Zur Feier des morgigen Tages, an dem vor 20 Jahren eine von den USA geführte Koalition der Willigen dem irakischen Staat die Freiheit brachte, indem sie in den folgenden Wochen, Monaten und Jahren der Besatzung ein paar hunderttausend seiner StaatsbürgerInnen tötete.
Die Angst der Medien vor der Wahrheit
Die Parallelen zwischen Ukraine- und Irakkrieg sind frappierend. Zum 20. Jahrestag des US-Überfalls versuchen Journalisten daher, Brandmauern zu "Paria-Putin" zu errichten. Die Kriegserzählungen im Ideologie-Check.
Vor fast exakt zwanzig Jahren, am 19. März 2003, verkündete der Präsident der Vereinigten Staaten George W. Bush der amerikanischen Nation in einer Fernsehansprache:
"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, in dieser Stunde befinden sich die amerikanischen Streitkräfte und die Koalitionstruppen in der Anfangsphase der militärischen Operationen zur Entwaffnung des Irak, zur Befreiung seines Volkes und zur Verteidigung der Welt vor großen Gefahren."
"Militärische Operation", "Entwaffnung", "Befreiung", "Verteidigung": Es sind Worte, die an den russischen Präsidenten Wladimir Putin 19 Jahre später erinnern, als er die russische "Spezialoperation" in der Ukraine 2022 ankündigte.
Eine Ähnlichkeit, die für westliche Journalisten unangenehm wirken muss. Die USA als Vorbild für die russische Aggression, den "Paria-Putin"? Schauen wir genauer hin. [...]
Ach so. Wir sollen ja nicht immer nur so einseitig den amerikanischen Imperialismus kritisieren. Das wäre wirklich zu kurz gedacht, denn schliesslich haben die USA auch treue Verbündete, die sogar bei völkerrechtswidrigen Angriffskriegen mitmachen, obwohl sie öffentlich not convinced waren, dass die angegebenen Kriegsgründe wirklich ausreichen würden, um so einen mechanisierten Massemord vor dem demokratischen Souverän zu rechtfertigen.
ZitatAlles anzeigen[...] Wenn westliche Demokratien wie die USA und ihre Nato-Verbündeten verheerende Angriffskriege führen, sind es im äußersten Fall Verirrungen einer Demokratie im Zuge von "Terrorschocks", Fehlschlüssen und wohlmeinenden Absichten, einen Diktator zu stürzen. Diese Formel gilt aber nur für den Westen und seine befreundeten Länder. Andere haben keinen Anspruch darauf.
Was ebenfalls bis heute mehr oder weniger unter den Tisch gekehrt wird: die Verantwortung Deutschlands beim Irak-Krieg.
Deutschland hat für die Durchführung des Angriffskriegs ab 2003 die komplette militärische Infrastruktur der Vereinigten Staaten auf deutschem Boden zur Verfügung gestellt, inklusive der für den Einsatz wichtigen US-Militärbasis in Ramstein/Rheinland-Pfalz (mit dem größten Militärkrankenhaus außerhalb der USA), des Africom-Stützpunkts bei Stuttgart ("Afrikanisches Kommando" der USA seit 2007, wie Ramstein zentral für Spezialeinsätze und den globalen Drohnenkrieg) und des Flughafens Leipzig/Halle.
Über diesen Flughafen wurde im Verlauf des Irak-Kriegs der militärische Nachschub abgewickelt, weil die Iren ihr Land und ihren Luftraum dafür nicht mehr bereitstellen wollten. Die deutsche Regierung sprang ein. Die US-amerikanische Logistik in Deutschland wird u.a. vom deutschen Steuerzahler mit geschätzt rund einer Milliarde Dollar pro Jahr (so die New York Times) finanziert.
Deutschland ist also mitverantwortlich als Sponsor und Mithelfer beim größten Kriegsverbrechen im 21. Jahrhundert, angeführt von den Vereinigten Staaten. [...]
Die Forscher der Johns Hopkins University errechneten aus repräsentativen Untersuchungen vor Ort, im angesehenen britischen Medizinjournal Lancet peer-reviewed erschienen, dass 601.027 Iraker, größtenteils Zivilisten, zwischen März 2003 und Juli 2006 im Krieg gewaltsam getötet wurden. ORB kam 2008 auf Grundlage von repräsentativen Umfragen irakischer Haushalte auf eine Opferzahl von rund einer Million Iraker als Folge des Kriegs.
Wie viele US-amerikanische Zivilisten wurden von Irakern demgegenüber getötet? Welche Schäden erlitten San Francisco, Washington D.C. oder Boston durch irakisches Militär? Soviel zur ausgewogenen Opfer-Arithmetik des Spiegels.
Die Medien haben bis heute Angst vor der Wahrheit, weil sie selbst zu einem integralen Bestandteil des Irak-Kriegs geworden sind – wie auch bei den anderen westlichen Kriegsmärchen. Sie haben weggeschaut und gerechtfertigt – und tun es weiter, mit wenigen Abstrichen. Zugleich operieren sie auf offener Bühne mit doppelten Standards.
Sie erklären Russland unisono zum Paria der Weltgeschichte, während sie das globale Großverbrechen der USA zum 20. Jahrestag wegschwurbeln – wie auch viele andere Verbrechen, die bis heute andauern, siehe den Drohnenkrieg. Sie fordern ein Sondertribunal für die russischen Kriegsverbrechen. Und für die Kriegsverbrecher und Kriegsverbrecherinnen zu Hause heißt es: Schwamm drüber.
Sicherlich, für Kritiker:innen dieser Heuchelei gibt es Gegenmittel: "Whataboutism" zum Beispiel. Aber niemand zwingt uns, die irrationale und zynische Haltung einzunehmen und wegzuschauen, wenn es uns betrifft.