Wer sind denn nun die Ungeimpften?
Corona - Im Kampf gegen die Pandemie sind die Nicht-Geimpften als Gegner ausgemacht. Dabei haben Politik und Medien ein falsches Bild dieser Menschen. Höchste Zeit für eine differenzierte Sicht
Alles anzeigen[...] Was bei der Debatte um die Ungeimpften indes völlig untergeht, ist der Zusammenhang von Impfstatus, Armut, Bildungsabschluss, Wohnort sowie Diskriminierungs- und Rassismus-Erfahrungen. Viele Impfkampagnen laufen sozial asymmetrisch. In den Vierteln der Reichen bestehen gute bis sehr gute Angebote, in den Vierteln und Regionen mit hoher Armut wenig bis schlechte. Auch in Deutschland sind Menschen mit geringen Einkommen überproportional unter den Ungeimpften vertreten, ebenso Menschen mit Migrationshintergrund: Das fand eine Umfrage der gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung im Juni 2021 heraus. Diese Tendenz bestätigt auch der im November veröffentliche Bericht COVID-19 Impfquoten-Monitoring vom Robert-Koch-Institut. [...]
Es gibt ein Muster in dieser Pandemie: Das Virus trifft die Armen und die Schwächsten der Gesellschaft mit größerer Wucht als die Reichen. Diese soziale Asymmetrie setzt sich beim Impfen fort. In der Debatte über die Ungeimpften werden diese gesellschaftlichen Dimensionen wenig bis gar nicht mit einbezogen. Das ist ein wirklicher Schwachpunkt in der Intervention der Linken. Anfang November sprach der Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, von einer „Pandemie der Ungeimpften“ und legte nach: „Und wir werden niemanden mehr garantieren können, der ungeimpft ins Krankenhaus kommt, dass er überhaupt noch in Thüringen behandelt wird.“ Statt die seit Jahren rückläufige Zahl an Intensivbetten zu kritiseren, sagte er seinem eigenen Wählerklientel lieber, dass ihre Doofheit sie ins Grab bringen könnte.
Die Impfpflicht ist vor dem Hintergrund der eigentlichen Ursachen eine unnütze und völlig unverhältnismäßige Maßnahme. Zudem ist ihr Erfolg ungewiss. Dass es auch anders geht, ganz ohne Zwang und Strafe – geschweige denn über eine Impfpflicht –, zeigt ein Blick in Länder mit hohen Impfquoten. Portugal, Spanien, Island oder Dänemark erreichten Rekordwerte in Europa. Hinter diesen Erfolgen steht eine simple Einsicht: Impfvertrauen ist vorrangig keine individuelle, sondern eben vor allem eine gesellschaftliche und soziale Frage. Auch in Deutschland gibt es positive Beispiele: Bremen hat die höchste Impfquote aller Bundesländer. Fast 80 Prozent aller Menschen dort sind vollständig gegen das Coronavirus geimpft.
Das Erfolgsrezept der Hansestadt? Eine nachhaltige Impfkampagne in Stadtteilen mit großer Armut durch niedrigschwellige Angebote und persönliche Ansprache.
Angesichts solcher Befunde und Aussagen ist es ein Armutszeugnis für die Bundesregierung, dass sie ihre Impfkampagne eben gerade nicht auf die Bedürfnisse und Fragestellung von Ungeimpften zugeschnitten hat. Dasselbe gilt für viele Medien, die das falsche Bild über die Ungeimpften tagtäglich in Print, TV und Online-Beiträgen unkritisch reproduzieren. Die Linke darf bei all dem nicht mitmachen. Natürlich sollte niemand ignorieren, dass es eine relevante Minderheit von ideologisch gefestigten Impfgegner:innen gibt, in deren Kern die faschistische Rechte agiert, welche sich zur Zeit dadurch aufbauen kann. Diese Bewegungen und Organisationen müssen von der gesamten Linken politisch scharf bekämpft werden. Das gilt aber nicht für die Mehrheit der Ungeimpften.[...]