Ökonomenbashing

  • Gesellschaftsutopien gemäss der eigenen Präferenzen durchsetzen wollen, also anderen den eigenen Willen aufzwingen, anstatt gesellschaftliche Realität als das Aggregat oder die Akkumulation selbstbestimmten Handelns freier Individuen zu erachten.
    Und regelmässig die Behauptung, dass Ökonomen Eigentum propagieren anstatt lediglich seine Effekte deskriptiv erläutern würden. Nein, Eigentum hat wenig mit Freiheit zu tun.

    Wo sagt Rosa denn, dass er sich eine Gesellschaftsutopie wünscht, in der anderen irgendein Wille aufgezwungen werden soll?


    Und wie frei und selbstbestimmt sind Individuen in einer Gesellschaft, deren ganzer Zusammenhalt und individueller Wohlstand darauf basiert, dass aus investiertem Geld mehr Geld gemacht wird, und in der Individuen, die über keine eigenen Investitionsmittel verfügen, dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um sich frei von sozialer Ausgrenzung, Obdachlosigkeit und Hunger zu halten?


    Und was aggregiert denn nach Ansicht des Verhaltensökonomen in dieser gesellschaftlichen Realität™ das selbstbestimmte Handeln der Vielen zum Zweck der Geldvermehrung für die Wenigen?

    Sind das Naturgesetze, oder ist es vielleicht das vom Staat mit Gesetz erzwungene, und notfalls mit Gewalt abgesicherte private Eigentum an den Mitteln zur geldwerten Warenproduktion, welches es seinen EigentümerInnen erlaubt, den Nicht-EigentümerInnen ihren Willen aufzuzwingen?


    Was kann die Verhaltensökonomie in einer kapitalistischen Warenwelt anderes empirisch erforschen, als das Verhalten von Marktsubjekten, denen man von Kindesbeinen an beigebracht und vorgelebt hat, dass sie sich dem Zweck des Gelderwerbs zu verschreiben, und sich gegenüber der Konkurrenz wettbewerbsfähig zu halten haben, wenn sie "frei und selbstbestimmt" leben wollen?

  • Verhaltensökonomie erforscht nichts. Allenfalls erforscht Verhaltensökonomik.


    Ahh, ein Sophist!


    Sehr gut. Endlich mal jemand, der sich auf die Kunst versteht, Polemische Kritik einfach dergestalt zu "entkräften", dass er sie auf die semantische Goldwaage legt.


    Was mir auch sehr gefällt, ist das Schwelgen im Allgemeinen, wo es eigentlich um Konkretes hätte gehen müssen. Das zeichnet nur die fähigsten Mitglieder der Ökonomenzunft aus!


    Mal sehen...

    Ich kann Dir nicht sagen, wo Hartmut Rosa gesagt hat, dass er sich eine Gesellschaftsutopie wünscht, in der anderen irgendein Wille aufgezwungen werden soll.
    Deine Frage überrascht mich.
    Hat er das tatsächlich?

    Ja das wäre eigentlich die Frage gewesen. Hat er das wirklich?

    Wie ich darauf komme, sie Dir zu stellen lässt sich natürlich nur nachvollziehen, wenn man zuvor von Dir zu lesen bekam...:

    Die Episode mit Hartmut Rosa hat mir gefallen. [...]
    Aber...

    ...dass Du Deinen Beitrag mit einem Lob der Episode mit Hartmut Rosa einleitest, um es dann allerdings mit einem "aber" zu relativieren, und zu einer allgemeinen Kritik an Soziologen anzusetzen, mit denen Du schlechte Erfahrungen gemacht habest.


    Das Ganze hast Du natürlich nicht in den Thread zu Hartmut Rosa geschrieben, sondern gleich einenen eigenen zum Thema "Ökonomenbashing" aufgemacht. Man kann nur vermuten, dass Du Dich als Verhaltensökonom mit 20 Jahren Berufserfahrung gebasht fühltest und daher den Drang verspürtest, im Gegenzug über Soziologen herzuziehen.


    Dass sich das Folgende dann möglicherweise auf Hartmut Rosa beziehen könnte, wird durch den Umstand nahegelegt, dass Du ihn Deinem kleinen Gegenangriff auf eine andere Sozialwissenschaftliche Zunft voran gestellt hast.

    Als Ökonom macht man mindestens genauso häufig umgekehrt schlechte Erfahrungen mit Soziologen:

    Freies Assoziieren, ohne realistische Vorstellung von Vereinbarkeit mit biologischen Gesetzmässigkeiten.
    Vermengung von Wissenschaft und Normativität.
    Unterstellung von Biologismus, obwohl unentwegt selbst der Naturalistische Fehlschluss gemacht wird.
    Viel, viel autoritärideologisches Gebaren. Gesellschaftsutopien gemäss der eigenen Präferenzen durchsetzen wollen, also anderen den eigenen Willen aufzwingen,

    Nun stellt sich die Frage, was Du mit diesem ganzen Thema bezwecken wolltest - denn offenkundig hast Du ja - anders als es die gewählte Thread-Überschrift suggerierte - gar nicht Deine eigene Zunft der Ökonomen verteidigt, oder gar ein ökonomisches Argument gemacht, sondern Dich einfach ganz generell über ein anderes Fach, bzw. dessen VertreterInnen - von denen es allerdings nur Herr Rosa zu einer namentlichen Erwähnung gebracht hat - ausgelassen.


    Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, als Du Dich ja im Folgenden ganz unschuldig wunderst, ob Du meine zugegebnermaßen provokanten Fragen nach den Erkenntnissen des Verhaltensökonomen, beziehungsweise der Verhaltensökonmieökonomik bezüglich der Gesellschaftlichen Verhältnisse - welche ja immerhin Gegenstand der soziologischen Forschung und Theorie sind - denn wohl auf Dich selbst beziehen sollest,...


    Bin mit dem "Verhaltensökonomen", von dem Du in der Dritten Person sprichst, ich gemeint? Oder liegt Deiner Frage ein stereotypisierter Verhaltensökonom zugrunde?

    ...ob ich hier also womöglich eine ungebührliche Verallgemeinerung vorgenommen hätte.


    Aber immerhin hast Du es auch hierbei vorzüglich verstanden, einfach gar nichts konkretes zu Deinem eigentlichen Fachgebiet zu äußern, sondern Dich darauf beschränkt, zu konstatieren,...

    Gesellschaften, die ausschliesslich kapitalistische Warenwelten sind, ohne Beimengung auch nur eines geringsten sozialistischen Elements, kenne ich nicht. Aber selbst wenn, so kann ich mir kaum vorstellen, dass es dort nur Menschen gibt denen in Abhängigkeit eines ganz bestimmten Willens beigebracht wird, sich Gelderwerb zu verschreiben und wettbewerbsfähig zu halten.

    ...dass Du gar keine Gesellschaften kennen würdest, die ausschliesslich kapitalistische Warenwelten seien. Was sich natürlich mit Deiner intialen Aussage deckt, dass gesellschaftliche Realität eigentlich gar nichts anderes sei, als...

    das Aggregat oder die Akkumulation selbstbestimmten Handelns freier Individuen

    ,...dass somit also jegliche kritische Befassung mit den diesem "selbstbestimmten" Handeln übergeordneten gesellchaftlichen Verhältnissen eigentlich gar keine Relevanz habe, oder - um es mal in Form von zünftigem Ökonomenbashing auszudrücken: - dass Dir offenbar die neoliberale Vorstellung vom Markt und seiner Marktwirtschaft als Vermittler zwischen jenen freien und selbstbestimmten Individuen, und als spontane, aus dem aggregierten individuellen Handeln der Marktsubjekte zustande gekommene Ordnung ohne konkreten Sinn und Zweck völlig ausreicht, um linke Systemkritik als Nonsens abzutun.

  • Die Verhaltenökonomie ist übrigens auch von der neoklassischen Dokrin durchdrungen. Nur geht man davon aus, dass die Konsumenten sich nicht immer rational verhalten. Schlechtestenfalls kann man daraus die Theorie drehen, dass der Markt immer richtig entscheidet und die Konsumenten dumm wie nur irgendwie möglich sind, unabhängig von der Meinung tatsächlich existierender Menschen oder Gesellschaft. Das öffnet dann den Weg zur Anti-Aufklärung und Parternalismus wie z. B. Nudging, was ja schon konkret von der Bundesregierung betrieben wird. Ist also eigentlich noch schlimmer als frühere Versionen der Neoklassik.

  • Und das lustige daran ist bei der Theorie:

    Die Verhaltenökonomen gehen davon aus, dass sich die Menschen nicht rational im Markt verhalten. Also was macht man? Man versucht die Menschen über nudging wieder ins Marktgleichgewicht zu bringen, damit sie sich wieder "rational" Verhalten. Weil einzig und allein das rational ist, was zum Marktgleichgewicht führt, also der Markt darüber entscheidet was rational ist und was nicht. Ob das die Menschen wollen oder nicht, spielt keine Rolle, weil der Markt halt entscheidet. crazy theory

  • Dass ich linke Systemkritik als Nonsens abtue, ist hoffentlich allenfalls eine vorsichtige Spekulation Deinerseits. Aber keine Behauptung. Sonst wäre ich geneigt Dir zu viel Fantasie zu unterstellen.

    Ob Du das ganz bewusst und aktiv als Nonsens abtust kann ich natürlich nicht beurteilen, da Du Dich hier ja - wie bereits erwähnt - nur im Allgemeinen ergehst, wo konkrete Kritik im Besonderen von Nöten gewesen wäre, um zur wahren Intention Deiner Einlassung vorzudringen.


    Aber dass Du die alte "liberale" Ökonomenbinse...

    gesellschaftliche Realität als das Aggregat oder die Akkumulation selbstbestimmten Handelns freier Individuen zu erachten

    ... - welche dereinst von der legendären britischen Premierministerin Margaret Thatcher mit der prägnanten Aussage...


    "[...] and who is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families and no government can do anything except through people and people look to themselves first."


    ...etwas volkstümlicher auf den Punkt gebracht wurde, nachdem sie F. A. v. Hayeks Road to Serfdom verinnerlicht hatte -, Deiner Behauptung von allerlei soziologischer, irgendwem als fremder Wille aufzuzwingender Gesellschaftsutopie als (verhaltens)ökonomischen Kontrapunkt gegenüberstellst, kommt eigentlich auf's Gleiche raus.

  • Ja, individualismus-, diversitäts- und pluralismusfeindlichen Kollektivisten ist das zu anstrengen.
    Mit Stereotypen lebt es sich leichter.
    Eine Gesellschaft als zusammenlebende Individuen zu begreifen, würde zu viel offenes Denken erfordern. Linkspolitischer Totalitarismus und autoritäre Ideologie vor diesem Hintergrund zu rechtfertigen, wäre zu aufwändig.
    Ideologen haben zumeist ein "Menschenbild". Naturwissenschaftler müssen hingegen mit Fliessgleichgewichten und Momentaufnahmen leben, weil Datensätze sich ständig ändern.

    Hmm... "Welche pluralismusfeindlichen Kollektivisten" haben hier denn "linkspolitische[n] Totalitarismus und autoritäre Ideologie" gefordert?


    Das erscheint dann doch als...

    [...] ziemlich absolute Aussagen, pauschal,


    Aber immerhin haben wir jetzt recht eindeutig geklärt, dass es Dir hier tatsächlich gar nicht darum ging, etwas gegen das fürchterliche, grassierende "Ökonomenbashing" zu verargumentieren, sondern einfach nur darum, die Erkenntnisse Deiner Zunft mit jenen der Naturwissenschaft gleichzusetzen, und sie damit ganz pauschal und grundsätzlich gegen Angriffe durch linke "Ideologen" und ihre ausgedachten Menschenbilder zu immunisieren.


    Mich als linker Ideologe und pluralismusfeindlicher Kollektivist freut das natürlich, weil Du damit genau das verkörperst, was an der gegenwärtigen Ökonomik und ihrem neoliberalen, anti-"kollektivistischen" Gesellschaftsbild aus linker Sicht so zirkelschlüssig und kritikwürdig ist.

  • Es bleibt Faszinierend.


    Aber dieses ideologische Menschenbild würde mich interessieren. Wo bekommt ma sowas vermittelt? - also jetzt außerhalb ökonomischer Akademien und Fakultäten, denn da geht es ja streng empirsch und logisch zu, wie bei richtigen Wissenschaften.

  • Das mag ja alles sein, aber was das alles mit Ökonomie zu tun hat ist mir jetzt trotz Deiner länglichen Ausführungen nicht ganz klar geworden.


    Was allerdings immer klarer zu werden scheint ist, dass Du offenbar "woke" mit "links" gleichsetzt und das Ganze dann hufeisenförmig mit "rechtsradikal" zusammenbiegst, weil ja beides totalitärer Moralchauvinismus und gefährliche Ideologie ist.


    Was Du offenbar - und da bist Du eben duch und Durch Vertreter Deiner Zunft - nicht wahrhaben willst ist, dass eine empirische Erfassung des momentanen gesellschaftlichen Ist-Zustandes völlig untauglich dafür ist, irgendeine verbindliche Aussage darüber zu treffen, was die Natur des Menschen als solcher sei, und wie er sich ganz generell verhalte, weil dabei statistisch überhaupt nicht erfasst ist, wie sich das nur in Gesellschaft überlebensfähige Wesen Mensch in anderen gesellschaftlichen Verhältnissen verhalten würde.


    Man kann diese ökonomische Betriebsblindheit aber natürlich sehr gut damit legitimieren, dass man einfach den Anspruch erhebt, sich gar kein Urteil darüber anmaßen zu wollen, wie eine andere Gesellschaft eventuell aussehen könnte, weil man sich ja gänzlich der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung verschrieben, und daher mit Ideologie ganz allgemein überhaupt nichts zu tun habe.


    Der gemeine linke Kritiker der politischen Ökonomie würde jetzt einwenden, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts gerade die ÖkonomInnen und ihre nüchternen Zahlenwerke sind, denen es obliegt, die herschende kapitalistische Ideologie als solche zu verschleiern und sie im Gegenteil als reinen Realismus und Pragamtismus zu legitimieren - dass die bürgerlichen Ökonomen also letztendlich nichts weiter täten, als blanken Idealismus zu betreiben, indem sie die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse als Ergebnis einer quasi-natugesetzlichen, spontanen Ordnung betrachten, die sie als gegeben hinnehmen und dann ganz rationale Argumente zum Beweis ihrer Alternativlosigkeit sammeln, um sie gegen jedwede materialistische Kritik zu immuniseren.


    Diese Kritik wird dann natürlich ebenfalls zur gefährliche Ideologie und totalitären Gesinnungsmeierei umfirmiert, und damit schliesst sich der Zirkelschluss, und der bürgerliche Ökonom kann sich weiterhin über jeden rationalen Zweifel an der Wissenschaftlichkeit seiner Forschung erhaben fühlen.

  • Eigentlich wollte ich schon bei dem Halbsatz...:

    auch wenn es einige mutmassliche Antifaschisten auf die Palme bringt, wenn man die Frage aufwirft, ob Nationalsozialismus nicht doch wohl nationalistischer Sozialismus ist

    ...aufhören zu lesen, weil danach eigentlich nichts Gescheites mehr kommen konnte.


    Aber dann habe ich doch noch bis...:

    Ökonomie ist ein Grundlagenfach von Biologie.

    Ökonomie ist für Biologie das, was Mathematik für Physik ist.

    ...durchgehalten und wurde davon überrascht, dass es tatsächlich noch viel wahnsinniger geht.


    Manche Ökonomen (und Ökonominnen) brächte es vermutlich auf die Palme, wenn man hier eine Parallele zum Biologismus und Sozialdawinismus faschistischer Ideologien ziehen, und ihrer ganz und gar sozialwissenschaftlichen Forschung eine Nähe zum National-"Sozialismus" unterstellen wollte.


    Aber konservativ und bürgerlich erzogen wie ich bin, formuliere ich das natürlich schon aus Gründen des gebotenen Anstandes nicht im Indikativ, sondern stelle es nur als Möglichkeit in den Raum - Nicht zuletzt, weil ich eigentlich denke, dass solche hirnrissigen Vorstellungen nicht zwangsläufig aus einer faschistischen Überzeugung hervorgehen, sondern dass sie vielmehr - ganz anti-kollektivistisch! - einfach nur Phänomene eines konsequent und bis zum bitteren Ende der vollständigen Ökonomisierung allen gesellschaftlichen Seins weiter gedachten Neoliberalismus sind.


    "§ 3. Organismus und Organisation sind so verschieden wie Leben von einer Maschine, wie eine natürliche Blume von einer künstlichen. In der natürlichen Pflanze führt jede Zelle ihr eigenes Dasein für sich und in Wechselwirkung mit den anderen. Dieses Selbstsein und Sichselbsterhalten ist es, was wir leben nennen.


    In der künstlichen Pflanze fügen sich die einzelnen Teile zu einem Ganzen nur soweit zusammen, als der Wille ihres Schöpfers, der sie verbunden hat, wirksam ist. Nur soweit als dieser Wille wirksam es will, beziehen sich in der Organisation die Teile aufeinander. Jeder nimmt nur den Platz ein, der ihm zugewiesen ist, und verläßt ihn gewissermaßen nur auf Befehl.

    Insofern die Teile leben, d. h. für sich sind, können sie es im Rahmen der Organisation nur soweit tun, als ihr Schöpfer sie lebend in seine Schöpfung eingesetzt hat, nicht einen Schritt darüber hinaus. Das Pferd, das der Fahrer vor den Wagen gespannt hat, lebt als Pferd. In der Organisation Gespann steht es dem Fahrzeug gerade so fremd gegenüber wie der mechanische Motor dem von ihm gezogenen Wagen.


    Die Teile können ihr Leben auch gegen die Organisation führen, wenn z. B. das Pferd mit dem Wagen durchgeht, oder wenn das Gewebe, aus dem die künstliche Blume erzeugt ist, unter dem Einflusse chemischer Prozesse zerfällt.

    Nicht anders ist es in der menschlichen Organisation. Auch sie ist eine Willenstatsache wie die Gesellschaft. Doch der Wille, der sie schafft, bringt damit ebensowenig einen lebenden Gesellschaftsorganismus hervor wie die Blumenmacherin eine lebende Rose. Die Organisation hält nur so lange, als der sie schaffende Wille sie zusammenzuhalten vermag. Die Teile, aus denen die Organisation zusammengesetzt ist, gehen in die Organisation nur insoweit ein, als dieser Wille ihrer Schöpfer wirksam wird, soweit es gelingt, ihr Leben in die Organisation einzufangen.


    In dem exerzierenden Bataillon gibt es nur einen Willen, den des Führers; alles andere ist, soweit es in der Organisation „Bataillon“ wirkt, tote Maschine. In diesem Ertöten des Willens, soweit er nicht den Zwecken des Truppenkörpers dient, liegt das Wesen des militärischen Drills. Der Soldat der Lineartaktik, in der die Truppe nichts als Organisation sein soll, wird „abgerichtet“. Leben gibt es im Truppenkörper nicht; das Leben, das der einzelne lebt, lebt er neben und außer ihm, vielleicht gegen ihn, aber niemals in ihm.

    Die moderne Kriegführung, die auf der Selbsttätigkeit des Plänklers beruht, mußte es unternehmen, das Leben des einzelnen Soldaten, sein Denken und seinen Willen in ihren Dienst zu stellen. Sie sucht den Soldaten nicht mehr bloß abzurichten, sondern auszubilden.


    Die Organisation ist ein herrschaftlicher Verband, der Organismus ein genossenschaftlicher. Der primitive Denker sieht überall das, was von außen organisiert wurde, niemals das Selbstgewordene, das organische. Er sieht den Pfeil, den er geschnitzt hat, er weiß, wie der Pfeil geworden und wie er in Bewegung kam, und nun fragt er bei allem, was er sieht, wer es gemacht hat und wer es bewegt. Er fragt bei allem Leben nach seinem Schöpfer, bei jeder Veränderung in der Natur nach ihrem Urheber und findet eine animistische Erklärung. So entstehen die Götter. Er sieht die organisierte Gemeinde, in der ein oder mehrere Herrscher den Beherrschten gegenüberstehen, und danach sucht er auch das Leben als Organisation zu verstehen, nicht als Organismus.

    Daher die alte Vorstellung, die im Kopfe den Beherrscher des Körpers zu finden glaubt und ihn als Haupt mit demselben Ausdruck bezeichnet wie den Obersten der Organisation.


    Die Überwindung der Organisationsvorstellung, die Erkenntnis des Wesens des Organismus, ist die größte Tat, die die Wissenschaft geleistet hat. Sie ist für das Gebiet der Sozialwissenschaft - das kann man bei aller Anerkennung, die älteren Denkern gebührt, sagen - im wesentlichen vom 18. Jahrhundert vollbracht worden; den Hauptteil hatten daran die klassische Nationalökonomie und ihre unmittelbaren Vorläufer. Die Biologie ist ihr nachgefolgt. Sie läßt alle animistischen und vitalistischen Vorstellungen fallen.

    Für die moderne Biologie ist auch der Kopf nicht mehr das Haupt, kein Regent des Körpers mehr. Es gibt im lebenden Körper keinen Führer und keine Geführten, keinen Gegensatz von Haupt und Gliedern, von Seele und Körper. Es gibt nur noch Glieder, Organe.


    Es ist ein Wahn, die Gesellschaft organisieren zu wollen, nicht anders als ob jemand eine lebende Pflanze zerstückeln wollte, um aus den toten Teilen eine neue zu machen. Eine Organisation der Menschheit wäre nur denkbar, wenn man zuerst den lebenden gesellschaftlichen Organismus erschlagen hat. Die kollektivistischen Bestrebungen sind schon aus diesem Grunde ganz aussichtslos.

    Es kann gelingen, eine alle Menschen umfassende Organisation zu schaffen. Aber das wäre immer nur eine Organisation, neben der das gesellschaftliche Leben weiterginge, die von den gesellschaftliehen Kräften verändert und gesprengt werden könnte und sicherlich gesprengt werden müßte, sobald sie den Versuch machen wollte, sich gegen sie aufzulehnen.


    Will man den Kollektivismus zur Tatsache machen, dann müßte man alles gesellschaftliche Leben zuerst ertöten und dann den kollektiven Staat aufbauen. Die Bolschewiken denken ganz folgerichtig, wenn sie zuerst alle überkommen gesellschaftlichen Bindungen auflösen und den in ungezählten Jahrtausenden aufgerichteten Gesellschaftsbau niederreißen wollen, um auf den Trümmern einen Neubau aufzuführen. Sie übersehen nur, daß sich die isolierten Individuen, zwischen denen keinerlei gesellschaftlichen Beziehungen mehr bestehen, auch nicht mehr organisieren ließen. Organisationen sind nur soweit möglich, als sie sich nicht gegen das Organische kehren und es nicht verletzen. Alle Versuche, den lebendigen Willen der Menschen in ein Werk einzuspannen, dem er nicht dienen will, müssen scheitern. Jede Organisation kann nur soweit gedeihen, als sie sich auf dem Willen der Organisierten aufbaut und ihren Zwecken dient."

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    Ludwig von Mises: Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus, Jena 1922, S. 279 - 282 (hier -> PDF, S. 287 - 290)

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