#502 - Marianne Birthler (ehem. Stasi-Unterlagen-Chefin)

  • Halt, ich hätte da noch eine Frage:


    Zur Stasi und den Unterlagen:

    • Was ist alles in den Stasi-Unterlagen erfasst? Gibt es dort eine gewisse Struktur, wer oder was erfasst wurde? Oder war die Stasi eine Datenkrake nach dem Motto "Hauptsache alles mitnehmen"?
    • Gab es Grenzen der Überwachung, vielleicht auch technischer Natur?
    • (In Anlehnung an das Brinkmann-Interview:) Was ist der Forschungsstand der Stasi-Unterlagen? Gibt es unbekanntes Wissen, dass noch unerforscht ist? Und gibt es Dinge, von denen wir noch überhaupt nichts wissen?
    • Kannst du sagen wie Joachim Gauck die Arbeit der Behörde, die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen und des DDR-Regimes geprägt hat? Wie bewertest du sein Wirken von damals?


    Zur Tagespolitik:

    • Wie siehst du die Diskussion bezüglich der "DDR als Unrechtsstaat"? Wie definierst du den Begriff? Warum tun sich Teile der Linken heute so schwer das DDR-Regime zu verurteilen?
    • Was nimmst du mit aus deiner Arbeit in der Behörde im Hinblick auf politische Diskussionen rund Polizeigesetze, Online-Durchsuchungen usw.?
  • Wie gefährlich war die Stasi für den Durchschnittsbürger, der weder im Widerstand, noch in der Partei war? Wie wahrscheinlich war es, dass die Stasi jene Leute bespitzelt hat und wie realistisch war die Gefahr, dass Maßnahmen gegen jene Leute eingeleitet wurden? Die jungen Generationen (ich sage mal alle nach 85 Geborenen) können sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, was die Gefahr für den Alltag bedeutete.


    Wenn sie zur Tagespolitik etwas beitragen kann:

    Mich interessiert ebenfalls, ob parallelen zwischen den Stasiakten und den aktuellen Überwachungsbestrebungen, inklusive Polizeigesetze, gibt. Als Beispiel würde mir die Rasterfahndung via Funktzellenabfrage einfallen, bzw im Hinblick auf Polizeigesetze die verdachtsunabhängige Festnahme.


    Auch würde mich interessieren, ob sie es für sinnvoll oder gar notwendig erachten würde, im Hinblick auf die Überwachungsbestrebungen, dass Politiker sich mit den Erkenntnissen aus Stasiakten befassen sollten?

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    • Siehst Du im Nachhinein die Wende als friedliche "Revolution", oder war sie eher eine Übernahme des DDR-Staatsgebietes durch die BRD?
      • Gab es - jenseits der antidemokratischen Ein-Parteienherrschaft, des brutalen Grenzregimes und der Überwachung durch die Staatssicherheit - auch Aspekte der DDR-Gesellschaft die man hätte beibehalten können? Bzw.:
      • wäre es vielleicht besser gewesen der DDR die Gelegenheit zu geben, sich selbst zu demokratisieren oder war die schnelle Wiedervereinigung alternativlos?


    • Zusatzfrage: Sind mittlerweile alle Stasi-Unterlagen die damals in den Wirren des Mauerfalls von der CIA requiriert wurden, wieder zurück gegeben worden, oder fehlen da noch welche?
  • Sie war Mitglied der Unabh. Untersuchungskomission für die Vorgänge am 7. & 8. Oktober 1989 (40. Jahrestag der DDR) - welche Optionen für den Umgang mit den parallel laufenden Protesten lagen auf dem Tisch, wie war die generelle Einschätzung der Lage und wie nah war die Situation an einer "chinesischen Lösung" ?


    1990-92 als Ministerin für Jugend, Bildung und Sport kam es zu Auseinandersetzungen mit dem damaligen brandenburg. Ministerpräsident Manfred Stolpe aufgrund seiner Kontakte zum MfS und sie trat zurück - bspw. hier:

    „Um Stolpe zu schonen, bildete sich – im stillen Einvernehmen zwischen SPD, CDU und PDS – ein Kartell des Schweigens“, sagte Birthler. Stolpe selbst habe „seine jahrelange konspirative Zusammenarbeit auf unerträgliche Weise verharmlost“, aber von ihr als damaliger Ministerin Loyalität verlangt. Deshalb sei sie von ihrem Amt zurückgetreten.

    und hier:

    Er berief sich dabei auf die Loyalität, die ich ihm als Kabinettsmitglied schulde«, sagte Birthler am Dienstag.

    Die einstige DDR-Bürgerrechtlerin und damalige Bildungsministerin im Kabinett Stolpe war im Herbst 1992 aus Protest gegen Stolpes frühere Kontakte zum DDR-Ministerium für Staatssicherheit zurückgetreten. Sie habe die Äußerungen Stolpes noch so genau in Erinnerung, weil sie zunächst schweren Herzens zugestimmt habe, sagte Birthler. Sie habe dann aber gemerkt, dass sie nicht schweigen könne. »So blieb mir nur noch der Rücktritt.

    Warum hat sie anfangs, wenn auch schweren Herzen, den Bedingungen Stolpes zugestimmt? Warum konnte sie irgendwann nicht mehr schweigen? Was steckt hinter dem Vorwurf des Schweigekartells zwischen SPD, CDU und PDS und wie konnte das zwischen derart divergenten Parteien zustandekommen?


    1997 gab es ihrerseits einen Spontanauftritt vor der serbischen Opposition gegen Milosevic. Ggf gibts da noch schöne Einsichten & Zeitzeugeninfos abzuholen.

    Einmal editiert, zuletzt von leie () aus folgendem Grund: m( Toll. Bin viel zu spät...

  • Sehr, sehr schöne Episode! Es ist immer toll wenn Personen interviewt werden, die von ihrem bewegten Leben erzählen. Unerwartet im positiven Sinne, dass der Teil zu den Bürgerräten so lang war. Aber das hat viel Inspiration zum Nachdenken gebracht. Ich muss mir das nochmal anschauen.


    Aber bei der Frage zur Linken und Gysi sagte sie auf Hans' Nachfrage, sie weiß dass Gysi für die Stasi gearbeitet hat und er uns (die Öffentlichkeit) anlügt. Ich musste daraufhin wikipedia aufschlagen und vielleicht liegt es schon an der späten Stunde aber woran macht sie das fest? im Wikipedia-Artikel steht im Grunde genommen, dass u.a. auch gerichtlich nicht eindeutig belegt werden konnte, dass Gysi für die Stasi tätig war und es darüber quasi ein Jahrzehnt einen Rechtsstreit gab. Man könnte jetzt sagen, dass sei nicht mehr wichtig, weil Gysi politisch kein Gewicht mehr hat. Es interessiert mich dennoch woran Birthler das fest macht?



    Mein inhaltlich wertvollster Beitrag zum Interview: Tilo Die ganzen 2h10min war ich abgelenkt, weil ich mich gefragt hab, ob das Ric Flair neben Andre The Giant auf deinem Shirt ist? Mein Favorite war immer The Great Khali ;)

  • Aber bei der Frage zur Linken und Gysi sagte sie auf Hans' Nachfrage, sie weiß dass Gysi für die Stasi gearbeitet hat und er uns (die Öffentlichkeit) anlügt. Ich musste daraufhin wikipedia aufschlagen und vielleicht liegt es schon an der späten Stunde aber woran macht sie das fest? im Wikipedia-Artikel steht im Grunde genommen, dass u.a. auch gerichtlich nicht eindeutig belegt werden konnte, dass Gysi für die Stasi tätig war und es darüber quasi ein Jahrzehnt einen Rechtsstreit gab. Man könnte jetzt sagen, dass sei nicht mehr wichtig, weil Gysi politisch kein Gewicht mehr hat. Es interessiert mich dennoch woran Birthler das fest macht?

    Weil es Stasi Unterlagen über ihn gibt, in denen er als IM gekennzeichnet ist. IM steht für "inoffizieller Mitarbeiter".

  • Weil es Stasi Unterlagen über ihn gibt, in denen er als IM gekennzeichnet ist. IM steht für "inoffizieller Mitarbeiter".

    Also nach meiner kurzen Lektüre wie gesagt in Wiki scheint es Akten über IM Gregor bzw. IM Notar zu geben. Die Frage dreht sich nach meinem Verständnis darum zu drehen, ob Gysi aktiv der Stasi zugearbeitet und politische Oppositionelle bespitzelt hat. Denn Birthler hat ja selber gesagt, dass ein Vermerk als IM nicht automatisch bedeutet, dass man Spitzel gewesen ist. Das hat sie ja am Beispiel des Jugendlichen, der vom Rektor zitiert wurde deutlich gemacht.

  • Also nach meiner kurzen Lektüre wie gesagt in Wiki scheint es Akten über IM Gregor bzw. IM Notar zu geben. Die Frage dreht sich nach meinem Verständnis darum zu drehen, ob Gysi aktiv der Stasi zugearbeitet und politische Oppositionelle bespitzelt hat. Denn Birthler hat ja selber gesagt, dass ein Vermerk als IM nicht automatisch bedeutet, dass man Spitzel gewesen ist. Das hat sie ja am Beispiel des Jugendlichen, der vom Rektor zitiert wurde deutlich gemacht.

    Wenn dich das Thema interessiert, würde ich dir die Reportage/ Dokus der ÖR empfehlen.

    NAch dem Schauen fängt man unweigerlich damit an, Gysi mit anderen Augen zu sehen.

    Und ob er ein Spitzel war ist auch nicht unbedingt der primäre Grund weshalb man ihn da kritisch beäugen sollte. Es geht ja auch darum, ob er Nutznießer des Systems war.

  • @Bruto Ok dann ist schon geklärt was ich am Wochenende gucke, danke! Es ist ja nicht so, dass mein Weltbild zusammenbrechen würde, wenn ich ein anderes Bild über Gysi bekommen würde. Es bettet sich aber ein in einen größeren Kontext, dass ich Probleme mit der Partei Die Linke habe, wenn es um das Thema DDR-Aufarbeitung, sowohl politisch als auch personell, und deren Verhältnis zu Diktaturen geht. Es geht ja nicht darum, dass die Union platt nach Sozialismus bei den Linken schreit. Naja, ich gucks mir gerne an und Gysi war ja auch nicht Hauptthema im Birthler-Interview.


    Und ja, das ist Hulk Hogan auf dem Bild fyi ;)

  • Die Frage dreht sich nach meinem Verständnis darum zu drehen, ob Gysi aktiv der Stasi zugearbeitet und politische Oppositionelle bespitzelt hat.

    Davon musst du ausgehen. Jedem, der in diesem System auch nur kurzzeitig bewusst gelebt hat, ist ganz klar, dass ihn seine Stellung zwangsläufig in sehr intensiven Kontakt mit der Stasi gebracht hat, da ging ganz sicher genau gar kein Weg dran vorbei.

    Er ist also jemand, der nicht in Fundamentalopposition zum System ging, sondern zu TradeOffs bereit war. Die Frage ist, wie weit er dabei ging, wie kleinteilig und intensiv das war und vor allem: wieviel echte innere Überzeugung wieviel purem Opportunismus gegenüberstand.


    Zur inneren Überzeugung würde ich nicht nur radikalen Antifaschismus/Antiimperialismus bzw. den tiefen Traum vom Sozialismus zählen, ein Antrieb, der viele der ersten Generation aus der Erfahrung mit dem Faschismus sehr stark befeuerte sondern auch die Ableitung davon, die eher nachfolgenden, nicht mehr direkt vom Faschismus Betroffenen zugute gehalten werden kann. Die Überzeugung, wenn dieses System nicht überlebt, dann bleibt nichts ausser Imperialismus und damit letztlich Faschismus und dann ist das Experiment der systemischen Verbesserung Welt aus einem revolutionärem Willen des Menschen heraus endgültig gescheitert. Das ist, ganz grob, mein Verständnis der Indoktrination dieser Zeit. Das ist das Paket, mit dem du in der DDR geistig aufgeladen wurdest und das du dann im Alltag mit dem real existierenden Sozialismus abgleichen musstest. Und da kommt dann jeder zu anderen Schlüssen.


    Gysi hat sich zweifelsfrei dem System angedient. Er war sich des grundsätzlichen Dilemmas ganz bestimmt völlig bewusst. Ich persönlich glaube&hoffe, dass er seine Entscheidung, seinen TradeOff weniger aus Opportunismus, denn aus strategischen Überlegungen und einer ordentlichen Portion Überzeugung heraus getätigt hat. Aber es gibt wohl mehr als nur eine Episode in seinem Kuhhandel mit dem real existierenden Sozialismus, der auf der moralischen Ebene entweder so gewaltig oder auch nur so peinlich sein muss, dass er partout nicht darüber reden kann auch um den Preis, entgegen seiner Natur völlig unsouverän zu wirken.


    Jetzt mache ich einen TradeOff: Ich mag ihn trotzdem. Mit Restzweifel. Aber er ist es wert.

  • Es bettet sich aber ein in einen größeren Kontext, dass ich Probleme mit der Partei Die Linke habe, wenn es um das Thema DDR-Aufarbeitung, sowohl politisch als auch personell, und deren Verhältnis zu Diktaturen geht.

    Als jemand, der im Osten aufgewachsen ist und sein Leben lang bei jeder Bundestagswahl „brav“ sein Kreuz bei der PDS/Linke gemacht hat und dessen Großmutter sogar noch Parteimitglied ist, möchte ich dazu mal etwas schreiben. Es ist sicherlich eine sehr ostdeutsche Perspektive und leie hat dazu schon Dinge geschrieben, die ich sehr teile. Auf einen ähnlichen Kommentar von Dir wollte ich schon im H.W.-Thread antworten, kam allerdings nicht dazu.


    Ich denke, dass man als DDR-Bürger ziemlich genau wußte wie es zu diesem Staat kam. Die Gründung der DDR hatte eine Vorgeschichte und die ist im wesentlichen mit dem Überfall der Wehrmacht auf die SU erzählt. Das Ausmaß der Verbrechen der Nazis und die Ermordung von Millionen Menschen wurde in der DDR immer wieder betont. Dieser Staat betonte an jeder Stelle, dass seine Legitimation darin besteht der einzige wirklich antifaschistische Staat zu sein mit einem antifaschistischen Schutzwall und antifaschistischen Bürgern.

    Dass das in der Realität freilich Risse und Widersprüche hatte, ist klar. Der Versuch ein solcher Staat nach dem II. WK zu sein und eine Gesellschaft aufzubauen, die geistig und moralisch nicht mehr in der Lage ist ein derartiges Verbrechen zu begehen, sollte trotzdem ernst genommen werden. Die DDR war (gerade zu Beginn) ein ernsthafter und in meinen Augen auch legitimer Versuch einen sozialistischen und antifaschistischen Staat auf deutschem Boden zu errichten...und das eben, nachdem von Deutschen das größte Verbrechen aller Zeiten verübt wurde.

    Ist es da verständlich, dass ein Rotarmist, der evtl. Kameraden, Familie und Haus verloren hat, vielleicht kein Verständnis dafür hatte, dass ausgerechnet in Deutschland jetzt wieder eine Demokratie entstehen soll, damit sich dieses Volk der, grob formuliert, Mörder und Arschlöcher seinen nächsten Führer wählen kann?! Ich hätte dafür sicherlich kein Verständnis gehabt. Und wie hätte ich als Rotarmist auf die Aufstände am 17. Juni 1953 reagiert? Arbeiter, meist männlich, noch vor 8 Jahren in Wehrmachtsuniform, demonstrierten hier nicht nur gegen Normerhöhungen, sondern auch gegen die Besatzer. Wolf Biermann, kein ganz unkritischer Zeitgenosse damals, attestierte noch während seines Konzerts in Köln 74 dem Aufstand damals einen „gefährlichen Januskopf“ es wäre „schon ein demokratischer Arbeiteraufstand“ und „noch eine faschistische Erhebung“ gewesen. Ich glaube an diese Darstellung mehr als an die, die wir heute so vermittelt bekommen. Nicht weil ich die DDR jetzt besonders toll fand, sondern weil es eben unvorstellbar ist, dass sich nach 45 alle Täter in antifaschistische Arbeiter und Bauern verwandelt hätten. In dem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass viele ehemalige Nazi-Figuren, die auch vor 45 richtig was zu melden hatten (H.Reinefarth), nach 45 in der BRD vollkommen ungestraft in Amt und Würden weiter leben konnten, ohne dass sie dort irgendjemand behelligte.

    Ich behaupte mal, dass jemand wie Gysi nach 1990 in der BRD genauer unter die Lupe genommen wurde als der SS-Gruppenführer, was mir wiederum zeigt, worin die Prioritäten dieses Staates damals lagen. H.Müller hat mal sinngemäß formuliert: „die westlichen Alliierten hatten im Grunde kein Problem mit Hitler. Die fanden das richtig, was er machte und hätten lieber gegen Stalin Krieg geführt. Er ging dann aber zu weit und hat offenbar in Geographie nicht richtig aufgepasst. Ansonsten machte er ja auch nur genau das, was auf allen Kontinenten zeitgleich geschah. Er führte einen imperialistischen Krieg.“

    Ich glaube, dass da etwas dran ist und nehme daher rückblickend dem Westen seine Entnazifizierung aus wertbasierten Gründen auch nicht wirklich ab. Es ist für mich ein ziemlich heftiges, 2. Verbrechen, dass man in der BRD im Grunde kein Interesse an der Aufarbeitung des 2. WK hatte und den vielleicht wichtigsten Grund in der DDR alles andre als einen Unrechtsstaat zu sehen. Da konnte man als SS-Gruppenführer nämlich sicherlich kein Bürgermeister oder hoher Beamter mehr werden (Ausnahmen gab es im militärischen Bereich, ich weiß)


    Also...ich glaube man muss, wenn man die DDR bewertet immer die Vorgeschichte mit einbeziehen. Man kann nicht aus heutiger Sicht darauf schauen, den DDR-Staat mit dem heutigen BRD-Staat vergleichen und urteilen: „Das war aber damals ungerecht.“ Als bspw. polnischer Staatsbürger könnte man das heute so sagen, aber die Vorgeschichte ist gänzlich andere.


    Gleichzeitig verstehe ich aber auch meinen Vater, der z.B. überhaupt nichts mit dieser DDR mehr anfangen konnte und sich sicherlich zu Recht allzu häufig schikaniert fühlte. Äußerte er Kritik an diesem Staat wurde ihm unterstellt „Gegen den Frieden“ zu sein. Je mehr Generationen in diesem Staat heranwuchsen, die nichts mehr mit der Vorgeschichte dieses Staates zu tun hatten, umso mehr verlor dieser Staat letztlich an Legitimation. Die westdeutsche 68er-Bewegung holte hingegen das nach, was der westdeutsche Staat bei seiner Gründung versäumte; eine gewisse Aufarbeitung der Verbrechen und die Schaffung eines Mainstreams, der von sich aus als tolerant und eher wertorientiert beschrieben werden kann, wohingegen im Osten ein „richtiges Bewusstsein“ immer vorgegeben wurde und Antifaschismus eben eher aufoktroyiert, als wirklich gelebt wurde. „Lieber tot als rot“ war dann folglich so ein beliebter Spruch bei ostdeutschen Jugendlichen in den 90ern.

    Rückblickend sehe ich Figuren wie Honecker oder Walter Ulbricht irgendwo sogar auch tragisch. Die wurden vor 45 von den Nazis verfolgt und saßen im Knast oder im sowjetischen Exil. Sie vertrauten, nicht ganz unverständlich, nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, dem Volk das regieren sollten, sicherlich nur noch bedingt. Erich Mielke z.B., verantwortlich für viele Verbrechen der Stasi, befand sich in seiner Jugend permanent im bewaffneten Widerstand gegen Faschisten aller Art. Sowas prägt. Die alten Herren der DDR waren in ihrer Jugend Guerillakämpfer gegen die Faschisten und aus dieser Rolle konnten oder wollten sie wohl nicht heraustreten. Psychisch würde ich sie als zumindest vorbelastet bewerten. Ihr Anliegen gegen den Faschismus und internationalen Imperialismus anzutreten nehme ich diesen Männern im Nachhinein ab. Man kann aber auch fragen ob sie, von Misstrauen durchsetzt, überhaupt bereit waren derart viel Verantwortung für dieses Nachkriegsdeutschland zu übernehmen.


    Das ist allein meine Darstellung und Sicht auf die Dinge. Ich kann mir vorstellen, dass es viele anders sehen. In diesem Kontext wäre für mich das Urteil „Unrechtsstaat“ jedoch zu diskutieren... auch wenn meine Darstellung hier sicherlich noch viel zu oberflächlich ist und sich in Teilen sogar als falsch oder grob verkürzt erweisen kann.

  • für mich als anfang 30 jähriger süddeutscher ne wahnsinnig interessante perspektive. ich hab noch nie gehört dass manche verantwortliche der ddr vorher im dritten reich verfolgt wurden oder im exil waren. finde das schon plausibel, dass daraus vielleicht eine gewisse paranoia, die dann eben zum einrichten dieses überwachungsstaates führt, entsteht.

  • Die westdeutsche 68er-Bewegung holte hingegen das nach, was der westdeutsche Staat bei seiner Gründung versäumte; eine gewisse Aufarbeitung der Verbrechen und die Schaffung eines Mainstreams, der von sich aus als tolerant und eher wertorientiert beschrieben werden kann, wohingegen im Osten ein „richtiges Bewusstsein“ immer vorgegeben wurde und Antifaschismus eben eher aufoktroyiert, als wirklich gelebt wurde. „Lieber tot als rot“ war dann folglich so ein beliebter Spruch bei ostdeutschen Jugendlichen in den 90ern.

    Widersprüche und Zerissenheit, wohin man schaut:


    Also falls man nach Gründen sucht, warum nachträglich ausgerechnet im Osten soviel Braune Schosse unterwegs ist, das "vorgegeben" & "aufoktroyiert" von @Danton , das ist so einer. Ist wirklich tragisch, da die ursprüngliche Intention, den Leuten Antifaschismus als Lehre aus der Geschichte regelrecht einzubrennen, völlig nachvollziehbar und "gut gemeint" sich langfristig als sehr kontraproduktiv erweist.


    Genauso wie der Umstand aus den Anfangsjahren der kleinen Republik, wo man trotz der Erfahrungen mit dem eigenen Monster "Hitler" so erstaunlich bereit war, das andere Monster "Stalin" als Alternative nicht nur hinzunehmen, was ja aus rein praktischen Gründen einigermassen alternativlos war, sondern dem sehr überambitioniert und mit sehr ähnlichen RIten ebenso zu huldigen.

    Mich hat immer völlig irritiert, dass bis zuletzt sehr antifaschistisch/antiimperialistische Reden ausgerechnet vor einer in verschiedene Altersstufen gestaffelten und blockgruppierten Jugend gehalten wurden, wobei irgendwas zum Fanfarentusch rapportiert und in jedem Block eine eigene Fahne gehisst wurde. Der ganze Zauber nannte sich folgerichtig Fahnenappell. Nicht auszudenken, wie das ausgesehen hätte, wäre das Nachts durchgezogen worden.


    Andererseits donnerten dabei sehr farbenprächtige Sätze über den Hof, die geradezu prophetisch beschrieben, was in einer möglichen, nicht wünschenswerten aber heute eben realen Welt ganz ohne sozialistischen Block so los sein würde. Wie der Kapitalismus in seiner zwanghaft imperialistischen Ausstülpung samt seinem militärisch-industriellem Komplex geradezu dazu verdammt sei, im ewigen Hunger nach Macht und Ressourcen Tod und Zwietracht über die Völkergemeinschaft zu bringen und diese auf perfide Weise gegeneinander auszuspielen...


    Währenddessen die Abteilung KoKo - "Kommerzielle Koordination" im Hinterzimmer des realen Spätsozialismus ihrerseits planvoll kommerzielle Interessen gegen die der ihr Schutzbefohlenen ausspielte und zum Beispiel und Gift- und Sondermülldeponien im eigenen Land für westliche Ressourcenverschwender errichten liess oder auch mal Medikamententestreihen an der eigenen Bevölkerung genehmigte, selbstverständlich ohne Wissen derselben.


    Was für Zeiten.

  • gewisse paranoia, die dann eben zum einrichten dieses überwachungsstaates führt, entsteht.

    ..Ich finde es umso verständlicher, wenn man-wie diese Männer live mitbekommen hatte, wie die "Volksdeutschen" in Tschechien und die österreichischen und holländischen Nazis bereit standen als die Wehrmacht einmarschiert.

    Da gab es Listen jüdischer Unternehmer in manchen Firmen wurde am Tag 1 nach Besatzung der Betrieb "arisiert" an einen "volksdeutschen" ehemaligen Mitarbeiter übergeben.

    Das alles wurde vorgeplant.

    Dass man solche Umtriebe von vornherein verhindern wollte, ist menschlich auch mehr als verständlich.

    Wenn man einmal erlebt hat,wie die Faschisten die Länder Europas übernahmen und Mord und Krieg brachten - möchte man das sicher nicht nochmal erleben.

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