2/2
[...] Die Kränkung, mit den eigenen Problemen gesellschaftlich nicht genügend wahr-
genommen zu werden, findet sich auch bei gutverdienenden Beschäftigten und bei
solchen mit akademischer Bildung. Das Empfinden sozialer Abwertung kommt in
allen Lohnabhängigenklassen vor. Es speist sich aus dem gesamten Lebenszusammen-
hang. Ein Gewerkschaftssekretär beschreibt die Vielfalt der Motive, die zur Unter-
stützung rechtspopulistischer Parteien führen, treffend mit folgenden Worten: «Es ist
nicht einfach Angst, es ist eine Mischung von vielen Einflüssen, die Arbeitnehmer un-
zufrieden macht. Im Osten leben die meisten an Orten, aus denen man kommt, und
nicht in Städten, in die man geht. Man kann fest angestellt sein und verdient doch
nicht genug, um sich ein Leben leisten zu können, wie es die Medien als normal dar-
stellen. Viele haben das Gefühl, in einer prosperierenden Gesellschaft nicht mithalten
zu können, den Anschluss zu verlieren.
Für diese Probleme gibt es aber keine gesellschaftliche Öffentlichkeit. Arbeiter kommen
nirgendwo vor. Und dann kommen die Flüchtlinge und erhalten eine Aufmerksamkeit, die
man selbst nicht bekommt. Es gibt Investitionen, Lehrer, Personal für Sprachkurse und
berufliche Qualifizierung.
Das halten viele für ungerecht. Und deshalb ist es selbst für Betriebsräte und aktive
Gewerkschafter kein Widerspruch, sich aktiv an einem Arbeitskampf zu beteiligen
und gleichzeitig zur Pegida-Demonstration zu gehen.» (Gewerkschaftssekretär im Ge-
spräch mit d. Verf.)
Nicht nur im Osten, auch in Niederbayern und dem Ruhrgebiet empfinden Lohn-
abhängige das als Abwertung der eignen sozialen Position. In wohlhabenden Regi-
onen wie dem Ingolstädter Speckgürtel, wo es als besonderer Makel gilt, im Pros-
peritätszug nicht mitfahren zu können, stößt man auf ein ähnliches Lebensgefühl.
Selbstaufwertung mittels Abwertung anderer ist nicht die einzig mögliche, für rechts-
affine Arbeiter*innen aber eine subjektiv naheliegende Reaktion, an die der völkische
Sozialpopulismus politisch anzudocken vermag.
These 16: Anspruch demokratischer Klassenpolitik muss es sein, strukturelle und politische
Ursachen von Ungleichheit, Prekarität und sozialem Ausschluss klar zu benennen, um so
jegliche Vorstellung von homogenen nationalen Gemeinschaften zu destruieren. Starre Ent-
gegensetzungen von Identitäts- bzw. Anerkennungspolitik auf der einen und linkem Populis-
mus auf der anderen Seite sind für dieses Anliegen analytisch wie politisch kontraproduktiv
[...] Während die Linkspopulären für sich reklamieren, die deutsche Antwort auf Didier
Eribon zu sein, nehmen Anhänger*innen der Identitäts- bzw. Anerkennungspolitik
selbiges zum Anlass, den vermeintlichen Rückfall in klassenpolitischen Reduktionis-
mus und methodologischen Nationalismus öffentlichkeitswirksam zu destruieren.
Die Auseinandersetzung um die maßgeblich von Sahra Wagenknecht initiierte und
auf Bundesebene inzwischen gescheiterte (Nicht-)Bewegung «aufstehen» bietet ein
Musterbeispiel für medial verstärkte diskursive Verzerrungen.
Solche Streitigkeiten unter Linken sind – teilweise – ein Ausdruck von Interes-
sendivergenzen innerhalb und zwischen lohnabhängigen Klassen(-fraktionen). De-
mokratische Klassenpolitik bedeutet daher im ersten Schritt, den Angehörigen der
verschiedenen Lohnabhängigenklassen Deutungsangebote zu machen, die es ihnen
erlauben, als bewusst handelnde Klassensubjekte in soziale Konflikte zu intervenieren.
Nur dann vermag Klassenpolitik möglicherweise zu leisten, was dem bloßen Behar-
ren auf Vielfalt und Differenz aus dem Blick zu geraten droht. Statt wertebasier-
ten Zusammenhalt überzubetonen, muss darum gerungen werden, dem gerade bei
Arbeiter*innen verbreiteten Empfinden von sozialer Abwertung und Kontrollverlust
über den eigenen Lebenszusammenhang entgegenzuwirken, indem Streit, Konflikt
und Klassenkampf als Formen demokratischer Vergesellschaftung wiederentdeckt
und zu symbolischer Aufwertung von links benutzt werden.[...]
Abwertungserfahrungen gehen als besonderer Problemstoff in die Formierung des
rechtspopulistischen Blocks ein. Zum kulturellen Bindemittel können sie aber nur wer-
den, solange es an mobilisierenden, demokratisch-inklusiven Klassenpolitiken fehlt, die
den widersprüchlichen Charakter radikal rechter Politikangebote aufdecken und öffent-
lich nachvollziehbar machen. Denn es sind die vom marktradikalen Teil des rechtspo-
pulistischen Blocks favorisierten Rezepte (z. B. Europäischer Binnenmarkt ohne regu-
lierende europäische Institutionen), die, zur Anwendung gebracht, erzeugen, was sich
im Alltag von Lohnabhängigen als Ungleichheitserfahrung, kollektive Abwertung und
Kontrollverlust bemerkbar macht und durch rückwärtsgewandte Re-Vergemeinschaf-
tung kompensiert werden soll.
Demokratische Klassenpolitik hingegen zersetzt jegliche Vorstellung homogener nationaler Gemeinschaften. Sie fordert zu kollektiver Selbsttätigkeit auf, und sie verbindet, weil sie
letztendlich nur über ethnische, nationale und Geschlechtergrenzen hinweg erfolgreich sein
kann (Zwicky/Wermuth 2018; Candeias/Brie 2016; 2017). Anders als Voten für einen neuen Linkspopulismus (Mouffe 2018) kann sie darauf verzichten, Antagonismen ausschließlich im politischen Raum anzusiedeln und mithilfe eines an Carl Schmitt angelehnten Freund-Feind-Schemas zu begründen. Interessengegensätze und Antagonismen verortet sie in den (Klassen-)Strukturen realer Gesellschaften.
Eine vergleichende Forschung, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Lohnabhängigenklassen, deren Bewegungen und Kämpfen systematisch untersucht, könnte dazu beitragen, demokratischer Klassenpolitik ein wissenschaftliches Fundament zu bieten und Gegensätze innerhalb der Linken zu versachlichen.
These 17: Demokratische Klassenpolitik muss mit realen Klassenauseinandersetzungen
korrespondieren, diese intellektuell, konzeptuell und praktisch weitertreiben und ihnen
zu öffentlicher Resonanz verhelfen. Dergleichen geschieht gegenwärtig allenfalls punktuell
und völlig unzureichend. [...]"
_______________________________________________________
Klaus Dörre: Umkämpfte Globalisierung und soziale Klassen. 20 Thesen für eine demokratische Klassenpolitik. In: Demobilisierte Klassengesellschaft und Potenziale verbindender Klassenpolitik Beiträge zur Klassenanalyse (2). Rosa-Luxemburg-Stiftung - Manuskripte 23, Berlin 2019. S. 39-45 (-> PDF, S. 38-44)
(Es empfiehlt sich, den ganzen Text zu lesen, bevor man hier empört in die Tasten haut, aber vermutlich ist das Zitat schon zu lang.)
Dörre saugt sich das übrigens nicht aus den Fingern oder aus dem Archiv seiner sozialwissenschaftlichen Fakultät. Er und seine MitarbeiterInnen haben ziemlich ausführlich empirisch zum (teilweisen) Rechtsruck in der deutschen Arbeiterschaft geforscht und dabei nicht nur Statistik gemacht, sondern auch mit den Leuten direkt geredet und die Ergebnisse ihrer Studien in einem Buch veröffentlicht.
Hier erzählt er auch nochmal genauer davon was er dabei zu hören bekam, und wie er sich mit seinem Ansatz einer "demokratischen Klassenpolitk" sowohl von eher populistischen Link(ssoziademokrat)en wie dem BSW abgrenzt, als auch von den identitären Linken, die den Schwerpunkt auf die Identitätspolitik legen :
https://www.youtube.com/live/lQwZsby9zcQ?si=VP1POJMd4foO1vDh