Das Volk: eine furchtbare Abstraktion
"[...] Dem Verdacht, gar der verlautbarten Kritik daran, als Volk würde man sich glatt diktieren lassen, welche gesellschaftlichen Beziehungen man eingeht; man ließe sich vorschreiben, ob und wie man mit seinen Zeitgenossen einen wechselseitigen Nutzen zustande bringt, und dass die einen zum Be- und Ausnutzen anderer ermächtigt sind; man würde von seiner Herrschaft gründlich in Arm und Reich sortiert, etc.: solchen sozialkritischen Einwänden gegen die Leistungen der hoheitlichen Gewalt wissen die Stimmen des Volkes nicht minder schlagend entgegenzutreten. Die ‚Realität‘ von Herren und Knechten, Hütten und Palästen, Elend und Reichtum streiten sie gar nicht ab; umgekehrt: Jeder ‚soziale Missstand‘ beweist ihnen die Notwendigkeit einer Herrschaft, die sich seiner Betreuung und Bewältigung annimmt.
Völker denken sich ihre ‚Lebensbedingungen‘ eben gerne ohne deren Urheber – um diesen zur Abhilfe von Übeln aller Art zu ermächtigen. Das lassen sich Reichsfürsten wie moderne Parteivorsitzende nicht zweimal sagen und rufen, argumentativ unterstützt von zeitgenössischen Aufklärern aus der Intelligenzia, das ultimative Staatsprogramm aus: Herrschaft ist dazu da, der Not zu steuern, mit deren Zustandekommen sie nichts zu tun hat! Dafür wird sie gebraucht![3] [...]
Andererseits kommt kein Volk, das in unverbrüchlicher Einheit zu seiner Obrigkeit steht, daran vorbei, immer wieder Bilanz zu ziehen und zu prüfen, was die Führung aus seinen Mühen und Opfern macht. Patrioten leiden nie Mangel an schlechten Erfahrungen, die ihnen gleichermaßen Anlass und Recht zur Kritik an der Herrschaft geben. Ihre ‚Identität‘ – das zeigen die Zeugnisse aus Geschichte und Gegenwart – brauchen sie dafür nicht zu verraten, wenn sie aufgrund ihrer Enttäuschungen die Mächtigen schlecht machen.
Die Einschränkungen und Lebensnöte, denen sie, ihren hohen Erwartungen an die sozialen Verpflichtungen ihrer Obrigkeit zum Trotz, unentwegt ausgesetzt sind, deuten sie nämlich nicht als deren Werk, sondern als Folge von deren Fehlern und Unterlassungen; die eigenen Entbehrungen entspringen nicht der Dienstbarkeit, auf die sich ein Volk einlässt, sondern deren falscher Bewirtschaftung durch die Mächtigen. Wenn Völker kritisch werden, ergänzen sie ihren ‚Realismus‘ – die Unterwerfung unter eine politische Gewalt ist einfach immer und überall fällig – um einen gestandenen Idealismus: Sie klagen gute Herrschaft ein; und mit dieser Forderung bestehen sie darauf, sich mit ihren Diensten an den Herren des Reichtums und denen der Macht des Gemeinwesens eine gute Behandlung verdient zu haben. Ganz als wären sie in der Lage und überhaupt willens, einen Preis dafür festzusetzen, dass sie sich benützen und regieren lassen und den Bedürfnissen ihrer Herren entsprechen. Der Preis, den sie kriegen, fällt gar nicht zufällig nie übermäßig hoch aus; denn er wird von der anderen Seite ermittelt und festgelegt. [...]"
Ich hab hier nie von "Volk" gesprochen 😅 Volk ist was anderes als Bevölkerung.