#580 - Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine

  • Man kann die Meinung vertreten, die hansj. zum Ausdruck bringt und das Übel unter "Russland/Putin" subsummieren. Das geht.


    Man kann bspw. auch W. Richter's Argumente berücksichtigen - hat dann allerdings das Problem, dass es sehr viel schwerer fällt, auf ein einfaches Ergebnis zu kommen, weil diese - entgegen dem Zeitgeist - das Thema stark ausdifferenzieren und die eigene Verantwortung mit in den Blick nimmt. Auch das geht.


    Bundeszentrale für politische Bildung, Meinung Ukraine-Krise, W.Richter (SWP) 2016

    SWP, Ukraine im Nato-Russland-Spannungsfeld, W.Richter 2022

  • erachtest du es wirklich als nötig, mit unterstellungen zu arbeiten, die sich in meinen ausführungen beim schlechtesten willen nicht finden lassen ?


    Da muss ich gar keinen schlechten Willen bemühen, lieber hansj. , sondern Dich einfach nur weiter aus Deinem ursprünglichen kommentar zitieren:


    Zitat

    diese darstellung übernimmt die putin`schen axiome, du teilst seine ideologische grundposition, die aktuell im angriffskrieg mündet, den er in präsowjetischer imperialer tradition (übrigens basierend auf einem nationalismus, der den ukrainischen nationalismus bei weitem übertrifft.)


    Du unterstellst mir also ganz explizit, ich würde "putinsche axiome" übernehmen und seine ideologische Grundposition teilen, und extrapolierst dabei aus meiner reinen Feststellung, dass Putin und seine Regierung vor dieser militärischen Eskalation schon lange gewarnt, und dass man diese Warnungen im Westen viel zu lange Ignoriert habe, dass ich die Eskalation als solche für legitim hielte.


    dabei aber am kernpunkt vorbei zu argumentieren, dass nämlich die putin`sche drohung, wie die dahinter stehende anspruchshaltung und erst recht die reale praxis schlicht und einfach das selbstbestimmungsrecht des souveränen staates ukraine nicht nur verletzt, sondern ihm dieses grundsätzlich abspricht.

    Ich habe nie bestritten, dass die Ukraine nach allgemeiner völkerrechtlicher Übereinkunft als souveräner Staat ein Selbstbestimmungsrecht, oder das Russland dieses mit seinem Angriff verletzt hat. Das verargumentiere ich aber genau deshalb nicht, weil es für meine Haltung zu diesem Konflikt einfach keine Rolle spielt.


    Ich habe 2003 auch den Angriffskrieg der USA und ihrer Verbündeten auf den souveränen Staat Irak und sein Selbstbestimmungsrecht nicht deshalb abgelehnt und verurteilt, weil er einen eklatanten Bruch des Völkerrechts darstellte, sondern weil er ein brutaler Überfall einer mit modernster Kriegstechnik hochgerüsteten westlichen Streitmacht auf ein armes Entwicklungsland war, der - nach konservativster Schätzung - als unmittelbare Kriegsfolge mindestens 400.000 Menschenleben kostete, die Zivilbevölkerung noch Jahre danach unter ein brutales, eklatant Menschenrechte verletzendes Besatzungsregime zwang, und einen schwelenden Bürgerkrieg verursachte, aus dem letztendlich der noch brutalere Islamische Staat hervor ging.


    Die Anspruchshaltung Putins, mit einem kriegerischen Angriff auf sein Nachbarland zu drohen, ist ebenfalls keine "ideologische Grundposition", welche ich in irgendeiner Form teilen würde. Tatsächlich teile ich überhaupt keine Grundposition - ob sie nun ideologisch begründet ist oder nicht - die sich anmaßt, geostrategische Machtinteressen mit militärischer Gewalt durchsetzen zu können - ganz egal ob das in Moskau oder Washington D.C. formuliert wird, oder gegen wen sich die Drohung richtet.

    Ich habe lediglich festgestellt, dass man diesen Anspruch in Moskau nun mal leider formuliert hat, und dass man sich in Washington D.C. bis wenige Wochen vor der tatsächlichen militärischen Durchsetzung desselben das Recht heraus nahm, solche Warnungen zu ignorieren und einfach weiter die Ukraine als Bollwerk gegen Russland aufzubauen und aufzurüsten, anstatt sich ernsthaft um einen Kompromiss zu bemühen, oder auf die vorgebrachten russischen Kompromissvorschläge einzugehen - obwohl absehbar war, dass ein russischer Angriff große Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung zur Folge haben würde.


    Wenn Du mir daraus den Strick drehen willst, ich hielte Putins Vorgehen nicht nur für legitim, sondern teilte gar seine "ideologische Grundposition", dann kann ich nur vermuten, dass Du selbst hier nicht frei von ideologischen Grundpositionen argumentierst und Dich offenbar dazu berufen fühlst, mir eine aus dieser - der richtigen - Position als falsch erachtete Ideologie zu unterstellen.


    dass die ukraine in den 30 jahren seit ihrer konstituierung als selbstständiger staat mehr als ein dutzend regierungswechsel unterschiedlicher ausrichtung erlebt hat, die aber - zumindest seit 2004 - a.) das resultat demokratischer wahlen (jedenfalls nach auffassung internationaler beobachter ) waren, b.) samt und sonders eine europäische perspektive beinhalteten (ja, auch janukowitsch).


    Auch die Bundesrepublik Deutschland hat erst kürzlich einen demokratischen Regierungswechsel erlebt. Ich stelle hier mal die kühne These in den Raum - und die derzeitigen Umfragen scheinen das zu untermauern - dass der größere Teil der deutschen Bevölkerung diese nun regierende Koalition nicht gewählt hat, und seine Interessen von ihr überhaupt nicht vertreten fühlt.

    Auch dem deutschen politischen System sind Korruption und antidemokratische Einflussnahme mächtiger Interessengruppen auf Gesetzgebung und Entscheidungen der Exekutive natürlich nicht fremd, aber wer glaubt, dass ausgerechnet die vergangenen Regierungen der Ukraine - des mit Abstand ärmsten und korruptesten Landes Europas (mit Ausnahme Russlands) -, welche allesamt entweder von mafiösen Oligarchen finanziert, oder bis hinauf zum Amt des Staatschefs direkt mit mafiösen Oligarchen besetzt wurden - ganz gleich ob sie nun eher dem Westen oder Russland nahe standen - nichts als die reine demokratische Interessenvertretung der ukrainischen Bevölkerung im Sinn hatten, als sie sich dem Westen und seinem gigantischen Dollar- und Euro-Investitionsmonopol annäherten, der glaubt wahrscheinlich auch, dass verantwortungsvolle Konzernlobbyisten und wohlhabende edle SpenderInnen nur deshalb bis zu 2 Milliarden Dollar in amerikanische Präsidentschaftswahlkämpfe, und noch wesentlich mehr ,in die Wahlen zu Senat und Repräsentantenhaus der USA investieren, weil ihnen die freiheitlich demokratische Grundordnung so viel wert ist.

    ganz gewiss wurden und werden die verhältnisse sowohl durch russland einerseits als auch durch die usa (und andere westliche nationen) andererseits beeinflusst. wer würde das bestreiten? das ist selbstverständlich der fall, weil sowohl russland als auch die westlichen staaten und gesellschaften daran interessiert sind, wohin sich die ulrainische gesellschaft und ihr staat entwickeln und orientieren. die interessante frage (die den großen unterschied ausmacht) ist aber: welche form von "beeinflussung" wird ausgeübt, mit welchen mitteln und konsequenzen? ( soweit es um geld geht: den berühmten 5 milliarden, die die usa in die ukraine "investiert" haben, stehen 100 milliarden gegenüber, die im selben zeitraum russland in die ukraine "investiert" hat (putins zahl). wenn man schlüsse über impcts daraus ziehen wollen würde - welche könnten es sein?

    Selbstverständlich haben nicht nur die USA ganz direkt, sondern auch vom Westen dominierte Institutionen wie der IMF, die Weltbank, und nicht zuletzt die EU, wesentlich mehr als die berühmten, von Ms. Nuland erwähnten 5 Milliarden Dollar in die freiheitlich-demokratische Willensbildung, in die neoliberale Ideologisierung Wettbewerbsfähigkeit, und in entsprechend gewilltes Regierungspersonal der Ukraine investiert.

    Darüber hinaus hat man westlicherseits auch durch umfassende Beratungsangebote und Austauschprogramme ideologische Schützenhilfe geleistet, und sogar die eine oder den anderen amerikanischen Staatsbürger*in direkt in politische Ämter oder an privatwirtschaftliche Schaltstellen installiert entsendet.

    Das ukrainische Militär hat zudem schon lange vor der Annexion der Krim durch Russland an gemeinsamen Manövern mit den amerikanischen und anderen NATO-Streitkräften teilgenommen. Es stellte zudem das größte Truppenkontingent unter Nicht-NATO-Mitgliedern bei der nicht nur von Russland vehement abgelehnten Besatzung des Irak durch die "Koalition der Willigen".


    Das der einfluss der usa vor allem in den vergangenen 8 jahren zugenommen hat, ist nicht verwundertlich: nachdem russland 2014 sowohl durch die unterstützung der separatisten-regimes im donbass als auch durch die annexion der krim die souveränität der ukraine manifest und gewaltsam verletzt hat, haben sich regierungen, die damit nicht einverstanden waren und sind. logischerweise dorthin orientiert, wo sie unterstützung erwarten konnten. wie auch die ausbildung der ukrainischen armee durch nato-staaten auf wunsch der ukraine nach putins interventionen zustande kam.

    dieses ursache-wirkungs verhältnis lässt sich aus der zeitlichen abfolge ganz gut nachvollziehen. das kommt bei dir auch alles nicht vor. warum eigentlich nicht?

    Das kommt bei mir vor allem deshalb nicht in der offenbar von Dir für angemessenen gehaltenen Vehemenz vor, weil ich es schon lange aufgegeben habe, mich an irgendwelchen abstrakten Vorstellungen von "Völkerrecht", oder an der von den USA alternativ - und oftmals im diametralen Widerspruch - dazu als westliche geostrategische Doktrin etablierten "Regelbasierten Ordnung" zu orientieren.


    Bei der Annexion der Krim fiel (jedenfalls nach offizieller Lesart) kein einziger Schuss. Niemand wurde getötet. Ob dabei das Völkerrecht gebrochen wurde ist überhaupt nicht die Frage.

    Die Frage wäre eher, was passieren müsste, damit die Ukrainische Regierung ihr erklärtes, und im Westen als Teil ihres "souveränen" Selbstbestimmungsrechts erachtetes Kriegsziel durchsetzen kann, nicht nur die Gebiete der sogenannten "Volksrepubliken" und die sonstigen, jüngeren Eroberungen der Russen im Südosten des Landes, sondern auch die Krim von der russischen Besatzung zu befreien und so die territoriale Souveränität ihres Herrschaftsgebietes wieder herzustellen.


    Wie viele Soldaten und ZivilistInnen müssten dafür auf beiden Seiten noch ihr Zuhause, ihre Gesundheit und ihr Leben verlieren?

    Und was wäre für die ukrainische Bevölkerung damit gewonnen, außer noch mehr verwüsteten Städten und zerkraterten, mit Kampfmitteln verseuchten Landstrichen?


    1/3

  • 2/3


    "die alte leier vom völkerrecht" viel deutlicher lässt sich verächtlichkeit kaum ausdrücken.


    Die "Verächtlichkeit" richtet sich auf meiner Seite hier nicht gegen die Idee tatsächlich universeller Werte, sondern ausdrücklich gegen die abgrundtief verachtenswerte - weil völlig einseitig je nach eigener Interessenlage in Stellung gebrachte - Doppelmoral, mit welcher der Wertewesten offenbar problemlos zwischen dem ehemals durch friedliche internationale Übereinkunft erarbeiteten Völkerrecht und seiner durch sich selbst mit Gewalt durchgesetzten "regelbasierten Ordnung" changiert, wie es ihm gerade in den geopolitischen Kram passt.


    Beim extrem brutalen, völkerrechtswidrigen, und von den NATO-Mitgliedern USA und UK mit angezettelten Bomben- und Belagerungskrieg Saudi-Arabiens gegen die jemenitische Zivilbevökerung, oder bei den ebenfalls völkerrechtswidrigen Überfällen des NATO-Mitglieds Türkei gegen die kurdische Zivilbevökerung in Syrien scheint das Völkerrecht in den Augen wertebasierter Außenpolitiker*innen und westlicher WertejournalistInnen als moralischer Maßstab staatlicher Gewaltexzesse gegen Nachbarländer jedenfalls von nachrangiger Bedeutung zu sein.

    Aber das Morden und Totschlagen findet in diesen Fällen ja auch nicht im zivilisierten Europa statt, wo dem "liberalen" Bürgertum der Anblick getöteter europäischer Phänotypen zwischen grünen Wiesen und klassizistischer Architektur ganz schaurig ins Gebein fährt, sondern irgendwo in der Barbarei, wo man es halt gewohnt ist, dass braune Menschen irgendwo tot und verstümmelt zwischen irgendwelchen Barracken in der Wüste herum liegen.

    meine früheren erklärungen solltest du bitte auch nicht sinnentstellen: sie bezogen sich darauf, dass völkerrecht kein sanktionsbehaftetes recht auf der basis ordentlicher gerichtsbarkeit ist, und deshalb anders als normiertes recht politischer interpretation unterliegt. das gilt auch weiterhin.


    Da hast Du recht. Das Völkerrecht ist eine Frage der politischen Interpretation. Und genau aus diesem Grund ist es ein moralisches Abstraktum, dem in einem globalen System der ewigen kapitalistischen Konkurrenz im Wettbewerb der Nationen nicht nur keine politische Staatsgewalt jemals gerecht werden wird, sondern welches von besonders gewaltmächtigen Staaten jederzeit im Sinne seiner eigenen ökonomischen Profit- und seiner geopolitischen Machtinteressen uminterpretiert werden kann, wenn sie ihren eigenen Bevölkerungen nur effizient genug einreden, dass das alles im Dienst einer höheren Moral geschehe und daher leider alternativlos sei. Putin tut gegenüber seiner eigenen Bevölkerung nichts anderes.

    gleichwohl gibt es (zum glück) ein paar völkerrechtliche prinzipien, die tatsächlich universell gelten: dazu gehört die territorial integrität und entscheidungsfreiheit über politische bündniszugehörigkeiten souveräner staaten.

    Auch das kann man sich natürlich so zurecht deuten. Das Völkerrecht ist ja, wie Du selbst es oben noch einmal beschrieben hast, eine Frage der politischen Interpretation. Aber dazu muss man schon ganz aktiv ignorieren, dass z.B. die NATO damals Ende der 90er Jahre mitten auf europäischem Boden einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien vom Zaun brach, um einen Teil dessen souveränen Staatsterritoriums gewaltsam zu desintegrieren, nachdem westliche Werteaußenminister zuvor bereits die Desintegration von Teilrepubliken aus dem souveränen Jugoslawischen Staat einseitig anerkannt und damit einen fürchterlichen Bürgerkrieg mit angeheizt hatten.


    und genau diese fundamentalen prinzipien verletzt putin seit 2014 massiv. ( das ist jetzt nicht meine private meinung, sondern die position diverser un-vollversammlungen.)


    dass es verletzungen auch seitens westlicher nationen, allen voran usa, gab, ist zum einen unbestritten - kann aber bei der bewertung des ukraine krieges und seiner vorgeschichte keine rolle spielen - weil hier solche rechtsbrüche weder durch die usa noch durch andere nato staaten begangen wurden.

    vor diesem hintergrund die frage: welche rolle sollen sie jetzt in deiner argumentation spielen?


    Sie spielen in meine Argumentation genau die Rolle, die ich zu Anfang meiner ersten Antwort auf Deine Putinimsus-Anwürfe bereits angerissen habe - nämlich als hässlicher Zerrspiegel, den Putin dem Westen vor die Nase halten kann, um die westliche Doppelmoral als solche zu offenbaren.

    Ohne Frage geht es ihm selbst dabei überhaupt nicht darum, sich in den Augen westlicher, wertebasierter Interpret*innen des Völkerrechts zu rechtfertigen.

    Sein einziges - und vollkommen zynisches - Ziel ist es, gegenüber seinen Verbündeten und dem Teil seiner eigenen Bevölkerung, der sich noch für Außenpolitik interessiert und nicht längst völlig resigniert hat, diesen hässlichen Spiegel hoch zu halten und zu sagen "wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein". Nicht mehr und nicht weniger.

    Und wenn ich das beschreibe, dann ist das keine Zustimmung zu des Autokraten geopolitischem Anspruch, oder gar zu seinem Versuch, ihn mit äußerster Gewalt auch gegen unschuldige ZivilistInnen durchzusezen, sondern schlicht und einfach eine radikale Kritik der westlichen Doppelmoral.

  • 3/3


    ich kanns nur wiederholen; der hinweis, dass putin ja oft genug vor der "letzten konsequenz" gewarnt habe, also die ukraine sozusagen mutwillig in die kriegsgefahr sich hinein begeben habe, bedeutet implizit, die russische logik zu akzeptieren - die aber basiert auf dem bewussten bruch des völkerrechts.

    (in ein zivilgesellschaftliches beispiel übertragen: wenn ein erpresser droht, ein entführungsopfer zu töten, wenn kein lösegeld gezahlt wird, und dann diese drohung tatsächlich wahr macht - tragen dann diejenigen, die der erpressung nicht nachgaben,

    (mit)schuld am mord? - es wäre nicht meine position).


    Ich bin zwar ehrlich gesagt ein bisschen enttäuscht darüber, dass ein akademisch so vielseitig bewanderter Veteran des publizistischen Politikanalysegeschäfts wie Du hier jetzt allen Ernstes ein "zivilgesellschaftliches Beispiel" anschleppt, um eine offensichtlich politisch zu interpretierende Frage des Völkerrechts auf eine Frage der individuellen Moral herunter zu reduzieren - zumal Du Dich ja gerade erst wortreich und völlig zurecht gegen den hoch moralischen Vorwurf von anderer Seite verteidigt hast, Tilo und Du hätten sich bei der Selbstentlarvung seiner Exzellenz des Botschafters in den Dienst der putinschen Kriegspropaganda gestellt, weil ihr so unsensibel darauf insistiert habt, ihn seine eigene, dem russischen Narrativ in die Hände spielende ideologische Grundposition offenbaren zu lassen.


    Aber gleichzeitig bin ich natürlich dankbar dafür, dass Du mir damit noch einmal die Gelegenheit gibst, ganz klar und deutlich zu erklären, dass ich diese bürgerliche Moralapostelei nicht nur als unerträglich, extrem übergriffig, und über die Maßen heuchlerisch empfinde, sondern das ich auch unserer gesamten politischen Klasse und unserer kollektiven Veröffentlichten Meinung (bis auf ganz wenige Ausnahmen) unterstelle, sich dieselbe zu eigen zu machen, um eine ideologische Grundposition zu verteidigen, die nur als solche - nämlich als Ideologie - zu verteidigen ist, und sich fundamental von den tatsächlichen materiellen Verhältnissen abwendet, die der ganzen Misere eigentlich zu Grunde liegen.


    und noch eine völlig groteske unterstellung einer position, von der du eigentlich wissen müsstest, dass sie nicht meine ist. "welt der reinsten humanistischen werte....konfrontiert mit dem absolut bösen" so ein quatsch. das ist ja selbst als strohmann miserabel.


    Den Strohmann-Vorwurf gebe ich gerne zurück - wohlwissend, dass das natürlich ein endloses Ping-Pong-Spiel ist - und verweise darauf, dass Deiner ganzen Antwort auf meinen ursprünglichen Beitrag als Prämisse die Unterstellung zugrunde liegt, ich würde mich mit des Russenhitlers "ideologischer Grundposition" gemein machen.

    Vielleicht war ich in meiner Formulierung mal wieder zu polemisch. Aber ich bleibe dabei, dass Du hier leider einer im Grunde rein moralistischen Haltung™ hinterher argumentierst, die völlig mit dem ebenfalls moralistischen Impetus der laufenden Berichterstattung konform geht, und dann versuchst, dieselbe damit zurecht zu rationalisieren, dass Du sie in den größeren Kontext eines Völkerrechts stellst, über das Du - im Widerspruch dazu - selbst schreibst, dass es ein Gegenstand politischer Interpretation sei.

    dir mag die tatsache, dass hier das größte zu europa gehörende land einen angriffskrieg gegen das zweite führt als dimension egal sein. mir ist es das nicht.


    Mir ist es hinsichtlich der moralischen Einschätzung tatsächlich völlig egal wo dieser Krieg stattfindet. 400.000 tote AraberInnen gehen mir nicht weniger nah als 400.000 tote EuropäerInnen. Der einzige Unterschied ist, dass ich als in Europa lebendes Individuum selbstverständlich mehr Angst davor habe, bei zunehmender Eskalation des Krieges irgendwann selbst von kriegerischen Angriffen betroffen zu sein. Aber ich sehe nicht, warum meine persönliche Betroffenheit - oder die Angst davor - irgendeine Rolle dabei spielen soll, wie ich die geopolitische Dimension dieses Krieges einordne.

    ich kann mir auch nicht so recht vorstellen, dass es für dich wurscht wäre, ob verwandte oder enge freunde überfallen und totgeschlagen werden, oder ob du von mord und totschlag in einer anderen stadt erfährst. persönliche nähe zu ereignissen ist ein kriterium der wahrnehmung und bewertung, vermutlich auch bei dir.

    daraus so etwas wie "zweierlei moral" ableiten zu wollen, ignoriert diese tatsache.


    Und nochmal versuchst Du, mich zu einer persönlichen und emotionalen identifikation mit den Opfern des Krieges zu nötigen, bzw. mir für den Fall dass ich es nicht tue implizit den moralischen Vorwurf der Empathielosigkeit zu machen.

    Mein Vorwurf der Doppelmoral hat allerdings mit individueller Befindlichkeit allenfalls insofern zu tun, als ich jenen die sie immer wieder bei ihrer Beurteilung der Lage anwenden, unterstelle, dass sich ihre Empathie mit dem Leid wildfremder Menschen entweder sehr selektiv nur auf europäische Phänotypen bezieht - dass sie also im Grunde zumindest unbewusst rassistisch, oder bestenfalls kulturchauvinistisch ist - oder dass sie schicht und einfach eine verdammte Heuchelei ist, die nur dazu dient, KritikerInnen ihrer politischen und zutiefst ideologischen Grundhaltung als schlechte Menschen darzustellen, die sich mit dem russischen Bösewicht gemein machen.


    auch wenn du es unterstellst: es geht weder um moralische verpflichtung, mir irgend etwas zu erklären. noch um notwendigkeit von moralischen schwüren. auch das ist polemischer unsinn.

    Das ist vielleicht polemisch, aber wenn Du hier direkt oben drüber darüber sinnierst, ob es mir "wurscht wäre, ob verwandte oder enge freunde überfallen und totgeschlagen werden", dann stellst Du mich in einer Frage, die weit über meinen eigenen individuelle Einfluss hinaus geht, vor eine individuelle moralische Entscheidung, die doch sehr stark impliziert, dass ich dazu ein eindeutiges Bekenntnis abzuliefern hätte, wenn ich mich nicht mit der moralischen Verwerflichkeit des Russenhitlers gemein gemacht sehen wollte.


    völlig einig sind wir uns in der frage, dass in allererster linie die ukrainische zivilbevölkerung millionenfaches opfer des krieges ist.

    allerdings: sie wurde eben nicht "in diesen geopolitischen shitstorm hineingeworfen", sondern von putin mit einem angriffskrieg überzogen, für den es keinerlei berechtigten anlass gab oder gibt, mit dem er aber gewaltsam verhindern will, dass die ukraine als volk und souveräner staat die politische und gesellschaftliche entwicklung nimmt, für die sie sich , auf der basis demokratisch legitimierender wahlen entschieden hat.


    damit knüpft putin, man kann es kaum anders sagen, direkt an die gewaltsame verhinderung der konstituierung eines souveränen ukrainischen staates durch die bolschewiki unter lenin 1917/18 an.

    Gut dass Du es nochmal erwähnt hast. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass die Kommunisten mit ihrer totalitären Verachtung der Freiheit™ an allem Schuld waren. Bitte lest alle Bücher von Timothy Snyder! (<- Das war jetzt tatsächlich eine sehr polemische Übertreibung)


    du kennst den satz: wenn geschichte sich wiederholt, dann als tragödie oder als farce,

    hier ist es leider die tragödie.


    Der Satz aus dem "XVIII. Brumaire" den ich kenne, ist allerdings kein Konditionalsatz, der eine "wenn-dann"-Konstruktion aufmacht. Er lautet vielmehr folgendermaßen:

    Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.

    Da kann man jetzt viel daran herum interpretieren, aber wenn wir schon (s.o.) bei 1917/18 angelangt sind, dann können wir auch noch drei-vier Jahre weiter zurück gehen und uns angucken, wie die deutsche Sozialdemokratie damals im Reichstag den ultimativen Verrat an der sozialistischen Internationale vollzog, weil sie es im Sinne der souveränen Selbstbestimmung und Bündnisfreiheit des deutschen Reiches als oberste Staatsräson akzeptierte, zusammen mit ihren politischen Gegnern dem kaiserlichen Wunsch nach einem "Sondervermögen" zur Aufrüstung der Reichswehr zuzustimmen, weil es ja auch damals schon um den Kampf des Guten gegen das Böse ging, und nur diese vaterlandslosen, freiheitsfeindlichen KommunistInnen um Luxemburg und Liebknecht es für falsch hielten, die Söhne, Brüder und Väter der Arbeiterklasse als Kanonenfutter im Kampf um geopolitische Interessen zu verheizen.


    Das endete damals alles in einer großen Tragödie und letztendlich in einem zweiten, noch viel schlimmeren und tragischeren Angriffskrieg gegen den Rest der Welt.

    Die Farce - oder besser: die bittere Ironie der Geschichte - dabei ist, dass die Sozialdemokraten beim zweiten Anlauf schlussendlich selbst zu Feinden des Staates gemacht wurden, dessen moralischer Deutungshoheit sie sich zuvor noch so eisern und patriotisch verpflichtet gefühlt hatten, und dass sie dennoch heute den völligen Irrwitz von damals wiederholen.


    die not am schnellsten beenden kann der, der sie verursacht und verschärft. aber der ist offenbar in keiner weise bereit dazu. wie sagte putin heute: "wir haben noch nicht mal angefangen in der ukraine"


    Bei all meiner beißenden Kritik am hiesigen Wertejuornalismus bin ich immer wieder fasziniert davon, wie spielend leicht es selbst den kritischsten deutschen journalistInnen offenbar fällt, Putin einerseits als völlig würdelosen Betrüger zu verstehen, der lügt wenn er nur den Mund aufmacht, und dann andererseits jedes noch so verkürzte Zitat aus jenem Munde für nichts als den Wahrhaftesten Ausdruck seiner wahren Absichten zu halten, so lange es nur ins laufende Narrativ passt.

  • Danke dafür. Die Krise darf natürlich - nicht allein wegen ihrer globalen Implikationen - nur in dem vollständigen Kontext betrachtet und bewertet werden, wenn es einem mit einer nachhaltigen Lösung wirklich ernst ist. Diese Banalisierung Lanzifizierung vom sonst vielgeschätzten hansj. ist wirklich sehr ernüchternd. :(

  • die not am schnellsten beenden kann der, der sie verursacht und verschärft. aber der ist offenbar in keiner weise bereit dazu. wie sagte putin heute: "wir haben noch nicht mal angefangen in der ukraine"


    https://web.archive.org/web/20…ents/president/news/68836


    Zitat

    Today we hear that they want to defeat us on the battlefield. Well, what can I say? Let them try. We have already heard a lot about the West wanting to fight us ”to the last Ukrainian.“ This is a tragedy for the Ukrainian people, but that seems to be where it is going. But everyone should know that, by and large, we have not started anything in earnest yet.


    At the same time, we are not rejecting peace talks, but those who are rejecting them should know that the longer it goes on, the harder it will be for them to negotiate with us.


    Und so wird aus einer Drohung ein Hinweis. Zwischen einer Anklage des Westens und einer Ansage der Verhandlungsbereitschaft, wenn auch mit härteren Forderungen als vorher. - Warum man irgendetwas davon glauben sollte, wenn man Putin sowieso nichts mehr abnimmt, weiß ich nicht. Ich bin da noch auf der Flüsterer-Seite.

  • hansj.

    Hab Dank, dass Du mit uns diskutierst.


    Ich höre, wenn Putin irgendetwas zu sagen hat, immer noch zu. Mir scheint, dass das unsere Regierungsverantwortlichen nicht mehr glauben nötig zu haben, aber man sollte doch ab und an einmal zuhören, auch wenn Putin den Versuch unternimmt seine "Spezialoperation" zu rechtfertigen. Das ist teilweise sehr widersprüchlich, weil er einmal meint, es ginge ihm gar nicht um die Ukraine sondern um die Expansion westlicher Militärstrukturen, ein anderes mal gibt er an, dass die NATO-Mitgliedschaft von Finnland und Schweden kein Problem für ihn wären, die Ukraine hingegen ein anderer Fall wäre, da der Westen versuchen würde aus der Ukraine eine Art "Anti-Russland" zu machen und aus der Ukraine heraus Russland destabilisiert werden sollte.

    Man kann beide Gedanken sicherlich auch zusammen denken, nur fällt mir zu Putins zweitem Argument dann doch relativ viel ein.

    Aus meinem polnischen Familienkreis hörte ich schon lange vor diesem Krieg stets abwertende Kommentare gegenüber Russland und V.Putin. Der mysteriöse Flugzeugabsturz von Smolensk, bei dem die halbe polnische Regierung und der Regierungschef Polens ums Leben kamen, das Massaker von Katyn und die für die Polen als extreme Unterdrückung wahrgenommene Zeit (45-89) spielen in der polnischen Bevölkerung mit Blick auf ihre Nachbarn eine wichtigere Rolle als der Zweite Weltkrieg. Würden heute noch Russen in Polen leben, würden sie geächtet werden. Das habe ich genauso erfragt und als Antwort bekommen.

    Interessanterweise bestätigte A.Melnyk im Interview bei Euch eine ganz ähnliche Haltung. Die Russen sind die ehemaligen Unterdrücker und man hat immer das Gefühl, dass auch schon lange vor diesem Krieg gewisse Rachegelüste durchaus bestanden haben könnten.

    Nun ist es so, dass mit dem Zerfall der Sowjetunion in 8 Ländern (? ich habe es jetzt sicherlich nicht korrekt gezählt) Mehrheiten zu Minderheiten wurden und umgekehrt. Die russische Regierung fühlt sich diesen Minderheiten sicherlich noch verpflichtet und weiß auf der anderen Seite, dass, wenn in einem Ex-Sowjetstaat ungehindert Gewalt gegenüber Russen ausgeübt wird, unkalkulierbare Dynamiken entstehen können, die zu einer massiven Desstabilisierung dieses Flächenstaates führen können. Ich frage mich immer: Was wäre denn, wenn Putins Behauptung im Donbass fände ein "Völkermord der Ukrainer an den Russen" statt, stimmen würde? Was wäre wenn die Ukrainer hier tatsächlich, getrieben von einem in Osteuropa durchaus verbreiteten Russenhass (siehe Bandera, siehe Asow, siehe Melnyk) , ca. 15.000 Russen ermordet hätten und gleichzeitig noch militärische Unterstützung aus dem Westen dabei erhielten? Für westliche Staaten galt 2011 noch R2P und baten die Bevölkerung darum Verständnis dafür aufzubringen, dass in einer Konfliktsituation, in der ein Saat auf Zivilisten schießen lässt, die Wertegemeinschaft nicht tatenlos zusehen darf. Auch im Kosovo hat man es uns so erzählt (und nebenbei die UCK bewaffnet). Ich glaube Du hast sogar selber gegenüber Melnyk angesprochen, dass Russen von Ukrainern unterdrückt wurden. Das hört sich jetzt an, wie eine Rechtfertigung. Ich würde mich jetzt auch mal fiktiv in eine solche Position begeben (um nicht ständig "ja aber" schreiben zu müssen. Grundsätzlich lehne ich natürlich den russischen Imperialismus genauso ab wie den amerikanischen) und weiter ausführen... dass Putin, aus Sicht eines russischen Imperialisten, 30 Jahre lang Erfahrungen dabei sammeln konnte zu welchen Opferzahlen und zu welchen Verbrechen das westliche Imperium bereit ist um eigene Interessen durchzusetzen. Diese Beobachtung muss ihn Blick auf diese Situation in Sorge versetzt haben. Er wusste, dass der Westen dazu bereit ist Millionen Unschuldige für die eigenen Interessen zu opfern. Die Rechtfertigungen dafür sind und waren teilweise sogar noch schlechter, als die die Putin heute findet.

    Was dringend vorher hätte passieren müssen und was nach diesem schrecklichen Krieg dringend passieren muss, ist ein Aussöhnungsprozess zwischen Russland und den ehemaligen Sowjetstaaten plus Warschauer Pakt-Staaten. Es muss ein Prozess der Versöhnung eingeleitet werden, ansonsten ist Litauen das nächste Pulverfass, genauso wie Georgien. Dazu bedarf es Diplomatie. Die traue ich unserer Außenministerin allerdings schon mal nicht zu....

  • Melnyk erwähnte in dem aufschlussreichen Interview, sein Held sei ins Konzentrationslager Sachsenhausen gesteckt worden, das zentrale KZ der Reichshauptstadt in Oranienburg. Er habe sich „das angesehen“. Saß Bandera jahrelang als Häftling im KZ, isoliert von seinen Truppen? Bandera als gequältes Opfer des NS-Regimes? Wirklich?


    Die Mitarbeiter der Gedenkstätte wissen nichts von einem dem Gefangenen Bandera gewidmeten Besuch. „Es wäre ungewöhnlich, wenn ein Botschafter seine Visite nicht ankündigt“, sagt Günter Morsch, 1993 bis 2018 Direktor der Gedenkstätte und des Museums in Sachsenhausen. Auch der für Öffentlichkeitsarbeit zuständige Horst Seferens bestätigt das. Beide hätten gern ihr Wissen über den besonderen Häftling mit Andrij Melnyk geteilt und ihm gezeigt, wie Stepan Bandera in Sachsenhausen lebte. Nun zeigen sie es der Berliner Zeitung.

    Ooopsie.

  • Die offizielle Lesart ist wohl, dass Tilo damit gleich mehrere ukrainische Botschafter abgeschossen hat. … scheint ein bisschen wie bei einem Borg Kollektiv zu sein.


  • Hoppla. Nachher hat Tilo noch den willkomenen Anlass geliefert, die innenpolitische Ausrichtung der UKR ein bisschen anzupassen. Und das in < 20 min.

    Du meinst wie die Russen zum Anlass genommen werden könnten, um ein paar (alle) Asows loszuwerden? … ein schöner Gedanke.

  • Die offizielle Lesart ist wohl, dass Tilo damit gleich mehrere ukrainische Botschafter abgeschossen hat. … scheint ein bisschen wie bei einem Borg Kollektiv zu sein.


    Deckung für die Entlassung von Melnyk? Standen eh schon auf der Abschussliste? Wurden nach Melnyks Interview einbestellt, um den Vorgang zu erklären und die Erklärung hat es schlimmer gemacht?


  • Ja gut. Da sind wir uns bei ein paar kleinen historischen Details nicht so einig, aber sonst, so vom Wertesystem her, ein Spitzentyp!

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