Ich bin raus!

  • was ist denn genau rechts?

    Das kommt darauf an, aus welcher Position man es betrachtet und mit welchem Maßstab man das misst.


    Wenn der Maßstab nur eine Linie von links nach rechts ist, dann stehen am linken Ende Anarchokommunisten, die den Staat und das Privateigentum an den Produktionsmitteln grundsätzlich ablehnen, und am rechten Ende Faschisten, für die sich alle Produktion dem völkischen Nationalstaat und seinem autoritären Führerprinzip unterzuordnen hat.

    Weil das aber eine ziemlich eindimensionale Betrachtungsweise ist, muss man eigentlich noch mindestens eine weitere Linie hinzufügen.


    Ein solches "zweidimensionales" Modell wäre z.B. der "political compass", bei dem auf der horizontalen Links-Rechts-Achse die ökonomische Position liegt, also eher der klassische Ansatz aus der Zeit der revolutionären Arbeiterbewegungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, und auf der vertikalen die Verortung zwischen autoritär und freiheitlich:


    800px-Political_Compass_standard_model.svg.png

    Nach diesem Modell wäre Adolf Hitler ganz oben im oberen rechten, josef Stalin ganz oben im oberen linken und Karl Marx im unteren linken Quadranten. Dein Gunnar Kaiser wäre wahrscheinlich irgendwo im unteren Teil des unteren rechten Quadranten anzusiedeln. Hitler wäre also rechts-autoritär, Stalin links-autoritär, Marx links-libertär und Kaiser rechts-libertär. Der größte Gegensatz findet sich also weniger auf der horizontalen Achse als auf den jeweiligen Diagonalen zwischen den äußeren Eckpunkten der Quadranten.


    Allerdings funktionieren diese Verortungen auch nur dann so halbwegs, wenn man das politische Spektrum insgesamt nach den heutigen Verhältnissen in der westlichen Welt ausrichtet - also wenn die ideale Mitte eine repräsentative Demokratie mit kapitalistischer Marktwirtschaft ist, in welcher der Staat den Markt zwar reguliert aber auch dafür sorgt, dass er für die privaten EigentümerInnen des Kapitals profitabel bleibt, ohne die von ihnen abhängige arbeitende Bevölkerung komplett verelenden zu lassen.


    Hinzu kommt, dass die Verortung des Beobachters selbst eine große Rolle spielt. Für Gunnar Kaiser wäre ein linker Salonmarxist wie ich womöglich irgendwo oben links in der Nachbarschaft von Stalin und Mao angesiedelt, obwohl ich mich selbst (nach diesem Schema) eher in der Mitte des unteren linken Quadranten positioniert sehe.


    Ein weiteres Problem ist natürlich die Beschriftung der Achsen selbst. Das Modell des "political compass" wurde sicher nicht von rechts- oder linksradikalen AktivistInnen erdacht, sondern von Leuten, die sich selbst irgendwo in der (vermutlich eher linken) Mitte des Ganzen verorten würden.


    Aus der Sicht eines Anarchokapitalisten, also eines extrem rechts-libertären Zeitgenossen, ist der theoretische Kommunismus nach Marx nicht im unteren linken, libertären, sondern ganz oben links im oberen linken, autoritären Quadranten anzusiedeln, weil im rechtslibertären Weltbild die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmittlen in der Praxis nur durch brutale Enteignung zu bewerkstelligen wäre, und somit die autoritärste Zwangsmaßnahme überhaupt darstellen würde, und weil er sicher unter "Kommunismus" den totalitären Staatssozialismus Stalins verstehen, und ihn mit Hitlers National-"Sozialismus" gleichsetzen würde. Für radikale Rechtslibertäre ist auch Demokratie gefährlicher "Kollektivismus", weil sie nach deren Ansicht eine Diktatur der Mehrheit gegen die Minderheit darstellt.


    Andererseits sehen linksradikale Anarchisten den radikalen Rechtslibertarismus ebenfalls als im Grunde radikal-autoritäre Weltsicht an, und müssten ihn daher eher in der oberen rechten Ecke des oberen rechten Quadranten ansiedeln, weil er sich zwar theoretisch als Vollendung der individuellen Freiheit darstellt, aber in seiner tatsächlichen praktischen Anwendung auf eine sozialdarwinistische Gesellschaft hinaus liefe, in welcher die stärksten Teilnehmer in einem von jeglicher staatlichen oder "kollektivistischen" Kontrolle befreiten Markt die schwächsten gnadenlos unterdrücken, und sich letztendlich der Stärkste unter den Stärksten auch wieder an die Spitze der Gesellschaft setzen würde.


    Erschwerend kommt hinzu, dass sich sowohl auf der rechten, als auch auf der linken Seite des politischen Spektrums vor allem seit der Jahrtausendwende zunehmend eine dritte Achse etabliert hat, die eher eine kulturelle Verortung zwischen "traditionell"-> "rechts" und "fortschrittlich" -> "links" zeigt, aber eigentlich gar keine richtige Achse ist, sondern eine chaotische Schlangenlinie, die sich durch alle Quadranten des politischen Kompasses zieht und dabei heilloses Chaos stiftet.

    Auf dieser Schlangenlinien-Achse findet allerdings leider momentan ein aufgrund seines gewaltigen Empörungspotenzials besonders öffentlichkeitswirksamer Kulturkampf statt und reduziert die Debatte zwischen "links" und "rechts" auf identitätspolitische Themen und Haltungsfragen, die - zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung außerhalb akademischer Diskurse - mit dem ursprünglichen, ökonomischen Links-Rechts Gegensatz nur noch äußerst oberflächlich verbunden sind und auf beiden Seiten auch in autoritäre Höhen abdriften.


    Aus meiner eigenen, "salonmarxistischen" Sicht ergibt diese kulturelle Achse eigentlich keinen Sinn, weil sie komplett vernachlässigt, dass wir schon seit vielen Generationen in einer kapitalistischen, bürgerlichen Gesellschaft leben, deren kulturelle Traditionen und Fortschritte nicht von dieser kapitalistischen ökonomischen Basis zu trennen sind auf der sie sich entwickelt haben, und weil dieser neue "links"-"rechts" Konflikt eigentlich ein rein ideologischer Prozess ist, der sich innerhalb der kapitalistischen Ordnung abspielt, und dabei nur deren innere Widersprüche wiederspiegelt, während er an den eigentlichen ökonomischen Verhältnissen nicht grundsätzlich rütttelt.


    Aus einer postmaterialistischen Sicht stellt es sich allerdings genau anders herum dar, weil es aus dieser Perspektive nicht die ökonomischen, materiellen Verhältnisse sind, die den Lauf der Geschichte und die Entwicklung der Gesellschaft bestimmen, sondern Ideen und Weltanschauungen, welche die ökonomische, materielle Entwicklung voran treiben.


    Man könnte also auch eine Achse zwischen Materialismus und Postmaterialismus aufmachen und sie mit "Pragmatisch" -> links und "Idealistisch" -> rechts beschriften. Aber es wäre eigentlich kaum möglich damit irgendeine objektive Verortung politischer Positionen vorzunehmen, weil es ja meist die größten IdealistInnen sind, die nicht verstehen wollen, dass ihr gefühlter Pragmatismus eigentlich reine Ideologie ist und insofern als "rechts" zu verorten wäre, weil er zwar den Anspruch hat, das Denken zu revolutionieren, aber nicht daran interessiert ist, die dem Denken zugrunde liegenden materiellen Verhältnisse in der Gesellschaft zu verändern.


    Aus einer linken ideologiekritischen Sicht betrachtet ist die "Mitte" des politische Kompass unter den heutigen Verhältnissen daher eigentlich bereits deutlich nach rechts verschoben, weil der politisch-ökonomische Mainstream - also die Mitte des Koordinatensystems - von einer neoliberalen Ideologie dominiert wird, die sich selbst eher im rechtslibertären Quadranten verorten würde, aber in der Praxis immer weiter in den rechtsautoritären Quadranten wandert, weil die ökonomisch rechte Position zwangsläufig zu immer ungleicheren materiellen Verhältnissen führt, die nur durch einen starken Staat stabilisiert werden können.


    Rechte "Ideologiekritiker" - zu denen ich persönlich auch Gunnar Kaiser zähle - würden wahrscheinlich das genaue Gegenteil - also eine Verschiebung der "Mitte" des Koordinatensystems nach links - behaupten.

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