Du möchtest jetzt speziell die NATO thematisieren?
Ich habe das nicht selbst thematisiert, sondern ich bezog mich dabei auf Deinen diesbezüglichen Wortwechsel mit Roy...
...in welchem Du ihn fragtest, ob er dafür sei, die NATO abzuschaffen, und ihm dann auf seine Bejahung der Frage antwortetest, Du seist früher auch für ihre Abschaffung gewesen, habest Deine Meinung aber nach dem Massaker von Butscha geändert. Den Zusatz "jedwede Abschreckung" verstehe ich in diesem Kontext so, dass Du die NATO als Mittel zur Abschreckung gegen Kriegsverbrechen ansiehst und mit ihrer Abschaffung auch eine Abschaffung dieser Abschreckung verbinden würdest.
Hier genau zu argumentieren und zwischen der speziellen "Abschreckung" durch das nordatlantische Bündnis und einer generellen Abschreckung durch stehende Heere, Marinen und Luftwaffen von Nationalstaaten zu unterscheiden, finde ich aus drei Gründen wichtig...:
1. ...weil man durchaus das Argument machen könnte, dass Butscha (und viele andere Kriegsverbrechen) ohne die Aufrechterhaltung eines Militärbündnisses, das nach dem kalten Krieg seinen Hauptgegner verloren hatte, und sich anschliessend dennoch durch seine Osterweiterung gegen einen potenziellen Gegner Russland positionierte, möglicherweise* gar nicht stattgefunden hätte.
Dabei wurde auch dem ukrainischen Staat nicht nur in Aussicht gestellt, irgendwann in das westliche Miliärbündnis aufgenommen zu werden, sondern er wurde auch bereits vor der russischen Annexion der Halbinsel Krim und dem Beginn des Bürgerkrieges im Donbass de facto in Form von Ausbildung, gemeinsamen Manövern und sogar Kriegseinsätzen des ukrainischen Militärs mit NATO-Streitkräften - wie z.B. im Irak - auch ohne offizielle Aufnahme bereits teilweise in die militärischen Strukturen der NATO integriert.
*Ich schrieb bewusst "möglicherweise", weil ich das natürlich nicht sicher weiß, und weil man dieser Sichtweise in der deutschen Öffentlichkeit leider gerne zumindest Naivität gegenüber den mutmaßlich(!) revisionistischen bis genozidalen putinschen Gelüsten einer Wiederherstellung des russischen Zarenreiches in den Grenzen des Warschauer Paktes vorhält, wenn man ihr nicht gar Sympathie mit den Zielen eines (mutmaßlich) größenwahnsinnigen Kreml-Diktators unterstellt.
2. Womit wir direkt zum nächsten Punkt kommen:
Waffen geben wir den Ukrainern nicht deshalb, um ihnen beim Sterben zuzuschauen, sondern damit sie am Leben bleiben. Um Putin abzuschrecken. Liege ich richtig in meiner Annahme, dass Du die Waffenlieferungen abstellen willst und stattdessen Verhandlungen, Verhandlungen, Verhandlungen antreiben möchtest?
"Wir" (ich persönlich habe keine nennenswerten Bestände an schweren Waffen vorrätig, die ich vergeben könnte) geben dem ukrainischen Staat Waffen, weil unsere Regierenden - je nach politischer Schattierung zwischen Schwarzbraun und Tarngrün - die Losung ausgegeben haben, dass "Russland" "nicht gewinnen" dürfe (O. Scholz), dass "Russsland" "ruiniert" werden müsse, bzw. dass "wir" und unsere Verbündeten einen "war against Russia" führten (A. C. A. Baerbock).
Dass mit den Waffenlieferungen mehr UkrainerInnen am Leben geblieben wären als ohne, ist eine reine Mutmaßung, die sich eigentlich nur aufrecht erhalten lässt, wenn man der weit verbreiteten - und auch von Prof. Dr. Masala und KollegInnen gestützten - Erzählung folgt, Putin sei ein wahnsinniger Wiedergänger Hitlers und Stalins in Personalunion, dem es dabei um nichts schändlicheres gehe, als um eine Vernichtung der Ukraine bis hin zum gezielten Völkermord an ihrer Bevölkerung.
Wir wissen natürlich nicht genau, wie viele Menschen ukrainischer (oder russischer) Nationalität bisher im Kampf des russischen Staates gegen den ukrainischen Staat schon sterben mussten, aber je nach Schätzung bewegt sich die Zahl an Todesopfern trotz umfrangreicher Lieferungen schwersten westlichen Mordwerkzeuges insgesamt bereits im hohen fünfstelligen bis niedrigen sechsstelligen Bereich und sie wird sehr wahrscheinlich in den nächsten Wochen noch bedeutend ansteigen, sollte die ukrainische Führung ihre lang angekündigte Frühjahrsoffensive tatsächlich mit der im Westen so sehnlich gewünschten Wucht in die Tat umsetzen.
Meine Frage nach der Signifikanz der russischen Kriegsverbrechen in Butscha für Deinen persönlichen Sinneswandel vom radikalen Pazifisten zum NATO-Unterstützer Befürworter einer militärischen "Abschreckung" bezog sich auf genau diesen Umstand, denn die Zahl der bisher getöteten, verstümmelten, verwundeten und aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen (allein ca. 8 Millionen im Ausland, ohne Inlandsgeflüchtete) in der Ukraine ist mittlerweile um Größenordnungen höher, als die 441 getöteten ZivilistInnen in der Region um den nördlichen Vorort der ukrainischen Hauptstadt, und die weiteren 198 bisher dokumentierten Fälle in den von russischen Truppen besetzten Gebieten im Süden und Osten des Landes, welche derzeit von der UNO untersucht werden. Selbst wenn man - wie die UN - durchaus begründet davon ausgeht, dass die tatsächliche Zahl der von russischen Soldaten und Söldnern außerhalb der unmittelbaren Kriegshandlungen getöteten, verwundeten und misshandelten ZivilistInnen deutlich höher ist, als die bisher dokumentierten Fälle, wird sie dennoch mit Sicherheit bedeutend kleiner sein, als die Zahl jener, die durch die direkten Kampfhandlungen und ihre Spätfolgen betroffen waren und immer noch sind.
Den Tod dieser Menschen haben die deutsche Bundeswehr oder die Existenz der NATO - inklusive der größten Militärmacht aller Zeiten mit konventionellen wie atomaren Erstschlagkapazitäten auf dem ganzen Planeten - in deren Befehlsgewalt sie auch per "nuklearer teilhabe" integriert ist, trotz ihres gewaltigen "Abschreckungs"-Potenzials genauso wenig verhindert, wie sie die restlichen zigtausend ZivilistInnen und SoldatInnen retten konnte, die dem russischen Angriffskrieg bisher zum Opfer gefallen sind.
Mein Schlusswort in "Schicht 3" war eine Vorbeugung für den Fall, dass in Deiner vielschichtigen Anmerkung auch der Vorwurf der unterlassenen Hilfe in nicht-ukrainischen Dingen stecken könnte. (Ich mag das Wort "Whataboutism" nicht; wie sagt man das auf deutsch? Dagegen jedenfalls, wollte ich vorbeugen.)
3. Die Andeutung, es läge ein "whataboutism" vor, wenn man auf die Kriegsverbrechen und auf die mittlerweile in die Millionen gehenden Todesopfer hinweist, welche unsere NATO-Partner und ihre diversen Verbündeten und Koalitionen der Willigen in anderen Weltregionen zu verantworten haben, entkräftet nicht das Argument, das damit gemacht wird.
Wenn die westliche Wertegemeinschaft es in anderen Weltregionen für tolerabel genug hält, dass massenhaft Menschen getötet, Frauen vergewaltigt und Kinder verwaist werden, um dort nicht die geballte Waffenpower der westlichen Kriegsindustrie zum Schutz der Zivilbevölkerung zum Einsatz zu bringen, dann muss sie sich fragen lassen, ob es im Fall der Ukraine dabei wirklich um deren "Nationale Identität" oder um den Schutz von auf ihrem Staatsgebiet lebenden Menschen geht, oder ob damit nicht ein ganz anderes, für ihre eigene Daseinsberechtigung viel relevanteres Ziel verfolgt wird - nämlich: Die Behauptung der vom US-Amerikanischen Staat angeführten ökonomischen und militärischen Hegemonie in Europa und Zentralasien.
Übrigens, falls das relevant ist: Die wagenknechtsche Geschichte, Putin habe einen NATO-Angriff gegen Russland befürchtet und deshalb sei er so brutal geworden, halte ich nicht für plausibel. Und selbst wenn sie wahr wäre, so sähe ich darin keinen Grund, die Ukraine Putin zu überlassen. Ist das der eigentliche Kern Deiner Anfrage?
Nein. Das ist nicht Kern meiner Anfrage.
Ob Wagenknecht dieser putinschen Propagandaerzählung wirklich irgendwo zugestimmt hat, oder ob man ihr das einfach nur unterstellt. müsste man mal genauer ergründen, bzw. belegen, wenn man das so behauptet.
Worin ich Wagenknecht nach wie vor nur zustimmen kann, ist die Kritik an der westlichen - und insbesondere der deutschen - Anmaßung, an dieser Eskalation des Konfliktes keinerlei Mitschuld zu tragen, sich daher eindeutig auf der moralisch richtigen Seite wähnen zu dürfen, und jeden Versuch, einen Kompromiss auszuhandeln, der das Morden und Totschlagen beenden könnte(!), als potenzielle Unterstützung des Putin-Regimes zu brandmarken.
Die russische Staatsführung hat Gründe für diesen Angriffskrieg. Die mögen im Habitus einer hochmoralisch aufgeladenen Behauptung, für nichts geringeres als für die Bewahrung humanistischer Werte einzustehen, verwerflich sein, aber die russische Position komplett zu ignorieren und für diplomatisch indiskutabel zu erklären, ist genau der Ausdruck westlicher Arroganz, den Wladimir Putin und seine Kamarilla brauchen, um ihre brutale staatliche Gewaltaktion im Nachbarland gegenüber der eigenen Bevölkerung als notwendiges Übel zu rechtfertigen.
Ich bin nicht dafür, "die Ukraine Putin zu überlassen".
Ich bin dagegen, die ukrainische Bevölkerung als militärische Verbrauchsmasse und moralische Rechtfertigung für einen Stellvertreterkrieg zu benutzen, in dem es - meiner Ansicht nach - nicht um getötete ZivilistInnen, vergewaltigte Frauen und verschleppte Kinder geht, sondern einzig und alleine darum. dass zwei geopolitische Machtblöcke auf Kosten dieser ukrainischen Bevölkerung ihre jeweiligen Großmachtansprüche mit äußerster Gewalt gegeneinander ausfechten.
Und so lange sich da nicht irgendwann mal ein Klügerer findet, der es über sich bringen kann, nachzugeben, sehen wir als reine Subjekte der kriegführenden Staatsgewalt die dabei absolut nichts mitzureden haben, weiter hilflos dabei zu, wie sich alle Beteiligten in eine mit zunehmender Dauer dieses Krieges immer schwerer aufzulösende Kriegslogik verbeißen, aus der es irgendwann keinen anderen Ausweg mehr geben wird, als die direkte Konfrontation der Atommächte.