Impfpflicht-Kritiker in Berlin auf der Straße: Demokratie-Idealisten in Aktion
Demonstration "Friedlich zusammen": Stärkeres Bemühen um Abgrenzung nach rechts als bei "Querdenkern", aber auch kaum soziale Forderungen – und dafür Herzchen
[...] Man könnte das zuspitzen auf die These, wer ständig vor der Spaltung der Gesellschaft warnt, will vergessen machen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, weil er will, dass sie unverändert bleibt. Das ist natürlich beim offiziellen Diskurs klar. Dort ist erst der Impfvordrängler, dann der Impfverweigerer die Gefahr. Dann muss nicht mehr über die gesellschaftlich Zustände geredet werden, durch die das Gesundheitssystem so heruntergewirtschaftet ist, dass es mit der Pandemie so schwer fertig wird.
Aber auch Impfkritiker wollen von den realen gesellschaftlichen Spaltungen einer kapitalistischen Welt nichts hören. Dafür warnt man ebenfalls vor der Spaltung der Gesellschaft, nur sind es hier die Regierung und wenn schon Konzerne, dann speziell die der Pharmaindustrie, die angeblich dafür verantwortlich sind. Wenn man auf der Demonstration nicht gerade "Friede, Freiheit, Selbstbestimmung" oder "Friedlich Zusammen" rief, dann hatte man vielleicht noch die Pharmaindustrie im Visier, deren Gewinninteressen angeblich dafür sorgen, dass die Pandemie nicht endet, wie uns ein Plakat belehrt.
Dabei wäre natürlich Kritik an der Profitlogik der Pharmaindustrie sinnvoll, wenn sie in eine Kritik am kapitalistischen System insgesamt eingeordnet würde. Schon lange kritisieren Organisationen wie Medico International die Rolle der Pharmaindustrie, die durch ihr Profitinteresse verhindert, dass Medikamente statt einer Ware lebenswichtiges Allgemeingut werden.
Wie immer, wenn man statt einer Kapitalismuskritik einzelne Branchen als besonders gefährlich anprangert, ist der Übergang zu irrationalen Erklärungsmustern nicht weit. Sehr aktiv auf der Demonstration waren junge Leute der Initiative "Studenten stehen auf", die auch sehr stark das bürgerliche Ideal der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung hochhalten und sich gar nicht erst fragen, wie solche schönen Ansprache in einer kapitalistischen Gesellschaft umgesetzt werden sollen.
Wenn dann im Selbstverständnis vor einer Politisierung der Wissenschaft gewarnt und der Bürger als Souverän beschworen wird, dann hören sich die Studenten an, als würden sie das bürgerliche Selbstverständnis besonders ernst nehmen. Eine Kritik an kapitalistischer Gesellschaftsordnung und bürgerlicher Subjektbildung findet man in den Erklärungen nicht.[...]