Interessanter Text von Frank Rieger:
Erschöpfte Überforderung als Zeitgeist - Und wie es danach weitergeht.
Es gibt die Legende vom chinesischen Fluch "Mögest Du in interessanten Zeiten leben!". Vor einer Weile habe ich endlich verstanden, was damit eigentlich gemeint ist: "Interessante Zeiten" sind Zeiten, in denen der Inhalt der Abendnachrichten unmittelbare Relevanz für den eigenen Alltag hat. In den letzten Jahrzehnten konnten die meisten Menschen ganz gut damit durchkommen, die große Politik und das Weltgeschehen weitgehend zu ignorieren. Wenn irgendwas wirklich wichtig war, bekam man es schon mit. Heute sind die Nachrichten konkret alltagsrelevant. Die große Welt ist in das kleine Leben eingebrochen. Nicht ab und zu mal in Form von dieser oder jenen isolierten großen Krise, sondern jede Woche, jeden Tag.
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Große Ereignisse außerhalb der eigenen Beeinflussbarkeit bestimmen, was man heute besser tun oder lassen sollte – je weniger Wohlstand und sozialen Status jemand hat, desto stärker. Noch schnell volltanken oder impfen. Klopapier bevorraten. Zeit für Lebensmittel-Sonderangebotsjagd aufwenden, weil das Geld sonst nicht reicht. Diese oder jene Beihilfen beantragen, solange der Pool noch nicht erschöpft ist. Überlegen, was man tut, falls es doch Blackouts oder Gassperren gibt usw. usf.
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Viele Menschen sind davon überfordert. Niemand sollte das übel nehmen. Mit existenzieller (nicht nur oberflächlicher oder artifizieller) Instabilität, Chaos, Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit gut umzugehen, ohne verrückt und aggressiv zu werden, ist nicht nur mental aufwendig sondern auch emotional belastend.
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Die letzten Jahrzehnte mit relativer Sicherheit und Stabilität in den wohlhabenden Ländern des Westens waren wahrscheinlich eine geschichtliche Anomalie. Sich einzugestehen, dass die Zeiten “interessant” sind, dass wir es in unser Lebenszeit vermutlich nicht mehr bis zum Startrek-Replikator-Kommunismus schaffen werden, ist ein nötiger erster Schritt, um irgendwie klarzukommen.
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Aber: Vielleicht hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass auch in instabilen, “interessanten”, düsteren Zeiten – sowohl heute als auch in der Vergangenheit – viele Menschen geschafft haben, gute Leben zu leben und etwas dafür zu tun, dass die große Welt und das kleine Leben besser wurden. Die mentalen und emotionalen Fähigkeiten dafür aufzubauen, mit schneller Veränderung gut umzugehen, Resilienz gegen immer neue bedrohliche Widrigkeiten zu entwickeln und dabei auch noch Spass zu haben, wird Kraft, Solidarität und Zeit brauchen.
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