Diskussion mit Albrecht von Lucke, Hans Jessen Show & Tilo - Jung & Naiv im Blätterwald

  • Ich kann nicht so recht glauben, dass ein vernunftbegabter Mensch sagt „Wir müssen abbiegen“, ganz ohne einen Plan, wohin die Reise dann geht.

    Der Green New Deal von Varoufakis' als politische Partei bisher leider recht erfolgloser Pan-Europäischer Bewegung DiEM25 (nicht die neoliberale Variante von Euro-Ursel!) wäre so ein Plan (inklusive nachhaltiges Finanzierungskonzept, regionaler Bürgerbeteiligung und sozialem Ausgleich), den man sofort umsetzen könnte, ohne dabei gleich den Kapitalismus oder die parlamentarische Demokratie abschaffen zu müssen - und gleichzeitig würde er die Möglichkeiten deutlich verbessern, sich längerfristig aus diesem System heraus zu transformieren:


    https://report.gndforeurope.com/edition-de/


    Nur hat die Weigerung sämtlicher europäischer Parteien die irgendwo national was zu melden haben, sich mit sowas ernsthaft auseinanderzusetzen ja leider nichts mit Vernunft und Logik zu tun, sondern mit Ideologischen Scheuklappen und ganz klarer Interessenpolitik für das Kapital und sein privates Investitionsmonopol.

    Und die kriegt man nur weg, wenn man den PolitikerInnen klar macht, dass sie dafür in der Wählerschaft keine Mehrheiten mehr finden können.

  • Weil diese die machtpolitischen Institutionen dieser Demokratie sind?

    Und stellt es sich denn wirklich jemand als einfacher vor, "die Medien" auf einen anderen Kurs zu bringen als "die Parteien"?

    Genau das gleiche Problem wie die Macht- (und damit Wiederwahl-) frage der Berufspolitik habe ich doch in der Medienbranche mit den Klicks/dem Verkauf.

    Du wirst es mir sicher gleich erzürnt um die Ohren hauen, wenn ich schreibe, dass Du hier leider genau das machst, was ich vorher bei AvL (und den meisten öffentlichen Intelektuellen in UnserLand bis tief ins linksliberale Lager hinein) kritisiert habe, indem Du unterstellst, ich hätte von ihm verlangt "revolutionären Geist" zu verschriftlichen.

    Nö, erzürnt sowieso nicht, aber ich haue es Dir grundsätzlich nicht um die Ohren.

    Es war natürlich eine leichte Übertreibung meinerseits, um zu illustrieren, dass ich einfach nicht ganz sehe, was ihr von ihm (AvL) jetzt überhaupt konkret fordert. Du hast es doch selbst wunderbar dargestellt:


    Um mal bei Hohli 's Fußballanalogie zu bleiben: AvL und viele, viele andere kluge Beschreiber des Zeitgeschehens - z.B. auch Leute wie Stefan Schulz, R.D. Precht, oder diverse sozialdemokratisch bis grün inspirierte ÖkonomInnen, die sich gegen den "inneren" Mainstream wenden - sind im Grunde nur qualifizierte KommentatorInnen des laufenden Spielgeschehens. Sie sind sehr erfahren in der Beschreibung von Regelwerken und Spieltaktiken. Sie kennen sich mit den Spielerpersönlichkeiten, mit ihren Stärken und Schwächen, mit den Trainern, Managern, Vereinsvorsitzenden und deren Vereins- und Verbandspolitik bestens aus und geizen auf Nachfrage auch nicht mit eigenen Vorschlägen zur Verbesserung der Abläufe oder zum Austausch einzelner Personalien. Aber sie beschäftigen sich nicht damit, dass der ganze Bundesligaapparat nur deshalb so läuft wie er läuft und auch nur deshalb eine solche Reichweite beim Massenpublikum findet, weil er ein Milliardengeschäft für Vereinsunternehmen, Medienkonzerne und deren private AnteilseignerInnen ist, die ihre Profite daraus schlagen, dass eine mit gigantischen Investitionen hochgezüchtete Maschinerie einen permanenten Wettbewerb inszeniert, aus dem nie ein endgültiger Sieger hervor geht und dessen tatsächlicher Zweck darin besteht, sich selbst endlos am laufen zu halten.


    Nur um das klar zu stellen: Ich schätze Albrechts Arbeit durchaus und ich finde er ist eine gute - weil kontroverse - Ergänzung zu Tilo und Hans. Mir ist auch völlig klar, dass er es gar nicht als seine primäre Aufgabe sieht, zu einer nachhaltigen Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins beizutragen. Nur muss er sich dann halt auch gefallen lassen, dass seine Kritik an Leuten die zumindest versuchen, sich ein Stück weit von der Logik des laufenden Spiel-, Verbands- und Sendelizenzbetriebes zu lösen, nur dann gerechtfertigt erscheint, wenn man kein echtes Problem damit hat, dass am Ende doch immer die FC Bayern AG gewinnt.

    Die Frage ist doch: Will ich bei einem Fußballspiel eine Grundsatzkritik an den Strukturen des Profifußballs hören oder eine Beschreibung der gerade zu sehenden Spielzüge mit dazugehöriger Analyse der Taktik beider Mannschaften uswusf?

    Es haben sicher beide Fragen ihre Berechtigung und auch den Ort, an dem sie gestellt werden. AvL sehe ich, und vermutlich er sich selbst auch, aber in der Kommentatorenrolle (in seiner publizistischen Arbeit) während des Spiels, da passt die Diskussion über Grundsatzfragen einfach nicht hin.


    Wenn man die Metadiskussion führen will, dann muss man das auch so präsentieren, thematisch einführen und unter der Prämisse detailliert abarbeiten. Einfach in den Kommentar über den schönen Flankenlauf von Flügelstürmer Söder mit einem "aber so geht das mit dem Profifußball an sich nicht weiter" einhaken... Das funktioniert nicht und genau da ist die Diskussion gescheitert.

    Das delegitimiert die Frage oder Problematik nicht, aber den Diskussionsstil.

    Und ich wage zu zweifeln, dass man mit AvL nicht auch eine gewinnbringende Diskussion über den Profifußball an sich führen kann.


    Der Aspekt der dabei aber wichtig ist und auf den AvL mMn mehrmals verweisen wollte ist, dass jegliche Art von System Change auch irgendwie umgesetzt werden müsste und da drehen wir uns dann eben doch ein wenig im Kreis: Um Sachen demokratisch umzusetzen, wird man im aktuellen System auf die machtpolitische Institution "Partei" nicht verzichten können, weil sich ohne die nunmal kaum etwas umsetzen lässt. Und um Veränderungen zu erreichen braucht es dann eben doch wieder das "Mitspielen" in den Parteien (und damit auch die Spielberichterstattung). Wie schon mehrmals gesagt, Veränderungen werden nicht vom Himmel fallen. Auch damit sich der Zustand ändert, dass das Meiste mit Parteien steht und fällt, ist etwas, dass sich nur mit und durch Parteien ändern (können lassen) wird. Da beißt sich die Katze ein wenig in den Schwanz.

    Was wirklich fehlt in der deutschen Parteienlandschaft (seit der Satirepart übererfüllt ist) ist eine Partei die "Nein" sagt, der sich Protestwähler, entäuschte Sozialdemokraten, Rechts- und Linksaussteiger guten Gewissens anschließen können:

    Die PLS Partei leerer Stühle/Sitze/Sessel. Einziges Wahlversprechen: wir machen nichts, aber davon jede Menge und in eurem Namen.

    Es gab die Partei der Nichtwähler.

    (Wusste gar nicht, dass die sich aufgelöst haben)

    Hat offensichtlich auch nicht so richtig viel Erfolg gehabt.

  • Die Art wie Parteien aber Deutungshoheiten für sich beanspruchen und mit der Institution der Partei assoziieren müssen macht es wahnsinnig schwer eine Transformation zu gestalten die auf einen gesellschaftlichen Konsens eines Handlungszwangs wie dem Klimawandel beruht. Parteien brauchen Streit, nicht Konsens. Das ist auch für die meisten Themen gut so aber im Fall des Klimawandels scheitert die Demokratie an sich selbst.

    Exakt mein Reden.

    Aber genau dieser Punkt steht und fällt mMn mit der "Berufs"politik.

    Wenn meine wirtschaftliche Existenz auf Gedeih und Verderb davon abhängt wiedergewählt zu werden oder ich schon so lange in diesen Strukturen verhaftet bin, dass ich mir etwas anderes als Politik nicht mehr vorstellen kann, dann kann ich Entscheidungen, die evtl. meine eigene Macht als Politiker beschneiden oder in Gefahr bringen könnten, nicht frei treffen.

    Und wenn die Medien, weil die eben ihrer Aufmerksamkeitslogik folgen, aus jedem innerparteilichen Streit, der aus demokratietheoretischer Perspektive gut, gesund und wünschenswert wäre, eine "zerrissene Partei" machen, die beim Wähler dann nicht als führungsstark und damit wählbar ankommt, dann hat sich eben ein Teufelskreis geschlossen. Und dann geht es selbstverständlich auch nur noch um Köpfe und nicht um Inhalte in der Seifenoper "Politik".


    Möglicherweise hat AvL recht damit dass angesichts dieser Situation ein radikaler Kurswechsel in der Politik schwer vorstellbar ist, aber dann muss doch auch die Konsequenz sein diese Handlungsmacht des Souveräns einzufordern.

    Wer soll das fordern? Wer ist der Souverän?

    Und siehst Du aktuell in der Bevölkerung diese Gedanken bei einer Mehrheit?

    Ich habe es hier schon geschrieben: Die meisten Menschen (meine persönliche Einschätzung) finden doch, dass es alles gar nicht sooo schlecht läuft. Einen revolutionären Geist sehe ich jedenfalls ganz sicher nicht.

  • Nur hat die Weigerung sämtlicher europäischer Parteien die irgendwo national was zu melden haben, sich mit sowas ernsthaft auseinanderzusetzen ja leider nichts mit Vernunft und Logik zu tun, sondern mit Ideologischen Scheuklappen und ganz klarer Interessenpolitik für das Kapital und sein privates Investitionsmonopol.

    Tja, aber das ist Vernunft und Logik. Nur leider halt aus einer kleinteiligen Perspektive, die uns allen hier vermutlich nicht gefällt.

    Das Kapital und sein privates Investitionsmonopol lässt doch ab und zu einen Aufsichtsratsposten springen, auf dem es sich ganz gut aushalten lässt...


    Und die kriegt man nur weg, wenn man den PolitikerInnen klar macht, dass sie dafür in der Wählerschaft keine Mehrheiten mehr finden können.

    Finden sie aber nunmal. ?(

  • Utan

    Ich hatte Tilo mit Bezug auf die Diskussion mit AvL nach seinen Vorstellungen gefragt, aber vielleicht decken die sich ja ein bisschen mit deinen. Obwohl,...

    ...vielleicht auch nicht? Er hat Varoufakis als Ideengeber nicht genannt.

    Man kann, gerade weil so viele ja meinen, es sei alles gut so wie es ist oder man lebe in der beste aller Welten, ja auch ein kleinen Dreh einbauen: nicht unbedingt "change the system" aber "challenge the system", wie bei Jimmy Dore. Man geht die Wette ein, dass die nächste Katastrophe auf jeden Fall kommen wird und wir schon längst darüber Bescheid wissen. Bill Gates hat seinen Vortrag über Infektionskrankheiten wann gemacht? 2015? Fürher? mehr als fünf Jahre hatte man Zeit für Vorbereitungen... :

  • Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum ein Vortrag von Bill Gates zu diesem Thema mehr Relevanz haben soll als die eines anderen x-beliebigen Fachfremden. Ihn aufgrund seiner Milliarden zu erhöhen, indem man ihm hier eine Sonderstellung und spezielle Kompetenz einräumt, zeugt für mich von einem ähnlich schrägen Weltbild wie das andere Extrem, das in ihm den üblen Burschen sieht, der uns alle „chippen“ will.

    Oh warte, es gab neben dem Gates-Vortrag eben auch verschiedene Doktorarbeiten, Papers, die im Netz herumgeisterten und diese Virologin, die treffende mögliche Vorhersagen gemacht haben. So immer nach dem Motto "es ist nur eine Frage de Zeit". Es sind vlt. nicht nur die Milliarden, sondern weil er damals , wie sich heute im Nachhinein herausstellt, Recht hatte. Was soll dieser dumme Kommentar mit dem schrägen Weltbild? Ich hab Gates eher als berühmtes Beispiel genommen, man kann aber eben einfach auf Klimaforscher hören, oder was so mein Steckenpferd wär, ist Hirnforschung in Sachen Erziehung usw. eben die jeweiligen Experten, die alle irgendwo sagen, dass man was besser machen könnte, was herausfordern könnte.


    Auf was man meistens stoßen wird, sind Interessen des Kapitals und verquere Ideologien wie die schwarze Null oder dass Wettbewerb gesund sei.

  • Nur Zufall, dass dir trotzdem zuerst Bill Gates einfiel?

    Nicht ganz, aber ich verehre ihn auch nicht, wie du mir erstmal unterstellen müsstest. Und das Argument steht trotzdem: man hätte was tun können, aber manchmal reitenLeute wie du lieber auf oh so entlarvenden Fragen herum, die überhaupt nichts zur Sache beisteuern, sondern einfach nur nerven wollen.

  • Nur Zufall, dass dir trotzdem zuerst Bill Gates einfiel?


    Warum soll man nicht auf Bill Gates verweisen? Der Name zieht in den Medien. Für seinen Warnvortrag gab es vermutlich mehr Beachtung als für den von irgendwelchen Wissenschaftlern, die keiner kennt. Wenn man mit dem Thema nichts zu tun hat, aber im Nachhinein gerne darauf aufmerksam gemacht worden wäre, hat man bei seiner Präsentation dazu über die Person mehr Anknüpfungspunkte als bei anderen.

  • Nur hat die Weigerung sämtlicher europäischer Parteien die irgendwo national was zu melden haben, sich mit sowas ernsthaft auseinanderzusetzen ja leider nichts mit Vernunft und Logik zu tun, sondern mit Ideologischen Scheuklappen und ganz klarer Interessenpolitik für das Kapital und sein privates Investitionsmonopol.

    Tja, aber das ist Vernunft und Logik. Nur leider halt aus einer kleinteiligen Perspektive, die uns allen hier vermutlich nicht gefällt.

    Das Kapital und sein privates Investitionsmonopol lässt doch ab und zu einen Aufsichtsratsposten springen, auf dem es sich ganz gut aushalten lässt...

    Genau um die Änderung der Perspektive geht es. Ob man das jetzt "Ideologie" nennt, oder nicht - Tatsache ist, dass die Perspektive der WählerInnen nicht vom Himmel fällt. Sie ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse - aber eben aus einem sehr engen und fixierten Blickwinkel reflektiert.


    Und die kriegt man nur weg, wenn man den PolitikerInnen klar macht, dass sie dafür in der Wählerschaft keine Mehrheiten mehr finden können.

    Finden sie aber nunmal.

    Und das findet vor allem deshalb (noch) eine Mehrheit, weil deren Blick auf den Zustand der Gesellschaft obiger perspektivischen Verengung - oder auch: einem "falschen" gesellschaftlichen Bewusstsein - unterliegt.

    Das führt vor allem dazu, dass die permanenten und - aus einer weniger verengten Perspektive durchaus leicht zu erkennenden - Widersprüche dieser kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht wahrgenommen, bzw. ohne große Mühe verdrängt werden können, und somit ein Großteil der öffentlichen wie veröffentlichten Meinung nicht unter ständiger kognitiver Dissonanz leiden muss, wenn sie sich eine gefühlte Realität erschafft, der man sich dann ganz nüchtern und ideologiebefreit verpflichtet fühlen kann, während man linke Systemkritik als Realitätsverweigerung abtut.

    Mit der eigentlichen, ganz konkret und materiell erfassbaren Wirklichkeit im real existierenden neoliberalen Spätkapitalismus hat diese Realität™ aber nur insofern etwas zu tun, als sie ihm als Rechtfertigung dafür dient, weiterhin in all seiner Widersprüchlichkeit zu existieren.


    Meine (ja durchaus auch von so manchem linkslibertären Foristen scharf krtisierte) These zu den "Querdenker"-Aufmärschen ist bekanntlich, dass sich darin eigentlich genau diese Widersprüche, welche das bürgerliche Bewusstsein unter "Normal"-Zuständen noch erfolgreich hinter der Fassade von Konsum- und sonstigen gefühlten "Freiheiten" verstecken und ins Unterbewusstsein verdrängen kann, in der laufenden Krise schlagartig als reale Besorgnis und Verunsicherung manifestiert hat, für welche dem von Kindesbeinen an diesen Verdrängungsprozess angepassten Bürgertum keine andere "rationale" Erklärung einfällt, als die Ursache dafür im Handeln böswilliger Personen oder Personengruppen zu suchen, welche ihm dann von gewieften Verschwörungstheorievermarktern und rechten Demagogen in Form von PolitikerInnen, Wissenschaftlern, Medienschaffenden oder Software-Millardären als willkommene Projektionsflächen und Wurzeln allen Übels vorgehalten werden.


    Die Besorgnis der "besorgten BürgerInnen" ist dabei durchaus realen Umständen geschuldet, aber ihr bewusster Umgang damit ist eben ideologisch verengt - und zwar nicht erst duch die diversen Verschwörungsideologen, die jetzt daraus ihr aufmerksamkeits- und realökonomisches Kapital schlagen, sondern vor allem durch eine - schon lange vor der Krise als breiter gesellschaftlicher Konsens und inbegriff des "gesunden Menschenverstandes" akzeptierte - herrschende Ideologie, welche soziale Verhältnisse außerhalb des unmittelbaren privaten Umfeldes auf geldwerte Markttransaktionen reduziert und den sozialen Individuen damit weitgehend abgewöhnt hat, sich für die Gesellschaft in der sie leben in irgendeiner Form, die über das bloße Kaufen und Verkaufen von Gütern und Dienstleistungen hinaus geht, tatsächlich mitverantwortlich zu fühlen.

    Die politische Klasse hat demzufolge in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung auch weniger die Rolle, irgendeinen tatsächlichen Willen der Bevölkerung - des "Souveräns" - zu repräsentieren, sondern es obliegt ihr hauptsächlich, dafür zu sorgen, dass das Marktgeschehen und die zu dessen reibungslosem Ablauf nötige Bürokratie nicht ins Stocken geraten, weil sie sonst von erzürnten wählenden Individuen gegen effizienteres technokratisches Personal ausgetauscht, oder gar mit bürgerlichen Revolutionen bedroht wird.


    Das selbe gilt natürlich auch für alle möglichen anderen Krisen. Von der Finanz- über die sogenannte "Staatschuldekrise", über die "Flüchtlingskrise" bis hin zur ultimativ drohenden Klimakrise. Dem bürgerlichen Individuum fehlt der Sinn dafür, dass es nicht einfach nur ein vereinzeltes Subjekt ist, das sich nur nach möglichst klaren Regeln und Kosten/Nutzen-Abwägungen zu den restlichen Marktsubjekten pflichtgemäß zu verhalten hat, um seine eigene (und vielleicht noch seines unmittlebaren familiären und privaten Umfeldes) soziale und ökonomische Existenz aufrecht zu erhalten, sondern dass es vielmehr selbst Teil dieses überaus krisenhaften Systems ist und dessen Fortbestand aktiv mit befördert. Die Erkenntnist ist eigentlich uralt: Ohne Arbeiterklasse gibt es keine Bourgeoisie und ohne Bourgeoisie keine Arbeiterklasse. Erschwert wird diese an sich banale Erkenntnis allerdigs dadurch, dass der Großteil der arbeitenden und arbeitgebenden Gesellschaft im goldenen Westen im globalen Verhältnis selbst längst zur "Bourgeoisie" gehört und auch im nationalen Vergleich das bürgerliche Selbstverständnis selbst da noch als selbstverständliche Haltung angenommen wird, wo das Einkommen aus Lohnarbeit gerade so reicht, um die laufenden Kosten zum Erhalt der eigenen Arbeitsfähigkeit zu decken.


    Die Auflösung dieses Widerspruches liegt natürlich nicht darin, den einzelnen BürgerInnen moralisch empört vorzuhalten, dass sie sich an der Ausbeutung der restlichen Weltbevölkerung, der Zerstörung der Umwelt, oder an der Ausbreitung einer Pandemie beteiligen, indem sie einfach nur versuchen, so weiterzuleben, wie sie es seit Generationen nicht anders gelernt haben. Sie kann nur aus einem Verständnis der Widersprüchlichkeit dieser bürgerlichen Verhältnisse mit ihren materiellen Grundlagen kommen und aus der Erkenntnis, dass Menschen keine einsamen EinzelgängerInnen sind sondern Herdentiere, und dass die herrschende Ideologie ihnen nur vorgaukelt, sie könnten sich mit der entsprechenden Leistungsbereitschaft zur eigenen Kaufkraftmaximierung die totale Individuelle Freiheit von allen gesellschaftlichen Zwängen erarbeiten.


    Dass die Menschen in der hypertechnisierten Konsumgesellschaft das eigentlich instiktiv wissen, aber es eben nicht mehr bewusst umsetzen können, zeigt sich in Krisensituationen leider ebenfalls immer wieder besonders da, wo identitäre Bewegungen von rechts wie "links" eine scheinbar moralisch schlüssige Gruppenidentität als Heilsversprechen anbieten, die sich zwar vordergründig gegen den grassierenden Individualismus wendet, dabei aber eigentlich nichts anderes tut, als die herrschende Ideologie, indem sie den Menschen weißzumachen sucht, sie könnten sich durch größtmögliche Konformität in der eigenen Gruppe von den Zwängen befreien die ihnen von anderen Gruppen oder von böswilligen "Eliten" auferlegt werden. Auch hier sind die "Querdenker" ein Paradebeispiel.


    Die Aufgabe von sich selbst als kritisch betrachtenden JournalistInnen, SoziologInnen, PhilosophInnen und anderen öffentlichen intellektuellen wäre es, genau solche Widersprüche sichtbar zu machen und so zu erklären, dass man sie auch erkennt, ohne vorher hunderte von dicken Büchern darüber gelesen zu haben, damit ihre RezipientInnen in die Lage versetzt werden, ohne die übliche Verengung der Perspektive selbst darüber zu entscheiden, ob sie sich mit solchen Verhältnissen wirklich abfinden wollen oder ob es dazu nicht bessere Alternativen gäbe.

    Also im Grunde sollten Leute wie AvL genau das tun, was sich die diversen Vordenker der "Querdenker" aus dem einschlägigen alternativen Medienbetrieb immer auf die Fahnen schreiben (während sie eigentlich das Gegenteil tun): Menschen zum selbst nachdenken bringen.

  • Das einzige, was Utan tatsächlich verachtet, sind Leute die sich die allgemeine Verunsicherung zu Nutze machen, um damit ihren ganz eigenen Zwecken dienlich zu sein.


    Ob es jetzt neoliberale PolitikerInnen sind, die sich der bürgerlichen Mitte als Krisenmanager anpreisen, Konzerne die sich vom Staat ihre Profite subventionieren lassen, selbsternannte "Querdenker", die ihren AnhängerInnen einreden, man habe sich ganz weit oben gegen sie und ihre bürgerlichen Werte verschworen, oder verlogene Heuchler, die eine globale Krise zum Anlass nehmen, um mit ihrem pseudokritischen Nachgeplapper irgendwelcher Verschwörungstheorien in Foren herumzutrollen und damit ihren wahnhaften Geltungsdrang zu befriedigen - ist mir eigentlich herzlich egal.


    Was mir nicht egal ist, ist der traurige Umstand, dass damit ganz massiv verhindert wird, was eigentlich bitter nötig wäre:


    Aufklärung.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!