Die große Transformation

  • Es tut mir wirklich und ehrlich leid, ich kann fast allerorten eher das Gegenteilige beobachten. Teile mir da doch gerne mal mit, in welchen gesellschaftlichen Bereichen du dich so bewegst. Ganz ernst gemeint und ohne jede Ironie.

    Ich beziehe mein Wissen eigentlich so gut wie nie aus Annekdoten oder private Beobachtungen aus meinem privaten Leben, sondern beziehe mich auf wissenschaftliche Studien, Arbeiten usw. Also mehr auf ein gefestigtes, überprüfbares Wissen (soweit es in den Humanwissenschaften möglich ist) . Das liegt einfach daran, dass man nicht vom Einzelnen auf das Allgemeine und umgekehrt schließen kann. Wenn ich in einer Nachbarschaft lebe, wo jeder ein SUV fährt, dann kann ich nicht darauf schließen, dass jeder andere in De auch SUV fährt usw. Du hast da eher Probleme mit deiner Epistemologie (in seiner eigenen Blase versteift man sich oft auf nur einem einzigen blickwinkel, lernt wenig neues, selbsterfüllende Prophezeiungen ect.) Das hat jetzt weniger mit dem Thema hier zu tun, ist aber IMO halt schon notwendig, um richtige Analysen zu machen. Und eine Arbeiterklasse (als historisiertes Objekt) gibt es nicht mehr, aber es gibt die Klasse der Lohnabhängigen und die existiert objektiv. Tut mir auch ganz ehrlich Leid.

  • Was Wertewandel angeht, denke ich, dass es viele Beweise gibt, die zeigen, dass die Werte für die Transformation schon da sind, auch schon immer da waren. Sie aber durch ökonomischen Sachzwängen unter der Oberfläche verborgen sind.

  • Das Wesen des Menschen in seiner "Kulturschaffenden", zeitgenössischen Form ist auf Herrschaft, Besitz, Gewalt, Ausgrenzung, Hierarchie und vor allem auf Besitz und auf das "Oben" konstruiert und ausgerichtet. Im Kern unseres Wesens befinden wir immer uns noch genau da, wo das Rudel Affen seit der Erkenntnis, dass ein Knochen = Werkzeug = Waffe = Herrschaft = Ressourcensicherung ist. Abgesehen von beheizten Lenkrädern und etwas Mitbestimmung sind wir in unserer Selbstwahrnehmung und im Umgang mit anderen Lebenswesen so ziemlich noch genau an diesem Wasserloch.

    Nichts gegen Kubricks 2001 als Meilenstein der Filmgeschichte, aber die Idee, dass schon die ersten Hominiden sozusagen die "Erbsünde" begangen, als sie entdeckten, dass ein Knochen sowohl Werkzeug als auch Waffe sein kann, dass sie sich alsdann dazu entschieden, sich damit gegenseitig den Schädel einzuschlagen - und dass sich dieses "Wesen" des Menschen bis in die heutige Zeit fortgesetzt habe, ist eher der Ideologie geschuldet, die den heutigen Gesellschaften und ihren kulturschaffenden Filmemachern das Leben im Kapitalismus als natürliche Entwicklung vorgaukelt, als den Erkenntnissen anthropologischer Forschung über Gesellschaften, die nicht in kapitalistischen Verhältnissen lebten. Der religiöse Bezug ist auch nicht zu vernachlässigen. erst die "göttliche" Eingebung durch das plötzliche Erscheinen des außerirdischen Monolithen, bringt die Affengemeinde zur Ekstase. Der Film ist als solcher großartig, aber er wurde natürlich - genau wie die ihm zugrunde liegende Kurzgeschichte von Arthur C. Clarke - von Menschen erdacht, die in einer durch Jahrtausende des christlichen Kulturkampfes gegen die unzivilisierte "Barbarei" und von Jahrhunderten der marktförmigen Konkurrenz geprägten kapitalistischen Gesellschaft sozialisiert wurden.


    Dass Menschen ihrem natürlichen "Wesen" nach eher zur Kooperation als zum brutalen, gewaltsamen Individualismus neigen, ist ironischerweise sogar eine Vorraussetzung dafür, dass der Kapitalismus überhaupt funktioniert (also zumindest für die Kapitalisten). Würden Millionen von LohnarbeiterInnen nicht jeden Tag friedich und ganz selbstverständlich zusammenarbeiten, um den Reichtum ihrer ArbeitsplatzeigentümerInnen zu mehren, sondern sich tatsächlich so antisozial verhalten, wie die "liberale", und vom Neoliberalismus auf die Spitze getriebene Heilslehre von der totalen individuellen Freiheit als höchstem aller Werte es suggeriert, und wie sie es von den Werbebotschaften der Warenanbieter immer wieder vorgeführt bekommen, dann würde keine Baustelle, keine Fabrik und kein Großraumbüro funktionieren und wir hätten uns als Spezies vermutlich schon selbst ausgerottet, lange bevor der erste Mensch auf die Idee kam, einen Webstuhl mit einer Dampfmaschine anzutreiben.


    Wenn man heute gerade unter jenen Menschen eine immer stärkere Vereinzelung und Hinwendung zu menschenfeindlichen Ideologien beobachtet, die in prekären Verhältnissen arbeiten müssen, oder die einfach gar keine Arbeit mehr verrichten können, welche in dieser kapitalistischen "Leistungsgesellschft" noch als werthaltige - sprich: Den Profit der EigentümerInnen mehrende - Leistung anerkannt wird, dann ist das kein Beweis dafür, dass Menschen von Natur aus egoistische Monster sind, die nur durch das laute Knallen der ökonomischen Anreizpeitsche zu friedlicher Koexistenz und Kooperation diszipliniert werden können, und dabei von den verantwortungsvolleren Eigentümerinnen der Produktionsmittel und staatlichen Institutionen an der Hand geführt werden müssen, sondern dafür, dass die kapitalistische Marktwirtschaft und ihr absolut menschenfeindlicher Arbeitsmarkt diese Leute davon ausschliesst, sich als Mitlieder einer Gemeinschaft wahrzunehmen, und sie dann folgerichtig in die Arme von rechten Demagogen treibt, die ihnen ein scheinbar alternatives Gemeinschaftsgefühl versprechen.


    Wenn das ganze sozioökonomische System und seine Gesellschaft darauf ausgerichtet sind, dass anständige BürgerInnen regelmäßig die Hälfte ihrer im Wachzustand verbrachten Lebenszeit mit dem Dienst am Bruttoinlandsprodukt zu verbringen haben, damit die große Geldmaschine nicht ins Stocken gerät, und dabei gleichzeitig einen Konkurrenzkampf um das knappe Gut "halbwegs menschenwürdig bezahlter Arbeitsplatz" betreiben, dann ergibt sich daraus zwangsläufig, dass Menschen von dieser "sozialen"(-> gesellschaftlichen) Teilhabe ausgeschlossen werden, weil sie sich am Arbeitsmarkt nicht erfolgreich genug vermarkten können.


    Dass jene Menschen selbst antisoziale Subjekte seien, weil sie sich weigern, ihren Beitrag zum kapitalistischen "Gemeinwohl" zu leisten, ist ein ideologischer Zirkelschluss, der völlig ausblendet, dass es die herrschenden Verhältnisse zwischen am Warenmarkt konkurrierenden, Waren anbietenden ArbeitsplatzeigentümerInnen, und am Arbeitsmarkt konkurrierenden Arbeitskraftanbieterinnen selbst sind, die überhaupt erst dazu führen, dass immer größere Teile der Masse an potenziellen Arbeitskräften zum Bestandteil der lohnarbeitslosen "Reservearmee" werden, deren Existenz den nötigen Konkurenz- und Selbstoptimierungsdruck erzeugt, welcher es den noch arbeitenden, oder sich in Berufsausbildung befindlichen Individuen nahelegt, sich nicht durch allzu lautes Aufbegehren gegen jene Verhältnisse für die Verwertung unattraktiv zu machen.


    Will man diese tautolgische Selbstentmündigung der lohnarbeitenden Klasse beenden, dann muss man die Menschen aus der Lohnabhängigkeit befreien. Und das geht nur, wenn man die EigentümerInnen der Lohnarbeitsplätze von ihrem Eigentum befreit.

  • Ich hab mal nen Artikel Veröffentlicht der hier vielleicht dazu passt:


    Geld oder Liebe?

    Dieser Artikel erschien in "Hinterland", dem Magazin des Bayerischen Flüchtlingsrates.


    In einem Labor der Berkeley Universität spielen zwei zufällig ausgewählte Testkandidaten Monopoly. Der eine Spieler zieht den Spielstein (den Rolls-Royce) mit einem triumphierenden „tock, tock, tock“ über das Spielfeld und beendet seinen Spielzug mit einem lauten Knall. Genüsslich zählt er das Spielgeld, dass sein Gegenspieler mit einer schicksalsergebenen Teilnahmslosigkeit über den Tisch schiebt. Offenbar zeichnen sich in diesem Spiel ein Sieger und ein Verlierer ab. Vor einem der Spieler türmen sich nicht nur die Geldstapel, irgendwie ist auch die Schüssel mit den Salzbrezeln, an der er sich großzügig bedient, in seine Nähe gewandert. Um so länger das Spiel dauert, desto unangenehmer wird die Stimmung zwischen den Spielern. Der schweigsame Verlierer muss sich immer öfter unhöfliche, triumphierende Kommentare gefallen lassen wie „Ich kann schon gar nicht mehr verlieren.“ oder „Bald gehört mir alles was Du hast.“.

    Nach 15 Minuten wird das Experiment abgebrochen und die Teilnehmer nach ihren Erlebnissen befragt. Der Gewinner wird voller Selbstbewusstsein sein Spielgeschick herausstellen und mit echter Überzeugung erklären warum er seiner Meinung nach den Sieg verdient hat. Tatsächlich aber war das Spiel von Anfang an zu seinen Gunsten manipuliert. Ein Los vor Beginn des Spiels hatte entschieden, wer das doppelte Startkapital erhält, das doppelte Einkommen bei „Los“ einzieht und nicht nur mit einem, sondern zwei Würfeln ziehen darf. Dass ein Münzwurf über diese unfairen Ausgangsbedingungen entschieden hatte, war bei den über hundert Kandidatinnen und Kandidaten in der Rückschau der Gewinnerinnen und Gewinner weit weniger Präsent, als in der der Verliererinnen und Verlierer. „Das ist eine wirklich unglaubliche Erkenntnis darüber, wie das menschliche Gehirn einen solchen Vorteil verarbeitet“, erklärt Paul Piff, Psychologe im „Berkeley Social Interaction Laboratory“ (1).

    In den Arbeiten von Prof. Dacher Keltner, Doktorvater von Paul Piff und Direktor des „Berkeley Social Interaction Laboratory“, geht es um die Liebe als soziales Phänomen. Er steht damit ganz in der Tradition von Sozialpsychologen wie Erich Fromm, der mit „Die Kunst des Liebens“ eines der einflussreichsten philosophischen Werke über die Liebe verfasst hat. Wie Erich Fromm sieht Dacher Keltner das Mitgefühl bzw. die Nächstenliebe als die fundamentale Eigenschaft des Menschen und „die fundamentalste Art von Liebe, die allen anderen Formen zugrunde liegt“ (2). „Unsere Spezies hat überlebt, weil wir die Fähigkeit entwickelt haben, zu kooperieren und für Hilfsbedürftige zu sorgen“ sagt Dacher Keltner und stützt sich damit auf Erkenntnisse der Evolutionspsychologie die bis Pjotr Kropotkin zurückreichen. (3)


    Im Rahmen der Dissertation "On wealth and wrongdoing: How social class influences unethical behavior." (4), hat Paul Piff daher verschiedene Versuche darüber durchgeführt ob Mitgefühl und Nächstenliebe durch Reichtum beeinflusst werden. Im Verlauf dieser Arbeit stellte Paul Piff fest, dass sich Reiche weniger an die Straßenverkehrsordnung halten, öfter unethische Entscheidungen treffen, eher bereit sind sich bewusst auf Kosten anderer zu bereichern und weit häufiger schummeln um zu gewinnen. Er meint einen eindeutigen Zusammenhang zwischen sozialer Klasse und (un)sozialem Verhalten feststellen zu können, auch wenn natürlich nicht alle Reichen gierig und hartherzig und nicht alle Armen großzügig und mitfühlend sind.

    Laut Paul Piff nehmen mit steigender sozialer Klasse Nächstenliebe, Empathie und Mitgefühl ab, während die Bereitschaft die üblichen Rechtfertigungen von sozialer Ungerechtigkeit zu akzeptieren, wie „Gier ist gut“ oder „Reiche haben sich ihr Vermögen verdient“ zunimmt.

    „In dem Monopolyspiel wollten wir untersuchen wie sich das Verhalten der Gewinner in einem solchen manipulierten Spiel verändert.“ erläutert Paul in seinem TED Vortrag der bereits mehreren Millionen mal im Internet aufgerufen wurde (1). Bemerkenswert an diesem Monopoly-Versuch ist, dass die Klassenunterschiede sich erst in diesem Spiel entwickelten. Beide Spieler waren Studenten der Berkeley Universität mit ähnlichem sozialen Hintergrund. Auch wenn Monopoly in einem fairen Spiel möglicherweise ehrgeizigere Spielerinnen und Spieler bevorzugt, hatte das keinen Einfluss auf den manipulierten Spielverlauf.

    Zeigen die Ergebnisse von Paul Piff und Dacher Keltner, dass allein Geld zu haben schon genügt um den Charakter eines Menschen negativ zu beeinflussen? Was könnte so besonders an Geld sein, dass es diesen Einfluss auf unseren Charakter zu haben scheint?

  • Fortsetzung:


    In der gängigen Überlieferung der Wirtschaftswissenschaft wurde Geld vor allem als ein praktisches Tauschmittel erfunden ohne das wir ständig Hühner in Kartoffeln umrechnen oder Zigaretten, Salz oder Kaffee als Trinkgeld für die Kellnerin bereithalten würden. Das Problem an dieser Geschichte ist, dass diese Form einer Tauschwirtschaft nie existiert hat, schreibt David Graeber, Anthropologe, Anarchist und Held der Occupy-Wallstreet Bewegung in seinem wissenschaftlichen Bestseller „Schulden, die ersten 5000 Jahre“ (6). Er meint bevor wir Geld hatten, haben wir uns Gegenseitig beschenkt. Geld als Münze ist im wesentlichen eine Militärtechnologie. Erst als stehende Heere bezahlt werden mussten, erfanden Herrscher die Münzen. Wenn wir mit jemand auf Heller und Pfennig abrechneten, dann nur weil wir diese Person möglicherweise überhaupt nicht mochten und wahrscheinlich nie wieder sehen wollten.

    Statt Tauschwirtschaften gab es laut Graeber sog. Schenkökonomien. Es genügte in diesen Schenkökonomien anzudeuten, dass Sie Bedarf an etwas haben, dass eine andere Person besitzt und schon war diese verpflichtet es ihnen zu geben. Im Gegenzug blieben Sie etwas schuldig. Diese Schuld bestand nicht unbedingt dem Schenker gegenüber, sondern der Gemeinschaft insgesamt. Am angesehendsten waren diejenigen die am meisten gaben und nicht die die am meisten hatten.

    Unsere Gesellschaft funktioniert heute scheinbar genau anders herum, tatsächlich aber meint Graeber in unserer Gesellschaft überall Reste dieses Denkens zu sehen. Wenn uns eine Person etwas bedeutet und wir das ausdrücken wollen, dann beschenken wir sie. Sie wird dieses Geschenk möglicherweise mit einem anderen Geschenk erwidern, vielleicht aber auch nicht. Wenn sie das Geschenk aber ablehnt oder das Geschenk oder den exakten Gegenwert zurückgibt, dann sind wir „quitt“ und die soziale Beziehung ist zumindest gestört.

    Neu an David Graeber's Arbeit ist, dass er seine Betrachtungen über Geld und Schulden aus dem Kontext unserer Zeit und unseres Wirtschaftssystems heraus löst. Seine Arbeit geht daher über eine Kapitalismuskritik oder Sozialkritik hinaus.

    Die Liebe als kollektive Nächstenliebe, wie sie Erich Fromm oder Pjotr Kropotkin definierten, war auch eine der zentralen Botschaften der 68er bzw. der Hippie Bewegung. In dieser Tradition wird Liebe „als anarchisches und entgrenzendes Gegenmodell zu den Beschränkungen, Anforderungen, Funktionalisierungen und Ökonomisierungen der menschlichen Alltags- und Arbeitswelt aufgefasst.“ (7). Es hat allerdings bis heute gedauert bis jemand den direkten Einfluss von Geld auf die Liebe untersuchte. Geben uns David Graebers Einblicke in die Schenkökonomien einen Hinweis darauf warum das Geld den Menschen beeinflusst?

    Dass Liebe und Schenken viel mehr gemeinsam haben als Liebe und Geld wissen wir eigentlich schon lange, diese banale Weisheit ist Teil unserer Überlieferungen von Jesus bis Lennon.

    Die Dinge die wir lieben sind „unbezahlbar“ und Liebe verlangt nach keiner Gegenleistung. Anscheinend hatten wir schon lange vor der Erfindung der Marktwirtschaft Erfahrungen mit dem negativen Einfluss des Geldes auf die Liebe.

    Die Arbeiten von Paul Piff und David Graeber weisen auf einen fundamentaleren Gegensatz von Liebe und Geld hin, der Unabhängig von anderen Einflüssen unseres Wirtschaftssystems zu sein scheint. Ist unser Dilemma also „Geld oder Liebe“? Können wir dieses Dilemma auflösen? Gibt es eine Form des Geldes in dem Liebe einen Platz hat?

    Dieser Fragen hat sich ein weiterer Denker der Occupy-Wallstreet Bewegung verschrieben. Der Amerikanische Philosoph und Autor Charles Eisenstein versucht mit seinem Buch „Sacred Economics“ nichts geringeres, als Geld und Liebe unter einen Hut zu bringen.

    Seine Lösungen für das Dilemma sind dabei nicht unbedingt neu, revolutionär ist nur sie im Zusammenhang mit der Liebe zu Denken. Charles Eisenstein greift wie David Graeber auf Erkenntnisse aus der ersten Hälfte des 20. Jh. zurück. Er stellt sich dabei vor allem die Frage ob Maßnahmen wie die Sozialdividende (Bürgergeld, Grundeinkommen) oder das Schwundgeld (negative Zinsen, umlaufgesteuertes Geld) den negativen Einfluss des Geldes auf die Liebe verändern könnten. Vor allem das Schwundgeld hat für Eisenstein dabei das Potential, Geld und Liebe zu vereinbaren, wobei er Fern jeder banalen Zinskritik argumentiert.

    Das erste Experiment mit negativen Zinsen fand im Jahr 1932 in Wörgl statt. Mit der damaligen Wirtschaftskrise kam das gesamte Leben in Wörgl in Tirol zum erliegen. Geld so schreibt Eisenstein, scheint seltsame magische Eigenschaften zu haben. Obwohl die Infrastruktur und die Menschen die eine Gemeinschaft am Leben erhalten nicht verschwunden sind und obwohl Geld im Grunde nur eine Vereinbarung ist die wir untereinander treffen, bricht offenbar alles zusammen wenn das Geld weg ist. In Detroit, dass sich heute in einer ähnlichen Situation wie Wörgl 1932 befindet, können Krankenhäuser, Rettungswägen, Schulen, Kindergärten oder die Feuerwehr nur deshalb ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen weil an der Wallstreet scheinbar eine unsichtbare Energie vernichtet wurde, die diese am laufen hielt. Dabei legitimieren sich Gemeinschaften auch heute vor allem durch die sozialen Aufgaben die man in der Gemeinschaft teilt und nicht durch den Profit oder das Wachstum das erzielt wird.

    Als der Wörgler Bürgermeister Unterguggenberger 1932 eine lokale Währung ausgab die monatlich 1% ihres ursprünglichen Wertes verlor, kam nicht nur die Wirtschaft in Schwung. Wie in der Schenkökonomie wurden plötzlich die gemeinsamen Projekte und der Austausch von Leistungen füreinander zum sozialen Kit der Gesellschaft.

    „Während Sicherheit in einem zinsbasierten System aus der Anhäufung von Geld resultiert, kommt sie in einem Schwundsystem von produktiven Kanälen, durch die man es dirigiert. Man wird also eher ein Knotenpunkt für den Wohlstandsfluss als ein Akkumulationspunkt. Mit anderen Worten legt es den Fokus auf Beziehungen, nicht auf das Haben.“ Charles Eisenstein (8).

    Er schreibt: „Nehmen wir an, ich hätte zwölf Brotlaibe und Sie wären hungrig. So viel Brot kann ich nicht essen bevor es hart wird, also gebe ich Ihnen gern etwas davon ab.“ (8) Ein gieriges Horten von Brot macht keinen Sinn. Geld das verdirbt wenn man es länger besitzt hat seiner Meinung nach die gleichen Eigenschaften. Wenn man mehr Schwundgeld hat als man benötigt, ist es vernünftiger man schenkt es anderen, die einem dafür etwas Schuldig bleiben. Schwundgeld verhindert so das Anhäufen von Geld, befördert die Großzügigkeit und das Schenken und damit den sozialen Zusammenhalt der Gemeinschaft. Auf diese Weise kann Schwundgeld unsere Gesellschaft grundlegend verändern. Das Schenken macht Schenker und Beschenkte zum Teil einer das Ich transzendierenden Gemeinschaftswahrnehmung.

    Charles Eisenstein fasst dieses Gefühl in dem Video „The Revolution is Love!“ so zusammen:

    „Liebe ist die gefühlte Verbindung zu anderen Wesen. Ein Ökonom sagt 'mehr für dich ist weniger für mich.' Der Liebende aber weiß, dass mehr für dich auch mehr für mich ist. Wenn du jemanden liebst ist ihr Glück auch dein Glück, ihr Schmerz ist dein Schmerz. Die Wahrnehmung deiner Selbst erweitert sich und schließt andere ein. Dieser Bewusstseinswandel ist universell in uns allen, dem 1. % und den 99%.“ (9)

  • Für die Gegner der Occupy-Wallstreet Bewegung ist Liebe als zentrale, politische Botschaft nicht fassbar. Wie soll ein Milliardär auf eine Occupy-Wallstreet Bewegung reagieren deren Botschaft ist, dass die universale Liebe der Zukunft auch ihn mit einschließt? Laut den Medien hat Occupy-Wallstreet damit schlichtweg gar keine Forderung.

    Liebe hat offenbar in einem politischen Diskurs keinen Platz, der Diskurs wird vom Kapital beherrscht und der Markt regelt alles. Der Mensch der Gattung homo oeconomicus ist dabei angeblich nur auf den eigenen Vorteil aus. Glauben wir das wirklich? Lieben wir womöglich deshalb die Menschen nicht, weil wir glauben, dass die Menschen nur das Geld lieben?

    Geld und Liebe werden als gegeben hingenommen und ihre Bedeutung für unser tägliches Leben ist unserer Aufmerksamkeit entglitten. Ob Charles Eisensteins Vorschläge tatsächlich unser Geldsystem so auf den Kopf stellen können, dass wir damit auf das Dilemma „Geld oder Liebe?“ eine zufriedenstellende Lösung finden, kann man nur entscheiden wenn sie ernsthaft diskutiert und ausprobiert werden.

    Vielleicht ist eine Antwort wiederum in den Arbeiten von Paul Piff und Dacher Keltner zu finden. Dacher Keltner argumentiert in seinem Buch „Born to be Good“ überzeugend, dass der Mensch von „Geburt an Gut“ ist. (10) Was auch immer die Profitgier und der Reichtum mit uns anstellen ist umkehrbar. Ein Film über Kinderarmut genügte in Paul Piffs Experimenten um die Unterschiede zwischen Arm und Reich zu verwischen (1). Nicht der Mensch ist laut Dacher Keltner kalt und herzlos, sondern die Art und Weise wie wir uns als Gesellschaft organisieren. Wenn er recht hat dann brauchen wir womöglich tatsächlich nur ein neues Geld um das Lieben zu lernen.


    (1) Piff, Paul (2012): http://www.ted.com/talks/paul_piff_does_money_make_you_mean
    (2) Fromm, Erich (2003): Die Kunst des Liebens. Frankfurt am Main.
    (3) Zeit online: Professor Teddybär. http://www.zeit.de/zeit-wissen…3/Portraet-Dacher-Keltner
    (4) Piff, Paul Kayhan, Ph.D. (2012): On Wealth and Wrongdoing: How Social Class Influences Unethical Behavior, University of California, Berkeley.
    (5) Kropotkin, Pjotr (1902): Mutual Aid: A Factor of Evolution.
    (6) Graeber, David (2011): Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart.
    (7) Wikipedia: Liebe (Abgerufen 21.5.2014).
    (8) Eisenstein, Charles (2011): Sacred Economics. http://sacred-economics.com/
    (9) Occupy Wall St. - The Revolution Is Love w. Charles Eisenstein(YouTube, 2011).
    (10) Keltner, Dacher (2009): Born to be Good: The Science of a Meaningful Life. New York.

  • „Liebe ist die gefühlte Verbindung zu anderen Wesen. Ein Ökonom sagt 'mehr für dich ist weniger für mich.' Der Liebende aber weiß, dass mehr für dich auch mehr für mich ist. Wenn du jemanden liebst ist ihr Glück auch dein Glück, ihr Schmerz ist dein Schmerz. Die Wahrnehmung deiner Selbst erweitert sich und schließt andere ein.


    Sorry aber ich kann mit dem Begriff der "Liebe" in diesem Zusammenhang nichts anfangen. Man kann empathisch mit anderen Menschen sein, ohne daraus eine Liebesbeziehung zu machen.

    Dabei schwingt für mich immer die moralische Pflicht der christlichen Nächstenliebe mit.

    Es mag sein, dass es einige wenige Menschen gibt, die ihren Mitmenschen mit all ihren Eigenheiten in völliger Toleranz gegenüber treten. Aber selbst bei den Urvölkern war nicht jedes Mitglied der Gemeinschaft mit jedem anderen Mitglied befreundet und in Liebe verbunden. Konflikte zwischen eigenständigen Individuen gibt es auch unter allen anderen höheren Lebewesen. Die Aufgabe einer Gemeinschaft kann es nicht sein, es jedem ihrer Mitglieder individuell recht zu machen, und sie davor zu schützen, mit anderen Individuen in Widerspruch zu geraten.

    Sie muss dafür zu sorgen, dass keines davon sich dauerhaft über andere erheben, und sie zu seinem eigenen Vorteil unterdrücken kann.


    Ich muss andere Menschen nicht lieben, ich muss sie nicht einmal besonders gut leiden können, um mit ihnen solidarisch zu sein, so lange ich verstehe, dass eine menschliche Gemeinschaft, die kooperiert mehr erreichen kann, als die Summe ihrer individuellen Teile. Es fehlt an Verständnis, nicht an "Liebe".

  • Wie wir unser Wirtschaftssytem gestalten bestimmt unser intersoziales Vehalten.

    Wenn AlxBedn in einer Gesellschaft die vor allem von Geld getrieben ist mangelnde Empathie und soziale Nähe feststellt, dann ist das nicht das Wesen des Menschen, sondern ein Ergebnis davon wie wir unsere wirtschaftliche Praxis organisiert haben.


    Geld und Schulden, also wie unser Geldsstem funktioniert, sind als Machtwerkzeuge geschaffen worden. Sie verhindern, dass wir Herrschaft, Entfremdung und soziale Kälte überwinden können.


    Das soll keine Zinskritik sein oder das Verleihen an sich in Frage stellen. Ein Kredit in dem kein Machtgefälle entsteht ist möglich. Aber er muss als solcher organisiert werden, indem z.B. Gläubiger und Schuldner das Risiko teilen und der KReditgeber die sozialgemeinschaft ist deren Motivation nicht das Gewinnstreben ist.


    Sehr gern wird die Idee eines Schwundgeldes mit Silvio Gsell in Verbindung gebracht und von Linken als verkappter Antisemitismus abgeurteilt. Das negiert die positiven Erfahrungen die z.B. in Wörgldamit gemacht wurden und führt zu einer totalen Alternativlosigkeit unseres heutigen Geldsstems.


    Wenn in unserem wirtschaftlichen Gestalten die Stärkung sozialer Beziehungen immer mitgedacht würde, würde das unsere Gesellschaft von Grund auf verändern. Die Denkverbote in diese Richtung halte ich für Falsch.


    Geld ist kein neutrales Tauschmittel. In seinem Buch "What Money Wants" beschreibt der Israelische Wissenschaftler Noam Yuran die "Agency" des Geldes. Wie unser Geld im Moment funktioniert erzeugt den Wunsch nach dessen Akkumulation.


    Zitat


    One thing all mainstream economists agree upon is that money has nothing whatsoever to do with desire. This strange blindness of the profession to what is otherwise considered to be a basic feature of economic life serves as the starting point for this provocative new theory of money. Through the works of Karl Marx, Thorstein Veblen, and Max Weber, What Money Wants argues that money is first and foremost an object of desire. In contrast to the common notion that money is but an ordinary object that people believe to be money, this book explores the theoretical consequences of the possibility that an ordinary object fulfills money's function insofar as it is desired as money. Rather than conceiving of the desire for money as pathological, Noam Yuran shows how it permeates economic reality, from finance to its spectacular double in our consumer economy of addictive shopping. Rich in colorful and accessible examples, from the work of Charles Dickens to Reality TV and commercials, this book convinces us that we must return to Marx and Veblen if we are to understand how brand names, broadcast television, and celebrity culture work. Analyzing both classical and contemporary economic theory, it reveals the philosophical dimensions of the controversy between orthodox and heterodox economics.

  • Ja, dachte ich mir, du zynischer alter Affe. :)


    Aber vielleicht liegts ja daran?

    "Lieben wir womöglich deshalb die Menschen nicht, weil wir glauben, dass die Menschen nur das Geld lieben?"

  • Sehr gern wird die Idee eines Schwundgeldes mit Silvio Gsell in Verbindung gebracht und von Linken als verkappter Antisemitismus abgeurteilt.

    Also soweit ich das überblicke wird nicht unbedingt das Schwundgeld an sich, sondern vor allem Silvio Gesell von einigen Linken als verkappter Antisemit abgeurteilt, weil er eine ziemlich klare Unterscheidung zwischen bösem "raffendem" und gutem " schaffenden" Kapital machte, und keineswegs für die Überwindung des Kapitalismus plädierte, sondern lediglich das fleissige mittelständische Unternehmertum von der "Zinsknechtschaft" durch die Banken befreien, und so dessen Potenzial für das Gemeinwohl entfalten wollte.

    Ob ihn das schon zum Antisemiten macht, sei mal dahin gestellt. Aber er war auf jeden Fall weder Wachstums- noch Kapitalismuskritiker.


    Was das Schwundgeld angeht, so vertritt ja selbst die heutige Mainstream-Ökonomik die Auffassung, dass eine gewisse Inflationsrate - also ein konstanter Wertverlust gehorteten Geldes - für ein funktionierende kapitalistische Marktwirtschaft essenziell sei. Aber was in einer kleinen Gemeinde wie Wörgl vielleicht - über relativ kurze Zeit - während einer Wirtschaftskrise den lokalen(!) Binnemarkt ankurbeln konnte, lässt sich natürlich nicht auf eine globalisierte Marktwirtschaft übertragen, ohne das ganze System in Frage zu stellen, und sich ernsthaft mit der Problematik zu beschäftigen, wie nötige Investitionen - z.B. in Klimaschutz oder Gesundheitsversorgung - so organisiert werden können, dass dabei kein privater Eigentümer anhand von Renditezielen entscheiden kann, worin wieviel investiert wird.

  • Ja, dachte ich mir, du zynischer alter Affe. :)


    Aber vielleicht liegts ja daran?

    "Lieben wir womöglich deshalb die Menschen nicht, weil wir glauben, dass die Menschen nur das Geld lieben?"

    Ich glaube gar nicht, dass alle Menschen nur das Geld lieben. Das Geld ist halt das, was allen Menschen mehr individuelle Freiheit verspricht. Aber diese Idee der individuellen Freiheit ist eben eine, die erst in einer Gesellschaft entstehen konnte, in der alles - nicht nur die Arbeitskraft, sondern auch die eigene Persona als Konkurrenzprodukt auf dem Heirats- und Beziehungsmarkt - zu Waren gemacht wird, die man sich kaufen kann.


    Der Warenfetisch scheint mir hier das viel größere Problem zu sein, als das Geld.

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