#606 - Soziologe Oliver Nachtwey

  • ...wenn diese schöne Theorie schon anhand einfacher Beispiele ad absurdum geführt werden kann.

    Das ist halt leider genau das was ich meine, wenn ich schreibe:

    Du verteidigst eisern - und offensichtlich gekränkt - den Anspruch, Dir die Freiheit heraus nehmen zu dürfen, alleine aufgrund Deiner persönlichen Ansichten zu entscheiden, wer Quatsch erzählt und wer eine legitime Kritik vorzubringen hat. Du setzt Deine individuelle Meinung als absoluten Maßstab daran an, wer was wie zu analysieren habe und ignorierst nicht nur völlig, dass andere Leute ihre Erkenntnisse vielleicht gar nicht mit diesem individuellen Maß bemessen, sondern unterstellst ihnen sogar, dass sie genau das täten, regst Dich dann darüber auf, dass sie eine Dir nicht genehme Meinung veröffentlichen, und "begründest" das tautologisch damit, dass sie Deiner eigenen persönlichen Wahrnehmung widerspreche.

    Um eine Theorie "ad absurdum geführt" haben zu können, hättest du sie ja erst mal verstehen müssen - was ja nun, laut Deinem eigenem Bekunden(!!!) gar nicht der Fall war.


    Du kannst der Theorie natürlich irgendeinen Zweck zuschreiben, und dann behaupten dass derselbe gar nicht erfüllt wurde, aber damit hättest Du noch nichts ad absurdum geführt, sondern lediglich kundgetan, dass die Theorie nicht das liefert, wovon Du dachtest, sie hätte es liefern müssen.


    Dabei hilft es natürlich, wenn man das ganze als "Bullshit-Bingo" abtut, denn damit spricht man ihm jegliche wissenschaftliche Qualifikation ab, und kann dann nach Herzenslust darüber herziehen, dass das ja sowieso nur irgendeine Meinung sei, und dann dem sie Äußernden unterstellen, er wolle damit nur seinen persönlichen Vorurteilen Ausdruck verleihen.

  • Die Zuschreibung des libertär-autoritären Charakters hat mehr mit der eigenen Haltung zu tun als mit Wissenschaft.


    Wie komme ich darauf?


    Oliver weitet den libertären Autoritarismus aus, wendet ihn nicht nur auf „Querdenker“ an, sondern bezieht auch den Themenkomplex Russland/Ukraine ein am Beispiel von Ulrike Guerot (S.231 f.). Und das ist völlig an den Haaren herbeigezogen, an Absurdität kaum zu überbieten. Für jeden nachhörbar beim DLF, weiter oben verlinkt. Die Moderatorin konstatiert beim „libertär-Autoritären“ ein bloßes Dagegensein und das Fehlen positiver Visionen. Und da kommt Oliver dann mit Ulrike Guerot als Beispiel an.


    Dabei dürfte jedem, der die Frau und ihre Arbeit kennt, klar sein, dass es kaum jemanden gibt, der mehr für eine positive Vision brennt, nämlich bei Ulrike der Traum von einem vereinten Europa. Ihr Eintreten für Verhandlungen mit Russland muss im Kontext dieser Vision verstanden werden, aber Oliver ignoriert das völlig und sieht bei ihr eine „Drift“ zum libertären Autoritarismus.


    Völlig absurd, unwissenschaftlich und, wenn es Schule macht, auch tödlich für den öffentlichen Diskurs.


    Wer Ulrike nicht kennt:


  • Um eine Theorie "ad absurdum geführt" haben zu können, hättest du sie ja erst mal verstehen müssen

    Ich hatte mir dann nochmal extra Mühe gegeben die letzten Zweifel auszuräumen. Das DLF Interview hat sehr geholfen, da haben die beiden Autoren etwas klarer und kompakter formuliert. Ich denke schon inzwischen durchschaue ich die Argumentationskette.

    Du kannst der Theorie natürlich irgendeinen Zweck zuschreiben, und dann behaupten dass derselbe gar nicht erfüllt wurde, aber damit hättest Du noch nichts ad absurdum geführt, sondern lediglich kundgetan, dass die Theorie nicht das liefert, wovon Du dachtest, sie hätte es liefern müssen.

    Nein, die Theorie ist in sich sicher schlüssig. Und ich denke auch dass es wirklich irgendwo ein paar libertär Autoritäre geben wird die tatsächlich KEINERLEI Freiheitseinschränkungen tolerieren wollen. Die waren dann bestimmt auch auf Querdenker Demos. Aber als Schublade für alle Querdenker und Putinversteher ist das einfach Quatsch. Meine Argumente muss ich ja hier nicht wiederholen. Wen es interessiert kann hier im Faden stöbern.


    Eine schlüssige Theorie kann aber eben dann doch falsch sein wenn sie auf einer falschen Annahme aufgebaut ist. Zum Beispiel der Homo Ökonomikus in der Ökonomie. Man bekommt heute gar einen Nobelpreis für theoretische Arbeiten ("that have significantly improved our understanding of the role of banks in the economy") die auf falschen Annahmen über die Rolle von Banken beruhen. Dazu kann man jahrelang veröffentlichen und Studenten ausbilden und Preise absahnen, davon wird die Theorie aber nicht richtiger.


    Na gut. Ich klinke mich dann mal aus. Ich habe nun verstanden wie das ganze einzuordnen ist. Vielleicht nicht wirklich

    "Bullshit-Bingo"

    , denn wie gesagt in sich sicher schlüssig. Aber dann eben doch falsch, da auf falschen Annahmen beruhend, und damit dann schlussendlich bedeutungslos.

    Einmal editiert, zuletzt von Vecna () aus folgendem Grund: Korrektur

  • , denn wie gesagt in sich sicher schlüssig. Aber dann eben doch falsch, da auf falschen Annahmen beruhend, und damit dann schlussendlich bedeutungslos.

    Nachdem ich das Buch grob quergelesen habe, finde ich auch eine Menge aus meiner Sicht kritikwürdiges darin - vor allem an den Stellen wo Nachtwey und Amlinger über ihre empirischen Studien hinaus Ableitungen auf weitere gesellschaftliche Gruppen machen und durchaus pauschalisieren, wo man eigentlich genauer hätte prüfen müssen.

    Aber wenn ich daraus nun ableiten würde, dass die ganze Theorie des "libertären Autritarismus" an sich "falsch" sei, dann würde ich genau das machen, was man den Querdenkern - und damit meine ich den harten Kern der Protestbewegung, und nicht die vielen tausend MitläuferInnen auf den Demonstrationen - meiner Meinung nach vollkommen zu recht vorwirft, und was ich auch an Deiner Argumentation hier nach wie vor kritisiere: Die Bemessung von wissenschaftlichen Theorien an meinem eigenen subjektiven Maßstab und damit die "autoritäre" Anmaßung, ganz frei und selbstbestimmt ein Urteil über sie zu fällen, ohne den Erkenntnisprozess nachvollzogen zu haben, der ihnen zugrunde liegt.


    Dabei muss man halt auch einfach mal anerkennen, dass Wissenschaft zum einen immer ein laufender Prozess ist und selbst "harte" Naturwissenschaft niemals hundertprozentig sichere Urteile liefern kann, und dass dies zum anderen insbesondere auf Sozial- und Geisteswissenschaften zutrifft, weil deren Forschungsgegenstand von sich stetig weiter entwickelnden gesellschaftlichen Verhältnissen bedingt ist, und weil die ForscherInnen selbst immer Teil der Gesellschaft sind, die sie analysieren.


    Der Vergleich mit dem Homo Oeconomicus ist allerdings ein gaz schlechter, weil ökonomische Theorie einen völlig anderen Stellenwert im politischen Geschäft einnimmt, als Soziologie, Psychologie, oder Philosophie, und weil deren Erkenntnisse nicht nur dazu dienen, die ideologische Rechtfertigung des kapitalistischen Verwertungsprozesses zu besorgen, auf dessen Basis der ganze moderne Staat und sein politisches System aufgebaut sind, sondern weil sie auch als ganz konkrete Anreize für staatliches Handeln und die gesamte politische Ausrichtung des kapitalistischen Staates aufgefasst werden.

    Die akademischen Führungskräfte der ökonomischen Forschung, denen man politisch und medial stets Gehör schenkt, und von denen sich SpitzenpolitikerInnen und Konzernvorstände beraten lassen, sehen sich auch selbst nicht bloß als sozialwissenschaftliche ForscherInnen an sozioökonomischen Zusammenhängen, sondern sie erheben den normativen Anspruch, aus ihren Forschungsergebnissen tatsächliche Handlungsempfehlungen für die staatspolitische Organisation des ökonomischen Betriebes ableiten zu können.


    Aus meiner kapitalismuskritischen Sicht können sie damit natürlich nur falsch liegen, sofern sie ihrer wissenschaftlichen Arbeit scheinbar unanfechtbare Axiome und alternativlose Dogmen zugrunde legen, die sich erst aus den kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen und deren systemischen Prozessen selbst ergeben. Damit setzen sie die ganze innere Logik ihrer Forschungszusammenhänge tautologisch als selbsterklärend voraus und beschäftigen sich nur mit dem was ist und nicht mit dem was vorher - also vor dem Kapitalismus - war oder was nachher sein könnte, während sie gleichzeitig beanspruchen, Empfehlungen für die weitere sozioökonomische Entwicklung geben zu können, und damit bei den politischen GesellschaftsentwicklerInnen auf offene Ohren stoßen.


    Auch die aktuelle Soziologie tappt häufig in diese Falle, vor allem wenn sie den Anspruch erhebt, die Funktionsweise von Gesellschaft als solcher zu erklären - wie zum Beispiel die elende Luhmannsche Systemtheorie:evil: - und beruft sich gerne auf die Empirische Untersuchung von Ist-Zuständen, um daraus dann allgemeine Aussagen über das Wesen menschlicher Gesellschaftsbildung zu treffen.


    Nachtwey und Amlinger hingegen leiten ihre soziologische Theorie vom "libertären Autoritarismus" aus der linken Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und anderen kapitalismuskritischen Theorien ab - also aus theoretischer und empirischer Forschung, die sich explizit gegen die "Naturalisierung" der herrschenden Verhältnisse als Resultat scheinbar ewiger Gesetzmäßigkeiten (wie etwa jenen, die der Figur des Homo Oeconomicus zugrunde gelegt werden) richtet und stattdessen zu erklären versucht, wie jene herrschenden Verhältnisse ganz konkret das gesellschaftliche Bewusstsein prägen.

    Dabei muss man auch berücksichtigen, dass Soziologie nicht Psychologie ist. Sie versucht nicht, jedem individuellen Mitglied der Gesellschaft gerecht zu werden und seine innere Motivation zu ergründen, sondern sie versucht, gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, oder einzelne Gruppen innerhalb der größeren Gruppe zu beobachten und daraus dann allgemeine Aussagen über die jeweilige soziale Gruppe im gesellschaftlichen Zusammenhang zu formulieren.

    Dabei geht es immer um Gesellschaft, also um eine Menschengruppe und deren soziales Verhalten als solche, und nicht um die individuelle Prägung. Die Pauschalisierung ist dieser Art der Betrachtung also quasi von Haus aus mitgegeben und es werden sich immer einzelne Beispiele innerhalb der untersuchten Gruppe finden, auf die sie nicht zutrifft.


    Nachtwey und Amlinger versuchen im Buch auch aufzuzeigen, wie sie ihre eigenen Hypothesen an der historischen Entwicklung und an den aktuellen gesellschaftlichen Zuständen überprüft haben, um daraus dann eine neue, bzw. erweiterte Theorie zu entwickeln. Das gelingt auch nicht immer perfekt und driftet bisweilen ins Erzählerische ab, wenn sie zum Beispiel den Kapiteln oft konkrete Fallbeispiele von Leuten voranstellen, mit denen sie ausführliche Interviews geführt haben, oder wenn sie ihre Theorie über den eigentlichen Forschungsgegenstand hinaus auf andere Gruppen extrapolieren und Bezüge zum Krieg in der Ukraine herstellen, zu dessen gesellschaftlicher Rezeption zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Buches sicher noch keine gesicherten Forschungsergebnisse vorlagen.

    Das Buch ist natürlich keine wissenschaftliche Facharbeit, sondern es ist eine populärwissenschaftliche Aufbereitung der eigentlichen Forschung, die sich nicht an ein Fachpublikum richtet, sondern an die breite Öffentlichkeit, und man kann den AutorInnen sicher vorwerfen, dass sie diesem Umstand Rechnung getragen, und es auf eine "links"-liberale Zielgruppe zurecht geschrieben haben.


    Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Querdenker nicht einfach irgendeine Protestbewegung waren - schon alleine deshalb nicht, weil sie vorwiegend aus dem bis dato eher wenig protestfreudigen bürgerlichen Millieu kamen, und weil die gesellschftliche Reaktion auf die Pandemie in einer global vernetzten Welt bisher ungekannte gesellschaftliche Dynamiken enfaltet hat, denen die politischen Führungen aller Nationen mehr oder weniger hilflos gegenüber standen, und weil sich damit gesellschaftliche Tendenzen verstärkt haben, die zuvor nicht so offen zu Tage getreten sind.

  • Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Querdenker nicht einfach irgendeine Protestbewegung waren - schon alleine deshalb nicht, weil sie vorwiegend aus dem bis dato eher wenig protestfreudigen bürgerlichen Millieu kamen, und weil die gesellschftliche Reaktion auf die Pandemie in einer global vernetzten Welt bisher ungekannte gesellschaftliche Dynamiken enfaltet hat, denen die politischen Führungen aller Nationen mehr oder weniger hilflos gegenüber standen, und weil sich damit gesellschaftliche Tendenzen verstärkt haben, die zuvor nicht so offen zu Tage getreten sind.


    Das ist sicher richtig. Und genau deshalb eine der Schwächen des Buchs.


    Was die Autoren von „Gekränkte Freiheit“ nämlich offenkundig nicht verstehen (und das ist angesichts der Tatsache, dass sie Soziologen sind, umso frappierender) ist, dass nun in Deutschland (und auch in Österreich) Prozesse einen Höhepunkt erreicht haben, die etwa in Frankreich schon seit vielen Jahren diskutiert werden: die Entfremdung der Menschen, vielfach vor allem benachteiligter Personengruppen, von den „linken“ Parteien, der Verlust einer politischen Heimat und die potenzielle Vereinnahmung dieses Unmutes vonseiten rechter oder rechtspopulistischen Parteien. Nicht aber, weil sich die Menschen radikalisieren oder allesamt verkappte „Nazis“ sind, rücken sie näher zu rechten Parteien, sondern weil sie sich von den linken und grünen Politikern weder vertreten noch repräsentiert fühlen und den Eindruck haben, dass hier linke Eliten – der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty beschrieb diese Kaste als linke Brahmanen – über ihren Kopf hinweg Dinge durchsetzen, die mit ihren Lebensrealitäten nichts zu tun haben und ihnen fast nur Benachteiligung bringen. Auch reale Aspekte wie Altersarmut, Benzin- und Gaspreiserhöhung, De-Industrialisierung mit gleichzeitiger Verelendung und dgl. tragen dazu bei und werden das zukünftig noch viel mehr tun.


    Das negative Framing der Bewegung oder Ihrer populären Führungsfiguren setzt dem überhaupt nichts entgegen, sondern wird die Spaltung verstärken. Zumal ja Nachtwey im Buch und für jeden nachhörbar auch im Interview keinerlei Idee vorweisen kann, wie man die dergestalt „Weggedrifteten“ wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückholen könnte.


    Wenn stattdessen öffentliche Intellektuelle mit einer gewissen Reichweite mit dem neu geschaffen Label negativ „geframed“ werden, dann entsteht bei mir der Eindruck, dass hier ein Instrument zum „Canceln“ geschaffen wurde. Ich würde Nachtwey zugestehen, dass dies unbeabsichtigt geschah, wenn er sein neues Cancel-Tool nicht selber angewendet hätte auf Ulrike Guerot.


    Who’s next? Vielleicht Gabriele Krone-Schmalz? Auch so eine starke Frau auf angeblichen Abwegen Richtung Russland, und auf manches Männchen wirkt sie vielleicht sogar ein bisschen autoritär.

  • Das ist sicher richtig. Und genau deshalb eine der Schwächen des Buchs.


    Was die Autoren von „Gekränkte Freiheit“ nämlich offenkundig nicht verstehen (und das ist angesichts der Tatsache, dass sie Soziologen sind, umso frappierender) ist, dass nun in Deutschland (und auch in Österreich) Prozesse einen Höhepunkt erreicht haben, die etwa in Frankreich schon seit vielen Jahren diskutiert werden: die Entfremdung der Menschen, vielfach vor allem benachteiligter Personengruppen, von den „linken“ Parteien, der Verlust einer politischen Heimat und die potenzielle Vereinnahmung dieses Unmutes vonseiten rechter oder rechtspopulistischen Parteien. Nicht aber, weil sich die Menschen radikalisieren oder allesamt verkappte „Nazis“ sind, rücken sie näher zu rechten Parteien, sondern weil sie sich von den linken und grünen Politikern weder vertreten noch repräsentiert fühlen und den Eindruck haben, dass hier linke Eliten – der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty beschrieb diese Kaste als linke Brahmanen – über ihren Kopf hinweg Dinge durchsetzen, die mit ihren Lebensrealitäten nichts zu tun haben und ihnen fast nur Benachteiligung bringen. Auch reale Aspekte wie Altersarmut, Benzin- und Gaspreiserhöhung, De-Industrialisierung mit gleichzeitiger Verelendung und dgl. tragen dazu bei und werden das zukünftig noch viel mehr tun.

    Offensichtlich hast Du das Buch nicht gelesen Syd. - was Dich als echter Querdenker natürlich nicht davon abhält, es als weiteren Beweis für die systematische Unterdrückung Deiner Freiheit zum "Selbst-Denken" wahrzunehmen.


    Deine eigene, narzisstische libertär-autoritäre Haltung ist dem Buch jedenfalls sehr gut beschrieben:


    [...] Dazu kommt, dass die Querdenker:innen in einem verschobenen politischen Koordinatensystem agieren, in dem Herrschaftskritik häufig normativ ungeordnet auftritt. Die Linke ist hier längst nicht mehr die führende Kraft, während der Pandemie unterstützte sie überwiegend die Maßnahmen des Staates. Auf eine bestimmte Weise sind die Querdenker:innen damit eine Fortsetzung und Radikalisierung der »Anti-Politik«, die seit der Finanz- und der Eurokrise einen rapiden Aufstieg erlebt hat. Die »Anti-Politik« von Bewegungen wie Occupy oder des italienischen Movimento 5 Stelle war ein Ausdruck moralischer Rebellion.128 Auch die französischen Gelbwesten zeugten von einer tiefen Entfremdung von der liberalen Demokratie. Mit ihren basisdemokratischen Praktiken können wir diese Bewegungen als Bestandteile einer neuen Gegen-Demokratie verstehen. Sie kritisierten die Funktionsweise liberaler Demokratien und ihre Institutionen in ganz grundsätzlicher Weise. Was ihnen fehlte, war eine alternative gesellschaftliche und politische Vision.


    Die Querdenker:innen sind ebenfalls Ausdruck politischer Entfremdung, auch sie verfügen über kein politisches Projekt, eignen sich die Herrschaftskritik gewissermaßen quer an. Die Kritik der klassischen sozialen Bewegungen richtete sich in der Regel gegen den (kapitalistischen) Staat, die Querdenker:innen sehen eine Verschwörung am Werk.

    Wenn sie die Dominanz der offiziellen Expert:innen infrage stellen, stehen sie auf verdrehte Weise in der Tradition früherer sozialer Bewegungen: So konfrontierten etwa die Vertreter:innen der Anti-Atomkraft-Bewegung die offizielle Expertise, Kernkraftwerke seien sicher, mit einer systematischen, aber wissenschaftlichen Gegenexpertise. Die Gegenexpert:innen der sozialen Bewegungen schufen eine Gegenöffentlichkeit, die Wissenschaft, Macht- und Alltagsfragen miteinander verband.129


    Die Querdenker:innen setzen hingegen auf häretische Expert:innen, auf Renegat:innen, die ihre Legitimation allein aus dem Antagonismus zum »Mainstream« beziehen.130

    Die vorgebrachte Kritik ist epistemisch, weil sie einen Zweifel an der Realität des Virus formuliert, sie hat aber keine eigene theoretische Grundlage, wie es beispielsweise der Marxismus für die Arbeiter- oder der Feminismus für die Frauenbewegung war. Statt Theorie gibt es nur noch Sound- und Argument-Bites, die erratisch zusammengefügt werden; auf argumentative Stringenz legen die Querdenker:innen nur wenig Wert. Sie unterstellen, jeder könne Experte sein. Die Demokratisierung des Wissens schlägt hier um in eine individuelle Anmaßung von Wissen. Wie in einem Zerrspiegel finden wir dabei auch klassische Slogans früherer Bewegungen: Wo sich die Parole »Mein Körper gehört mir« im Feminismus auf das Recht auf Abtreibung bezog, kommt darin nun die Abwehr der Impf-Solidarität zum Ausdruck. Die Querdenker:innen sind emotional, stets misstrauisch und in einem gewissen Sinne immer dagegen. Im Namen der Demokratie unterlaufen sie demokratische Normen. Hinter den Parolen der Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe steckt bisweilen ein destruktiver Nihilismus – und gerade diese Destruktivität ist ein Kernbestandteil des libertären Autoritarismus.[...]


    Erweitert man den analytischen Blick geografisch, können die in diesem Buch behandelten Phänomene des libertären Autoritarismus als Teil eines internationalen postpolitischen Aufbegehrens gelten. Dies muss nicht zwangsläufig nach rechts driften, sondern kann auch weiterhin eine hybride Form annehmen oder wieder stärker nach links tendieren. Die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, obwohl in ihr strukturell eine Anlage zum Autoritarismus vorhanden war, hat sich nicht zuletzt dank einer konzertierten linken Intervention nicht in eine Vorfeldbewegung von Marine Le Pens Rassemblement National entwickelt.[...]


    Dem von rechts-"liberalen", konservativen und rechtsradikalen Kommunistenfressern verbreiteten Narrativ, es handele sich bei den Herrschenden um...

    linke Eliten

    ...,sowie deren, aus dem amerikanischen Kontext befreiten "Framing" ihrer demagogischen Kulturkämpferei als aufrechten Widerstand gegen die Usurpation der abendländischen Kultur durch "(neo-)marxistische" Freiheitsfeinde, folgst Du hingegen bereitwillig und leitest daraus ab, dass auch Nachtwey und Amlinger als tatsächlich eher linke TheoretikerInnen diesen angeblichen Elitenkonsens und die dazu gehörige "cancel culture" beförderten.


    Fast schon wieder lustig ist, dass Du dazu auch noch Thomas Piketty als Kronzeugen herbei zitierst, der sich eigentlich überhaupt nicht als linksradikaler Kapitalismuskritiker in der Tradition von Marx sieht, auch wenn er sein dickes Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" genannt hat, und der eigentlich nur ein linker Sozialdemokrat ist, der sich ausführlich damit befasst hat, zu beschreiben, warum der Kapitalismus seiner Ansicht nach falsch gemanaged wird.


    Seine Behauptung eines linken "Brahmanentums" bezieht sich dann aber ironischerweise gar nicht auf die orthodox-marxistische oder sonstige radikale linke Kapitalismuskritik, sondern auf das was Nancy Fraser als Progressiven Neoliberalismus bezeichnet hat, oder was Sahra Wagenknecht in ihrer jüngsten Polemik mehr oder weniger zurecht unter "Linksliberalismus" zusammenfasst (nur um dann zu konstatieren, dass das eigentlich gar nichts mehr mit dem zu tun habe, was früher als "links" galt) - nämlich: die Aneignung und groteske übersteigerung linker Identitätspolitik durch den bildungsbürgerlichen, "links"-sozialdemokratischen/grünen Teil der neoliberalisierten Mittel- und Oberschicht unter kompletter Negation der linken Klassenfrage, für die sich allerdings auch die QuerdenkerInnen einen feuchten Schiss interessieren.


    Um das als "links" zu bezeichnen, muss man aber schon komplett die linke Tradition der letzten 200 Jahre ignorieren.

  • Natürlich muss „man“ das. Es geht ja um genau diese traditionsvergessenen „Linken“ oder „Links-Liberalen“, die in Wahrheit weder das eine noch das andere sind, und die von Piketty als „Brahmanen“ oder von Wagenknecht als „die Selbstgerechten“ beschrieben werden.


    Nachtwey legt genau diese Selbstgerechtigkeit an den Tag, wenn er Guerot wie beschrieben abkanzelt oder Menschen, die im (aus seiner Sicht) falschen Kontext sagen „my body, my choice“, das Recht auf diese Wahlfreiheit abspricht.


    P.S.

    Deinen eingangs aufgestellten Strohmann kannst du behalten.


  • @onachtwey


    In der kurzen Sentenz bezüglich Atomkraft zeigt sich schön anschaulich die unwissenschaftlich-willkürliche Beliebigkeit deiner „Analyse“. Denn natürlich hatten bzw. haben auch die Maßnahmen- und Impfzwang-Kritiker ihre fachlich fundierten Gegenexpertisen. Von den reichweitenstarken Medien wurden diese aber kaum verbreitet oder, schlimmer noch, die sie vertretenden Experten wurden diffamiert und damit praktisch mundtot gemacht. Ein Vorgang, der sich gerade beim Thema Russland/Ukraine wiederholt, vgl. Davies vs. Krone-Schmalz.


  • Frag mich, ob Stefan Niggemeier die auch mal so an solchen Punkten festnageln würde wie Precht/Welzer.

  • @onachtwey


    In der kurzen Sentenz bezüglich Atomkraft zeigt sich schön anschaulich die unwissenschaftlich-willkürliche Beliebigkeit deiner „Analyse“. Denn natürlich hatten bzw. haben auch die Maßnahmen- und Impfzwang-Kritiker ihre fachlich fundierten Gegenexpertisen. Von den reichweitenstarken Medien wurden diese aber kaum verbreitet oder, schlimmer noch, die sie vertretenden Experten wurden diffamiert und damit praktisch mundtot gemacht. Ein Vorgang, der sich gerade beim Thema Russland/Ukraine wiederholt, vgl. Davies vs. Krone-Schmalz.

    Und deshalb, werter Utan , sage ich, dass Amlinger und Nachtwey die neuen Bewegungen nicht verstehen, wahrscheinlich gar nicht verstehen können, auch wenn sie 500 Seiten darüber schreiben.

  • Und deshalb, werter Utan , sage ich, dass Amlinger und Nachtwey die neuen Bewegungen nicht verstehen, wahrscheinlich gar nicht verstehen können, auch wenn sie 500 Seiten darüber schreiben.

    Ich bin schon ganz gespannt auf Deine sozialwissenschaftlich fundierte Gegentheorie, die Nachtweys und Amlingers Thesen widerlegt.


    Bis dahin gehe ich weiter davon aus, dass die beiden mit ihrer Aussage...:

    Statt Theorie gibt es nur noch Sound- und Argument-Bites, die erratisch zusammengefügt werden; auf argumentative Stringenz legen die Querdenker:innen nur wenig Wert. Sie unterstellen, jeder könne Experte sein. Die Demokratisierung des Wissens schlägt hier um in eine individuelle Anmaßung von Wissen.

    ...vollkommen recht haben, und dass Du, lieber Syd, mit all Deinen hunderten an hier in den letzten zwei Jahren bereits verheizten multiplen Forumspersönlichkeiten ein ums andere mal die anschaulichsten Beispiele für die Richtigkeit ihrer Theorie ablieferst.


    So, jetzt ist aber auch genug mit der Trollfütterung.

  • Ich würde gerne mal einen interessanten Text hier posten, bei dem die Autorin versucht mit Mitteln einer aktuellen Psychoanalyse im Rahmen einer soziologischen Theorie unter Einbettung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse zu erklären, warum überhaupt solche autoritären Persönlichkeiten wie die Querdenker entstehen. Die Existenz des Kapitalismus und seine Wirkung dabei werden miteinbezogen insbesondere seine Rolle bei der frühkindlichen Entwicklung. . Die Autorin geht damit über den Ansatz von Oliver hinaus, der anscheinend keinen Bezug zum Kapitalismus herstellt und der Querdenker-Persönlichkeiten darstellt als würden sie aus sich selbst heraus entstehen, ohne tiefere Einsichten in die Psychologie. Und mit dem Text wird auch die Brücke über den Graben zwischen Soziologie und Psychologie geschlagen, den Hans bei Olivers Methode bei der Studie kritisiert hat. (Oliver sagt am Ende ja selbst, dass es mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit geben muss zwischen Soziologie und Psychologie).


    Aus: Soziologiemagazin. Die Rückkehr des starken Mannes? Antidemokratische Dynamiken unter Beobachtung. 2022






    teil 1

  • Die Autorin geht damit über den Ansatz von Oliver hinaus, der anscheinend keinen Bezug zum Kapitalismus herstellt

    Anscheinend...


    Ist das Deine wissenschaftliche These, Herr Professor, oder probierst Du es jetzt auch einfach mal mit dem Bauchgefühl?


    Das Wort "Kapitalismus" kommt im Buch (laut Suchfunktion meines Ebook-readers) 60 mal in ganz unterschiedlichen Kapiteln vor. Das Wort "kapitalistisch" 47 mal.


    Unter anderem hier:


    [...] Während die Kritische Theorie, wie wir noch zeigen werden, vor allem das Leiden als Sozialpathologie kapitalistischer Individualisierung in den Blick genommen hat, möchten wir den Fokus auf eine andere Folge richten, die aus unserer Sicht einen Schlüssel zur Erklärung des libertären Autoritarismus darstellt: die aktive Affirmation kapitalistischer Freiheitsnormen. Zwar identifizierte sich auch der »eindimensionale Mensch« des organisierten Kapitalismus unmittelbar mit »seiner Gesellschaft und dadurch der Gesellschaft als einem Ganzen«.132 Allerdings fand diese Identifikation auf dem Boden fortgeschrittener Industriegesellschaften statt, wo laut Marcuse das Streben nach Selbstverwirklichung systematisch unterdrückt wurde.133 Heute hat sich die Konstellation grundlegend verändert: Weitgehend befreite Individuen identifizieren sich mit der Gesellschaft, die ihnen umfassende individuelle Selbstentfaltung verspricht und auch bisweilen gewährt. Der Kapitalismus wird von vielen Menschen nicht als Maschine einseitiger Rationalisierung wahrgenommen, die jedes Streben nach Authentizität verhindert, sondern im Gegenteil als ein System, das individuelle Selbstverwirklichung gerade ermöglicht.

    Marx hatte bereits in seiner Rezension »Zur Judenfrage« gegen eine solche Form des libertären Individualismus polemisiert: »Die Freiheit des egoistischen Menschen und die Anerkennung dieser Freiheit ist aber vielmehr die Anerkennung der zügellosen Bewegung der geistigen und materiellen Elemente, welche seinen Lebensinhalt bilden.«134 Regulierende oder umverteilende Interventionen in den Kapitalismus sehen solche Individuen als Eingriff in die Freiheit, in ihre Freiheit. Es ist aber keinesfalls so, dass die verdinglichte Freiheit obsiegen muss. Ihr Gegenstück ist die soziale Freiheit, in der die Individuen sich in ihrer Abhängigkeit wechselseitig anerkennen. Aber das hängt, wie wir im Schlusskapitel argumentieren, auch von der Kraft solidarischer Bewegungen ab.

    Wenn nun also Abhängigkeiten, mit denen die meisten Menschen alltäglich konfrontiert sind, durch die Identifikation mit einem libertären Freiheitsverständnis geleugnet werden, ist dies keineswegs ein rein illusionärer Akt. Es handelt sich eher um ein Resultat der realen individuellen Freiheit, in der Autonomie und Abhängigkeit Hand in Hand gehen. Erinnern wir uns an die gesteigerte Institutionenabhängigkeit der Individuen: Zwar sind sie losgelöst von standardisierten Lebenslaufmustern, doch gleichzeitig können sie auf dem volatilen Markt, auf dem sie sich behaupten müssen, nur selten wirklich selbstbestimmt agieren. Sie sind abhängig von Entwicklungen, die sie nicht kontrollieren können. Dies führt unweigerlich zu unauflöslichen Widersprüchen im subjektiven Bewusstsein. Zwar sind gesellschaftliche Anforderungen wie auch individuelle Ansprüche auf die Erweiterung von Freiheitsräumen ausgerichtet, doch in die erweiterten Sphären der individuellen Besonderung wirken externe Kräfte hinein. Das eigene Handeln ist nicht zwangsläufig Resultat freier, selbstgesetzter Zwecke. Dieser Widerspruch liegt bereits im »principium individuationis« begründet, das auch in spätmodernen Gesellschaften nicht an Geltung eingebüßt hat: Adorno verwies darauf, dass das vereinzelte Individuum »sich abdichten [muss] gegen das Bewußtsein seiner Verstricktheit im allgemeinen«.135 Dieses »Sich-Abdichten« ist ein elementarer Bestandteil des libertären Freiheitsverständnisses. In der Praxis der libertären Freiheit werden die Bedingungen ausgeblendet, auf denen sie gründet, sie zielt auf eine rein äußere Befreiung des individuellen Handlungsvermögens.[...]

  • Das liest sich für mich wie ein soziologischer Ansatz und kein psychologischer, wo indivuelle Verhaltensweisen im Vordergrund stehen (wie in meinem geposteten text). Klar Oliver ist kapitalismuskritisch, was man im Interview sehen konnte, aber sein Buch ist hauptsächlich eine soziologische Arbeit. Es wurden ja auch soziologische Methoden, wie die typischen Umfragen, benutzt. Das ist ja ok, kratzt aber IMO nur an der Oberfläche. In der Psychologie geht man mehr auf individuelle Verhaltensweisen und wie sie gesellschaftlich entstehen ein.

    Und im Interview hat Kapitalismuskritik, wie z. B. Vermarktlichung in immer mehr Lebensbereichen, d. h. immer mehr müssen Menschen sich in Wettbewebsituationen behaupten, aber kaum eine Rolle gespielt. Schade, dass Oliver da nicht mehr rausgeholt hat.

  • Ja Jonny. Psychologie ist auch sehr wichtig und interessant.


    [...] Interessant ist nun, ob und gegebenenfalls wie sich die Psychodynamik der Charakterstruktur verändert hat. In Bezug auf den Autoritarismus des 20. Jahrhunderts nahm die Kritische Theorie an, dass das Nebeneinander von Unterwerfung und Ermächtigung auf eine Ich-Schwäche zurückgeht. Das Ich der autoritären Persönlichkeit, das eigentlich zwischen dem internalisierten Normhaushalt des Über-Ich und dem triebhaften Begehren des Es ebenso vermittelt wie zwischen dem Selbst und der Außenwelt, kann diese Synthese nicht leisten.26 Dies erklärt den übertriebenen Konventionalismus sowie die aggressive Ablehnung von Abweichungen und Abweichler:innen. Gerade in der organisierten Moderne, die auf emotionaler Selbstkontrolle beruhte, geriet das Gleichgewicht der Psychodynamik aus dem Ruder. Als Grund der innerpsychischen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg führen spätere Studien (am prominentesten hier die von Herbert Marcuse) die Entwertung der Familie als Sozialisationsinstanz an. So autoritär und gewaltvoll es in der Kleinfamilie bis weit ins 20. Jahrhundert zuging, war sie doch gleichzeitig ein privater Schutzraum.


    In der wohlfahrtsstaatlichen Massengesellschaft nimmt der Zugriff sozialer Institutionen zu, oft werden hier die Massenmedien, die Schule und peer groups genannt. Die Kinder schauen am Nachtmittag Tom und Jerry oder streifen mit den Freunden um die Häuserblocks und sitzen nur noch beim gemeinsamen Abendessen mit den Eltern an einem Tisch. Die »vaterlose Gesellschaft« (Alexander Mitscherlich)27 verhindert die konflikthafte Reibung, in der das Ich ausgebildet wird: »Das Ichideal wird dazu gebracht«, schreibt Marcuse, »auf das Ich direkt und ›von außen‹ einzuwirken, ehe noch das Ich tatsächlich sich als das persönliche und (relativ) autonome Subjekt der Vermittlung zwischen dem eigenen Selbst und den anderen herausgebildet hat«.28

    Damit will Marcuse die Entstehung einer angepassten Masse erklären, die sich einem erweiterten Realitätsprinzip unterwirft. Galt das Realitätsprinzip für Freud noch als zivilisierende Funktion des Ich, entwickelt es sich für Marcuse im fortgeschrittenen Kapitalismus zu einem Kontrollinstrument, das eine »zusätzliche Unterdrückung« zeitigt:

    "[W]ährend jede Form des Realitätsprinzips ein beträchtliches Maß an unterdrückender Triebkontrolle erfordert, führen […] die spezifischen Interessen der Herrschaft zusätzliche Kontrollausübungen ein, die über jene hinausgehen, die für eine zivilisierte menschliche Gemeinschaft unerläßlich sind."29


    Freud leitete das Realitätsprinzip aus einem Mangel ab, es gab in vorindustriellen Gesellschaften schlicht nicht genug Ressourcen, um alle individuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Das Individuum musste seine Wünsche zurückstellen, es lernte dadurch aber auch abzuwägen, entwickelte ein Gewissen.

    In kapitalistischen Wohlstandsgesellschaften ist dies laut Marcuse anders. Hier herrscht ein Überfluss an Waren, aber gleichzeitig dominiert das Leistungsprinzip. Individuen müssen sich permanent bewähren. Starre Verhaltensnormen werden liberalisiert, gleichzeitig verengt sich die Lust auf den Bereich des Konsums und der Sexualität. Das Begehren wird gleichzeitig enthemmt und unterdrückt, und eben diese von Marcuse sogenannte »repressive Entsublimierung« führt zu einem Verlust des Gewissens (siehe Kapitel 1).
    Die Individuen der westlichen Industriegesellschaften neigten zu autoritären, antidemokratischen Einstellungen, da sie das vermittelnde und abwägende Selbst, das auf kritische Distanz gehen kann, verloren hatten.

    Heute begegnet uns der autoritäre Charakter in einer anderen Form. Statt Wohlfahrtsstaat, Massenkonsum und Selbstkontrolle basiert die spätmoderne Individualität auf deregulierter Eigenverantwortung, auf dem Konsum singulärer Waren und Erlebnisse sowie auf einem gesteigerten Selbstverwirklichungsanspruch. Es ist nicht mehr das Ausmaß der repressiven Entsublimierung allein, das zu aggressiven Impulsen führt. Stattdessen werden konträre gesellschaftliche Anforderungen verinnerlicht.

    Gunnar Hindrichs verweist darauf, dass der »Rationalismus der bürgerlichen Gesellschaft den Hedonismus in sich aufgenommen« hat.30 Dadurch ist das Ich vor unlösbare Dilemmata gestellt: Es muss der rationalen Steigerungslogik der Leistungsgesellschaft folgen und soll gleichzeitig einen authentischen Selbstentwurf verkörpern. Doch nicht nur das. Sosehr sich die Einzelnen auch anstrengen mögen (und dies wollen und müssen sie als eigenverantwortliche Individuen), sie können die verinnerlichten Erwartungen nicht erfüllen.

    Dies liegt zum Teil an der Steigerungslogik der sozialen Normen selbst (Erfolg ist unersättlich, die Konkurrenz lauert überall, die Suche nach dem eigenen Selbst ist potenziell unendlich usw.), gleichzeitig hat es aber auch mit dem Umstand zu tun, dass sie auf strukturelle Hürden stoßen, die sie an der Erfüllung dieser Normen hindern (siehe Kapitel 2). Obwohl man alles richtig macht – Abitur, Studium –, hat man keinen Erfolg. Die zahlreichen Bewerbungen führen nicht zur ersehnten Anstellung. Oder man sieht sich mit einem paternalistischen Staat konfrontiert, der einem Schranken auferlegt, denen man nicht zugestimmt hat, die man aber aus innerer Einsicht befolgen soll (siehe Kapitel 3).


    Das wohl entscheidende Moment für die Metamorphose des autoritären Charakters ist jedoch, dass die Vergesellschaftung in das Individuum verlegt wird, was zu inneren Spannungen und Kränkungen führt (siehe Kapitel 4). Die aggressive Demonstration der eigenen Unabhängigkeit ist gleichzeitig Symptom spätmoderner Individualisierung wie Protest gegen sie.[...]



    Andererseits...

    wer keinen blassen Schimmer von den Machtstrukturen hat, der psychologisiert halt.

  • 😴vergiss es einfach

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