Ich konnte nicht widerstehen:
https://taz.de/Florence-Gaub-im-Interview/!5863012/
Zitattaz FUTURZWEI: Liebe Frau Gaub, ein Krieg ist eine Geschichte, die erzählt wird, sagen Sie. Was ist damit gemeint?
Florence Gaub: Eine Geschichte auf zweierlei Art: erstens strukturell. Eine Geschichte hat einen Spannungsbogen mit verschiedenen dramatischen Momenten, und sie hat immer ein Narrativ, also einen Sinn, der sich durch sie hindurchzieht. Das hat der Krieg auch. Und zweitens emotional: eine Geschichte lebt davon und der Krieg auch, denn es geht bei ihm um etwas Existenzielles, er bringt uns Menschen dazu, etwas zu tun, was wir unter normalen Umständen nicht machen.
Natürlich ist ein Krieg keine Geschichte. Die Gemeinsamkeiten liegen auf einer so oberflächlichen Ebene, dass man wenn schon alle Zeitabläufe als Geschichte bezeichnen müsste. Das scheint mir eine grundsätzliche Fehlperspektive zu sein. Alles, was Gaub hier erklären soll, basiert letztlich darauf, wie sich die Geschichten über den Krieg vom Krieg als wirklichem Geschehen unterscheiden. Und das Interview steigt damit ein, beides gleichzusetzen.
ZitatFlorence Gaub: [...] Das kann der Tod sein, aber auch etwas Größeres, das Überleben der Nation, also der Identität. [...]
Was soll ich dazu sagen?
ZitatAlles anzeigen[taz FUTURZWEI:] Sie haben gesagt, dass der Westen in dieser Geschichte ein Selbstgespräch führe.
[Florence Gaub:] Genau. Es heißt ja zum Teil in der Presse: Die Ukraine und Europa dominieren das Narrativ und haben den Narrativ-Wettbewerb gewonnen.
[taz FUTURZWEI:] Nein?
[Florence Gaub:] Nein, den hätten wir gewonnen, wenn Russland plötzlich unsere Sichtweise teilen würde. Aber das tun sie ja nicht. Und wenn Sie sich das Abstimmungsverfahren in der Generalversammlung der UNO anschauen, dann haben wir auch nicht den ganzen Rest der Welt überzeugt. Wir haben uns allen voran selbst überzeugt. Aber bislang ist das ein Selbstgespräch. [...]
Immerhin eine gute Erkenntnis. Verstehe nicht, warum die Metapher des Selbstgesprächs verwendet wird. Passt hier eigentlich nicht, offenbart aber möglicherweise eine Haltung. Wenn ich mit der anderen Seite spreche (in Russland und einigen anderen Staaten deutlich stärker gefiltert als in anderen Teilen der Welt), sie aber nicht von meiner Sicht überzeugen kann, dann ist das kein Selbstgespräch - außer vielleicht ich höre nicht zu.
Zitat[Florence Gaub:] [...] Da die meisten Russen sich ihre Informationen nicht auf Twitter holen, sondern aus dem Staatsfernsehen, bekommen sie von seiner aktuellen Kampagne nicht so viel mit.
Das ist so bezeichnend. Sie ist auf Twitter, wo sie von Leuten mit Ukrainefahnen oder Sonnenblumen im Nutzernamen umgeben ist und ihr Narrativ herrscht. Wo sie nicht ist, ist auf Vkontakte oder auf Telegram (wo sich vermutlich auch deutlich mehr Ukrainer rumtreiben). Das Staatsfernsehen in Russland als exklusiv genutztes Medienangebot trifft häuptsächlich auf die älteren Leute zu, allerdings zeichnet sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das in Deutschland das gleiche Zielpublikum haben wird, auch nicht gerade durch übermäßige narrative Vielfalt aus.
(Hab mal geguckt, "Florence of Arabia"?)
Zitat[taz FUTURZWEI:] Jetzt kann man aber wirklich schlecht sagen: Leute, dieser Putin hat sicher auch seine guten Seiten.
[Florence Gaub:] Sie meinen im Sinne von: Hitler war auch nett zu seinem Hund? Worum es mir geht, ist, dass wir uns total schwertun, die Komplexität vieler Sachverhalte zu akzeptieren, gerade wenn es um Gewalt und Krieg geht. Wir wollen nicht, dass die anderen komplex sind. Es ist einfacher zu sagen, Putin ist verrückt oder er ist böse, als zu sagen: Wahrscheinlich hat er irgendein Argument, das ich halt nicht nachvollziehen kann.
Wie ich sagte, die narrative Verstrickung zieht sich komplett durch. Der Griff zum Vergleich mit Hitler, was auf das Vorherrschen der Setzung Putin = Hitler hindeutet, und dann muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, welche Haltung sie als die bessere charakterisiert: Anzunehmen, dass Putin "irgendein Argument" haben könnte und dann - ohne dieses zu kennen wohlgemerkt - davon auszugehen, dass man es nicht nachvollziehen können wird.
ZitatAlles anzeigen[taz FUTURZWEI:] Was ist denn die Geschichte aus russischer Sicht?
[Florence Gaub:] Es war uns von Anfang an nicht klar, was Russland jetzt eigentlich will. Will es plötzlich die ganze Ukraine oder will es nur den Donbass und die Krim? Oder will es einen Dritten Weltkrieg anfangen? Nicht verstehen, was die Gegenseite erzählt als Geschichte, gehört zum Teil des Problems. Uns ist völlig klar, welche Geschichte die Ukraine erzählen will und welche wir selber erzählen, aber wir verstehen Russlands Geschichte nicht.
[taz FUTURZWEI:] Ist die russische Geschichte nicht: Befreiung der Ukraine von Nazis?
[Florence Gaub:] Ja, aber das ist ja nur ein Teil einer größeren Geschichte, in der Russland sich seit Jahren im Kampf um sein geopolitisches Überleben sieht.
Also ich habe nicht unter dieser Unklarheit gelitten, nachdem der erste Schock überwunden war, und jetzt kann man mir vorwerfen, dass ich zu sehr zum Beispiel dem geopolitischen Narrativ anhänge, aber als Analyserahmen produziert er ein verständliches Bild des Konfliktes und das kann man ja dann immer noch mit Spekulationen über persönliche historische Missionen von Wladimir Putin modifizieren. Auch, was ich seitdem an Details über den Konflikt in den letzten Jahren dazugelernt habe, passt sich eigentlich alles in diese Analyse ein. Aber da kann man mir natürlich vorwerfen, dass ich der kognitiven Verzerrung, bestätigende Informationen zu bevorzugen, unterliege.
Immer wenn sie sowas sagt wie "wir verstehen Russlands Geschichte nicht", frage ich mich, ob sie über die Öffentlichkeit spricht oder ob sie sich da selbst mit einschließt.
Zitat[taz FUTURZWEI:] Lassen Sie uns konkret werden: Wenn ich ein anderes Land erobern will und da eine Stadt mit Gewalt kaputtmache, was habe ich dann gewonnen?
Es geht um Mariupol.
Zitat[taz FUTURZWEI:] Was habe ich also davon?
[Florence Gaub:] Sie haben nichts davon, aber sie könnten trotzdem versucht sein, diese Waffe einzusetzen, wenn sie sonst kein Mittel mehr haben. Als weitere Erklärung gibt es die Infrastruktur: man muss Sachen kaputtmachen, damit die anderen das nicht mehr verwenden können. Aber dafür muss man eigentlich nicht eine ganze Stadt kaputtmachen.
Das klingt so, als hätten die Russen Mariupol erstmal komplett zerstört und dann sind die Ukrainer von dort abgezogen. Die militärische Alternative wäre hier nach der Einkreisung eine lange Belagerung gewesen, bei der man zudem alle schweren Angriffe aus der Stadt heraus hinnimmt, ohne zurück zu schießen, wenn man wirklich nichts kaputt machen will.
Zitat[Florence Gaub:] [...] Die NATO hat in Libyen extrem darauf geachtet, nicht zu viel kaputt zu machen, weil man dachte: Nach dem Krieg will man ja, dass der Aufbau schnell vorangeht, also zerstört man so wenig wie möglich. Ich gebe ein Beispiel: Da gab es eine ganz bestimmte Brücke, die dazu diente, feindliche Truppen hin und her zu bewegen. Und dann hieß es aber aus dem NATO-Hauptquartier: Nein, die Brücke zerstören wir nicht, weil wir sie nach dem Krieg brauchen.
Ah, die NATO als Positivbeispiel. Komisch, dass sich bei Durchsetzung der Flugverbotszone, während sie sich aus dem Krieg rausgehalten haben, die Frage, Brücken zu zerstören, überhaupt gestellt hat.
Zitat[taz FUTURZWEI:] Gibt es bei der Zerstörung von Mariupol eine tiefere Geschichte?
[Florence Gaub:] Interessant ist, dass Russland der Ukraine einen Waffenstillstand in Mariupol angeboten hat, weil Russland eben nicht weiterhin in Mariupol feststecken wollte. Die Ukrainer haben die Russen absichtlich in Mariupol festgehalten, damit sie eben nicht irgendwo anders hinkommen. Das heißt, die Ukraine hat aus strategischen Zielen heraus in Kauf genommen, dass Mariupol total zerstört werden würde und dass es viele zivile Opfer geben würde. Das stört mich manchmal bei der Berichterstattung, dass man unseren Zuschauern Bilder zeigt, ohne zu erklären, was die Hintergründe sind.
Auch hier erstmal gute Erkenntnis. Ich sehe da natürlich noch ein versteckes Narrativ, nämlich das ukrainischer Initiative. Die Russen haben einen freien Abzug angeboten - und gut, das wäre mit einem Waffenstillstand einhergegangen - aber bei ihr hört es sich so an, als hätten die Ukrainer in der Stadt bleiben können. Was sie auch nicht sagt, dass die ukrainischen Truppen ebenfalls geopfert wurden - ich denke zu dem Zeitpunkt war völlig klar, dass eine Entsetzung von Mariupol nicht möglich ist. Beides passt auch zum Narrativ, dass die Ukrainer den Russen schon große Niederlagen in diesem Krieg zugefügt haben. Das Ausschlagen eines Abzugsangebots, das die Ukrainer als Entsetzung nicht und als Ausbruch wahrscheinlich auch nicht hätten umsetzen können, wird so zum Ausdruck strategischer Wahlfreiheit.