon in Gänsefüßchen setzt sind die bubble die ich meinte, für mich hat sich Lüders eher ins Knie geschossen.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!