Russland, der ukrainische Bürgerkrieg und die "Responsibility to Protect"

  • „Dem Vorwurf, dass die Weltgemeinschaft schwersten Menschenrechtsverbrechen in einem innerstaatlichen Konflikt nicht zusehen darf, entsprang das Prinzip der Responsibility to Protect (R2P). Mit diesem Konzept versuchten die UN-Mitgliedstaaten einer humanitär begründeten Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten einen völkerrechtlichen Rahmen zu geben. Durch die Parallelität seiner Argumente spielte Putin auf R2P-Präzedenzfälle wie Libyen an, in denen das Prinzip der Schutzverantwortung bereits auf der Basis einer UN-Sicherheitsratsresolution Anwendung fand.


    Der Genozid in Ruanda vor exakt 20 Jahren, dem die Weltgemeinschaft mit Untätigkeit begegnete, das Massaker von Srebrenica 1995 und die vier Jahre später folgende robuste Intervention der NATO in Kosovo lenkten den Blick auf den Schutz des Individuums auch innerhalb der Staatsgrenzen. Die völkerrechtlich umstrittene „humanitär motivierte Intervention“ in ein Land ohne Zustimmung der jeweiligen Regierung, oder sogar gegen ihren Widerstand, rückte das Individuum und damit das Gebot des internationalen Menschenrechtsschutzes stärker als den Nationalstaat ins Zentrum der völkerrechtlichen Ordnung. Trotz des Missbrauchsrisikos der humanitären Intervention bewertete die Staatengemeinschaft das Souveränitätsgebot neu, und fand mit der Entwicklung des Konzepts der R2P einen völkerrechtlichen Weg, wie das Kollektiv bei schwersten Menschenrechtsverletzungen Verantwortung für den Schutz von Menschen in fremden Staatsgebieten übernehmen kann. Im Jahr 2005 etablierte die UN-Generalversammlung deshalb einstimmig, Menschen global vor massiven und systematischen Menschenrechtsverbrechen schützen zu wollen. Die UN-Mitgliedstaaten einigten sich auf vier Fälle, in denen die Responsibility to Protect Anwendung findet: (1) Völkermord; (2) Kriegsverbrechen; (3) ethnischen Säuberungen; und (4) Verbrechen gegen die Menschlichkeit.


    Primär liegt die Verantwortung bei jedem Staat selbst, seine Bevölkerung vor solchen Verbrechen zu schützen. Die Staatengemeinschaft steht jedoch in der subsidiären Pflicht, alle Staaten bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung zu unterstützen oder intervenierend tätig zu werden, sollte eine Regierung ihrer Schutzpflicht gegenüber der eigenen Bevölkerung nicht nachkommen können oder wollen. Dabei gilt es, geeignete friedliche, diplomatische oder humanitäre Mittel gemäß Kapitel VI und VIII der UN Charta anzuwenden. Darüber hinaus besteht für die Staatengemeinschaft die Möglichkeit, kollektive und durch den UN-Sicherheitsrat beschlossene Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Charta anzuwenden, sollten sich friedliche Mittel als unzureichend erweisen. Ziel dieser Entwicklung war es, das völkerrechtliche Gebot der staatlichen Souveränität mit der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für den Menschenrechtsschutz der Zivilbevölkerung zu verknüpfen und somit schwerste Gewaltverbrechen zu verhindern.


    Putin versuchte völkerrechtliche Legitimationslücken westlichen Handelns in der Vergangenheit – wie den NATO-Truppeneinsatz in Kosovo – zu benutzen, um das eigene Handeln auf der Krim als völkerrechtskonform auszuweisen. Der grundlegende Unterschied zwischen Kosovo und Krim besteht darin, dass dem Einsatz der NATO auf dem Balkan ein fast zehn Jahre andauernder blutiger Zerfall Jugoslawiens voranging, in dem unabhängige Seiten zahlreiche schwerste Menschenrechtsverbrechen dokumentierten. Der Einsatz schloss zudem an einen langen, festgefahrenen diplomatischen Prozess und eine gescheiterte UN-Blauhelmmission an. UN-Resolutionen für ein robustes Eingreifen der internationalen Gemeinschaft wurden seinerzeit durch ein russisches Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen blockiert. Der Entschluss der NATO auch ohne UN-Mandat militärisch in den Konflikt einzugreifen war zwar formaljuristisch völkerrechtswidrig, diente als äußerste Maßnahme aber dazu, weitere massiv bedrohte Zivilisten vor dem Tod zu bewahren; gleichwohl es eine Kontroverse über die Legitimität des Eingreifens unter den UN-Nationen gibt und geben sollte, diente der Kosovo-Einsatz nicht einer Gebietseinverleibung. In der Ukraine hingegen hatten vornehmlich friedliche Proteste zwar in einen blutigen Regierungswechsel gemündet, waren aber keinesfalls von massenhaften Verbrechen gegen die Menschlichkeit begleitet. Trotz des Hilfegesuchs der durch Militäreinsatz eingesetzten Krimregierung an den Kreml verstieß Russland faktisch gegen das Interventionsverbot.“


    Mit dieser Argumentation versuchte im Jahr 2014 die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, die Sezession der Krim als illegitim und völkerrechtswidrig darzustellen. Der Beitrag endet mit dieser durchaus nachvollziehbaren Empfehlung:


    „Aus der Logik der Schutzverantwortung heraus sollte die internationale Gemeinschaft im Rahmen der UN durch Instrumente des Konfliktmanagements einer weiteren Eskalation der Situation vorbeugen. Intensive Diplomatie, Verhandlungsgeschick oder Mediation können auch weiterhin die Situation zwischen den beteiligten ukrainischen Parteien und Russland entschleunigen. Dadurch könnte eine politische Lösung des Konfliktes dank internationaler Maßnahmen befördert, die Ukraine stabilisiert und gleichzeitig einem weiteren Vorgehen Putins unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Schutzpflicht vorgebeugt werden.“


    In den nach Autonomie strebenden Gebieten schwelte der Konflikt zwischen der Kiewer Zentralregierung und den überwiegend russischsprachigen Bewohnern des ukrainischen Ostens seither weiter. Acht Jahre später hätte man im Februar 2014 anhand der DGAP-Argumentation die Frage stellen können: Sind 14.000 Opfer des ukrainischen Bürgerkriegs nun genug, um eine Intervention nach Vorbild des Kosovo-Einsatzes zu rechtfertigen?


    Die russische Führung hat entschieden, diese Frage nicht der internationalen Gemeinschaft zu stellen, sondern, durchaus nach mehrfachem westlichem Vorbild, mit militärischen Mitteln Tatsachen zu schaffen.


    [wird fortgesetzt]

  • Die Grünen haben es 2x in Regierungsverantwortung geschafft, und beide Male hatten sie nichts besseres zu tun, als die NATO massiv zu unterstützen, um einen Krieg voranzutreiben. Ich hatte echt gedacht, die wären in der Mehrzahl Pazifisten... Krieg ist doch umweltschädlich, oder?

  • Ich habe gerade eine Twitter-Abstimmung gesehen, ob Russland berechtigt agierte:


    1300 Stimmen - 92% - Ja



    Man muss sich mal vorstellen man hat eine Melnyk-Regierung die den Bayern/Hessen ihre Sprache verbieten will, ihre Sender abschaltet, alle Parteien bis auf die Rechten verbietet, dann noch von eigenen Atomwaffen schwafelt ... 15.000 Menschen umgebracht hat, da fällt einem auch nichts mehr zu ein.


    Danke an alle PR-Parlamente die im Chorus Slava Ukraini mit Standing Ovations sangen und klatschten.



  • Ich glaube entgegen der Kreml-Propaganda sollte an der Stelle mit den 15.000 Toten im Zeitraum zwischen der völkerechtswiedrigen Annektion der Krim 2014 und 2021 auch der Bereicht von der UN genannt werden. Aus diesem geht hervor das der Großteil der Opfer russische Separatisten (6500) oder Ukrainische Soldaten (4400) sind. Auf welches Konto die verbliebenen ~3400 Zivilisten gehen ist hier nicht erkenntlich, zumindest bei der MH17 weiss man ja wer Sie abgeschossen hat...

  • Na ja. Zumindest im Zeitraum 2018 bis 2021 erwähnt die Untersuchung der UN allerdings folgendes Verhältnis:


    Also die oft zitierten "über 80% ziviler Opfer" auf dem Gebiet der "Volksrepubliken".


    Allerdings waren die meisten der ca.3.400 zivilen Opfer in den ersten Kriegsjahren ab 2014 zu verzeichnen und zu deren Verteilung macht der Bericht keine Angaben. Unberücksichtigt sind auch die Opfer die 2022 mit der starken Intensivierung der Kampfhandlungen kurz vor der Invasion einher gingen.


    Ganz unwahrscheinlich erscheint es aber nicht, dass die Opferzahlen auf Seiten der Separatisten höher liegen, weil auf der anderen Seite eben die von der NATO unterstützte ukrainische Armee stand und sie selbst deutlich schwächer bewaffnet waren. Russland hat da natürlich nachgeholfen, aber offiziell standen bis zum 24. Februar keine russischen Truppen im Donbass - vor allem keine Panzerverbände mit schwerer Artillerie und Luftunterstützung.

  • Für mich steht da erstmal nur das die genannten 310 Zivilisten in den von Russland von Separatisten kontrollierten Gebieten gestorben sind, jedoch nicht durch wessen zutun (wie oben geschrieben).

  • Bei einer Seite mit der URL "anti-spiegel.ru" könnte man einen gewissen Bias vermuten. Der Wikipedia Artikel über den Betreibers Thomas Röper legt jedenfalls nahe das es sich hier wieder um einen Verschwörungsvermarkter wie Reitschuster handelt. Also war "Kreml-Propaganda" schon der passende Begriff.

    Passend dazu steht natürlich im OSZE Bericht wieder nur dass 75% der zivilen Opfer im genannten Zeitraum in den Grenzgebieten starben (Of the civilian casualties due to shelling and SALW fire, nearly 75 per cent (464 casualties) occurred in our areas along the contact line), nicht aber durch wen. Für den in Sankt Petersburg lebenden Herrn Röper folgt nun der non-sequitur dass dies durch die Ukrainer passiert ist --> Es entsteht die Falschaussage : "Da das Ergebnis ist, dass Kiew für 3/4 der Opfer verantwortlich ist"

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