Diskussionen zu Interessanten News, Sendungen, Links und sonstigen Aufregern des Tages

  • Bissel old school, aber doch ganz nett das mal wieder zu lesen. Besser verständlich vielleicht im Kontext:



    https://www.deutschestextarchi…marx_manifestws_1848?p=15


    Viva la revolución!

    Ein wichtiger Grundsatz des Marxschen Hauptwerkes - und für manche gar dessen wichtigste Erkenntnis - war übrigens, dass man eigentlich keine allgemeingültigen, ewigen Patentrezepte für eine revolutionäre Umwälzung entwerfen, und dass man weder heutige Verhältnisse in die Vergangenheit, noch vergangene in die Gegenwart projizieren sollte.


    Das "Manifest" war im Prinzip eine Auftragsarbeit, die Marx (geb. 1818) und Engels (geb. 1820) als relativ junge Männer 1848 für den Bund der Kommunisten verfassten. 25 Jahre später schrieben sie ins Vorwort der neu erschienenen deutschen Ausgabe folgendes:


    "|95| Der Bund der Kommunisten, eine internationale Arbeiterverbindung, die unter den damaligen Verhältnissen selbstredend nur eine geheime sein konnte, beauftragte auf dem in London im November 1847 abgehaltenen Kongresse die Unterzeichneten mit der Abfassung eines für die Öffentlichkeit bestimmten, ausführlichen theoretischen und praktischen Parteiprogramms. So entstand das nachfolgende "Manifest", dessen Manuskript wenige Wochen vor der Februarrevolution nach London zum Druck wanderte.

    [...]

    Wie sehr sich auch die Verhältnisse in den letzten fünfundzwanzig Jahren geändert haben, die in diesem "Manifest" entwickelten allgemeinen Grundsätze behalten im ganzen und großen auch heute noch ihre volle Richtigkeit. Einzelnes wäre hier und da zu bessern. Die praktische Anwendung dieser Grundsätze, erklärt das "Manifest" selbst, wird überall und jederzeit von den geschichtlich vorliegenden Umständen abhängen, und wird deshalb durchaus kein besonderes Gewicht auf die am Ende von Abschnitt II vorgeschlagenen revolutionären Maßregeln [Siehe Zitat von Chemtrail oben] gelegt.

    Dieser Passus würde heute in vieler Beziehung anders lauten. Gegenüber der immensen |96| Fortentwicklung der großen Industrie in den letzten fünfundzwanzig Jahren und der mit ihr fortschreitenden Parteiorganisation der Arbeiterklasse, gegenüber den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum erstenmal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß "die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann". (Siehe "Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalraths der Internationalen Arbeiter-Association", deutsche Ausgabe, S. 19, wo dies weiter entwickelt ist.)

    [...]

    Indes, das "Manifest" ist ein geschichtliches Dokument, an dem zu ändern wir uns nicht mehr das Recht zuschreiben. Eine spätere Ausgabe erscheint vielleicht begleitet von einer den Abstand von 1847 bis jetzt überbrückenden Einleitung; der vorliegende Abdruck kam uns zu unerwartet, um uns Zeit dafür zu lassen."

    ________________________________________

    Karl Marx/Friedrich Engels: Vorwort zum "Manifest der Kommunistischen Partei" (deutsche Ausgabe 1872), Nach: "Das kommunistische Manifest", neue Ausgabe mit einem Vorwort der Verfasser, Leipzig 1872


    Wer - so wie z.B. Jordan Peterson es offenbar tut - nur das Manifest liest, es dann nicht nur als Quintessenz des "Marxismus", sondern auch mit Absicht als "Doktrin" und absolute Handlungsanweisung falsch verstehen will, und den wesentlich umfangreicheren Analyseapparat - insbesondere "Das Kapital" (erschienen ab 1867, also 19 Jahre nach dem Manifest) - außen vor lässt, der kann sich vielleicht im Kreise seiner fanboys damit als großer Aufklärer gegen den linken Totalitarismus inszenieren, aber eine tatsächliche Analyse und wahrheitsgemäße Darstellung des Marximsus ergibt sich daraus nicht.


    Und einen Marxisten, der heute noch diese "Maßregeln" für praktikabel hält, wird man in der westlichen Welt bestenfalls bei irgendwelchen Kleinstparteien und dogmatischen Sektierern finden. eine breite Strömung in der (westlichen) Linken, die das für bare Münze nimmt, wird man nicht ausmachen können - sofern man sich ehrlich damit beschäftigt.


    Aber darum geht's Peterson ja auch gar nicht. Gemäß seiner Erzählung haben sich diese fiesen Massenmörder und Gesinnungsterroristen ja alle als postmoderne "neo-marxitische" social justice warriors verkleidet, um ihre wahren, totalitären Absichten zu verschleiern.


  • Was war denn der Grund, dass du ausgerechnet dieses Zitat verwendet hast?

    Das sollte nur verdeutlichen, dass die "Diktatur des Prolerariats" (wie auch immer das zu verstehen wäre) nie das Endziel war, sondern eine Gesellschaft, die eben nicht mehr von illegitimen, gewaltsam aufrecht erhaltenen Machtverhältnissen bestimmt wird.


    Wer natürlich der (anti-historischen) Auffassung ist, der Mensch lebe im Kapitalismus schon so, wie es seiner unabänderlichen "Natur" am nächsten komme, der kommt dann auch leicht zu dem Schluss, dass eine Gesellschaft ohne feste(!), auf alten Traditionen basierte(!!!) Hierarchien nicht möglich sein könne, und dass die marxistische "Doktrin" zwangsläufig dazu führen müsse, dass Menschen gewaltsam umerzogen werden, um sie mit den Vorstellungen der Marxisten in Einklang zu zwingen.


    Unbestritten gab es solche Auffassungen im Stalinismus und während der chinesischen Kulturrevolution. Aber das hat halt nur sehr wenig bis gar nichts mit Marx zu tun und mir ist jedenfalls keine heute noch relevante kapitalismuskritische Strömung bekannt, die ernsthaft der Ansicht wäre, man könne sich nach einer revolutionären Übernahme der Staatsgewalt einfach den "neuen Menschen" zwangs-umerziehen.


    Peterson hat das im übrigen ja nicht selbst "analysiert". Er bedient sich dabei ganz ungeniert aus dem großen anti-linken Propagandatopf, den "liberale", konservative und rechtsradikale Theorie und Politik in Grundzügen schon gegen den "Marxismus" ins Feld führten, als die Nazis dahinter die "jüdisch-bolschewistische" Weltverschwörung ausmachten und dem auch heute noch die Millionen Toten unter Stalin, Mao, Pol Pot, etc. als Beweis für die Unmöglichkeit einer friedlichen Überwindung des Kapitalismus gelten.

  • Dieser Petersen ist mir übrigens schnuppe. Keine Ahnung, was alle immer mit dem haben.

    Er wird leider immer mal wieder ins Spiel gebracht, weil ihn die Aura eines ideologiefreien, "unabhängigen" Denkers umweht. Das mag vielleicht für seine psychologischen Theorien zutreffen - das ist ja auch sein eigentliches Fachgebiet.

    Aber seine politischen und gesellschaftstheoretischen Ansichten sind - jedenfalls aus meiner salonmarxistischen Sicht - zemlich altbackener und bisweilen reaktionärer Konservatismus.


    Leider hat er gerade unter jüngeren Männern eine ziemlich große Anhängerschaft, und ist mit seinen diversen Selbstoptimierungsratgebern - im hyperindividualisierten neoliberalen Spätkapitalismus auch wenig verwunderlich - kommerziell ziemlich erfolgreich und reichweitenstark.

  • https://www.sdworx.de/de-de/bl…-hat-innerlich-gekuendigt


    Umfrage: Rund jeder zweite Deutsche hat innerlich gekündigt

    https://www.spektrum.de/news/j…nerlich-gekuendigt/341483


    1998 schon so.


    https://m.faz.net/aktuell/karr…-gekuendigt-15753720.html



    Ich vermute, hier liegt ein riesiges Mobilisierungspotential brach. Ich bin mir sicher, man könnte die Leute leicht für neue Arbeitsmodelle begeistern, in denen das Prinzip Demokratie am Arbeitsplatz ist. Genossenschaften sind stabiler (dh weniger Zukunftsängste), in vieler Hinsicht produktiver, demoktatischer und die Menschen, die in solchen Unternehmen arbeiten sind glücklicher. Klar, die derzeitigen Rechtsformen sind noch nicht ideal, aber ich sehe keinen Grund, warum man sie nicht reformieren könnte.

  • Und natürlich schwingt dabei auch ein Körnchen Wahrheit mit, wenn er zum Beispiel die Dominanz der Poststrukturalisten in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit den 70er Jahren, oder die perspektivische Verengung seiner Student/inn/en auf identity politics als Ausdruck einer "linken" Emanzipation beklagt.

    Finde, dass es immer noch ein sehr bürgerlicher-liberaler Mainstream in den Unis und Schulen ist. Im Grunde hat man immer in ein sehr festen Kanon und Rahmenlehrplan, der abgearbeitet wird mit Meritokratie und im Prinzip kann man nur so und so weit sich in diesem bewegen. Manch einer nennt das vlt. dasselbe in grün.


    Peterson selbst in seinen VLs ist sehr postmodern/-strukturalistisch. Er spielt diese Denkweise aber auch wieder auf eine sehr bürgerliche-legitimatorische Weise. Bzw. ich denke inzwischen, dass da eine Art Trumpesches Anti-Establishment-Denken mitschwingt (also gegen die Universitäten als linksliberal-marxistische Bande im Gegensatz zu all seinem Schaffen oder dem intellectual dark web und dem Bürgertum oder so - wobei er dafür wieder eine Art naturalistische Wahrheit braucht).

  • Übrigens ist es ein Mythos, dass linke politische Ideen in gleicher Weise Ideologien wären wie Rechtskonservative. Wenn man Ideologie definiert als eine Art Glaubenssystem, das dem Individuum und der Gesellschaft ein zu erreichendes Ziel oder eine vorgegebene Verhaltensweise auflegen will, dann ist linkspolitisches Denken ideologiefrei. Es gibt einfach keine linken Ideologien (vielleicht abgesehen von "mach was ich sagen" zb im Leninismus. Aber sowas hat nicht wirklich viel mit Ideologie zu tun).

  • Und natürlich schwingt dabei auch ein Körnchen Wahrheit mit, wenn er zum Beispiel die Dominanz der Poststrukturalisten in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit den 70er Jahren, oder die perspektivische Verengung seiner Student/inn/en auf identity politics als Ausdruck einer "linken" Emanzipation beklagt.


    Finde, dass es immer noch ein sehr bürgerlicher-liberaler Mainstream in den Unis und Schulen ist. Im Grunde hat man immer in ein sehr festen Kanon und Rahmenlehrplan, der abgearbeitet wird mit Meritokratie und im Prinzip kann man nur so und so weit sich in diesem bewegen. Manch einer nennt das vlt. dasselbe in grün.


    Peterson selbst in seinen VLs ist sehr postmodern/-strukturalistisch. Er spielt diese Denkweise aber auch wieder auf eine sehr bürgerliche-legitimatorische Weise. Bzw. ich denke inzwischen, dass da eine Art Trumpesches Anti-Establishment-Denken mitschwingt (also gegen die Universitäten als linksliberal-marxistische Bande im Gegensatz zu all seinem Schaffen oder dem intellectual dark web und dem Bürgertum oder so - wobei er dafür wieder eine Art naturalistische Wahrheit braucht).

    Achso und damit mein ich, dass selbst der Feminismus, den man vorfindet, meist doch ein 1%-SPDler-Feminismus ist. Oder wenn es um andere gesellschaftliche Hierarchien geht, dann werden meistens doch Aufstiegschancen betont und dass man im Habermasischen Sinn sich irgendwie eine Stimme und Argumente verschafft hat. Selten wird mal Foucault, (Adorno, Zizek , Sloterdijk, Mbembe) oder eben richtig Marx und die Analyse des Kapitalismus/kapitalistische Produktionsweise thematisiert, es sei den man sucht sich die Lesekreise, was aber nicht häufig in den Seminaren selbst vorkommt. Wolfgang M Schmitt hat das auch mal angesprochen, dass solche Autoren eher belächelt werden.

  • Stimmt ihm Zizek da nicht bei dem Punkt mit den Hirarchien zu?

    Zizek stimmt ihm auch bei seinem Sleight of hand Punkt zu.

    Ja, es ist keine richtige Analyse. Zizek merkte an, dass Foucault sogar Gegner des Marxismus wurde (bis hin zu dem, was im Sammelband "Foucault und der Neoliberalismus" geschildert wurde).


    Also, Peterson ist unfähig beide Strömungen für sich zu betrachten. Dabei gibt es offene Konfliktelinien, wenn Amazon sich für Diversität ausspricht, aber Gewerkschaften unterdrückt.

  • Finde, dass es immer noch ein sehr bürgerlicher-liberaler Mainstream in den Unis und Schulen ist. Im Grunde hat man immer in ein sehr festen Kanon und Rahmenlehrplan, der abgearbeitet wird mit Meritokratie und im Prinzip kann man nur so und so weit sich in diesem bewegen. Manch einer nennt das vlt. dasselbe in grün.


    Peterson selbst in seinen VLs ist sehr postmodern/-strukturalistisch. Er spielt diese Denkweise aber auch wieder auf eine sehr bürgerliche-legitimatorische Weise. Bzw. ich denke inzwischen, dass da eine Art Trumpesches Anti-Establishment-Denken mitschwingt (also gegen die Universitäten als linksliberal-marxistische Bande im Gegensatz zu all seinem Schaffen oder dem intellectual dark web und dem Bürgertum oder so - wobei er dafür wieder eine Art naturalistische Wahrheit braucht).

    Das ist ja der Witz! Der bürgerliche Dr. Peterson meint, er kritisiere eine bedrohlich linke Subversion, wenn er gegen die "Postmodernisten" wettert, dabei redet er eigentlich nur von einer anderen Facette der bürgerliche Ideologie.

  • Tom Nicholas

    Inhaltlich ist der mir auch schon öfter positiv aufgefallen.


    Allerdings hat er so einen Manierismus in seiner Erzählstimme, bei dem er die Endungen von Wörtern unnötig in die Länge zieht und dabei gleichzeitig die Stimme absenkt , nur um dann harte Konsonanten am Wortenden sinnlos überzubetonen.


    Ist wahrscheinlich rein subjektives Empfinden meinerseits, aber Irgendwie macht mich das latent aggressiv.


    Aber mal abgesehen davon muss man bei diesen ganzen Breadtubern leider auch öfter mal nachlesen, ob das was sie da so autoritativ und überzeugend vortragen auch tatsächlich den Tatsachen entspricht - speziell wenn sie sich mit irgendwelchen linken Theorien befassen. Da ist leider - rechts wie links! - auch viel Unsinn im Netz, der einfach geglaubt wird, bloß weil der Mensch der ihn vorträgt dabei einen besonders klugen und informierten Eindruck macht, oder weil er einen Professordoktor (s.o.) als Titel trägt.

  • Ist wahrscheinlich rein subjektives Empfinden meinerseits, aber Irgendwie macht mich das latent aggressiv.

    Ach, dazu bedarf es dieser Tage nicht viel *duckundweg*


    Aber was du sagst stimmt sicherlich, deswegen skimme ich die Kommentare, in der Hoffnung, dass jemand seine main claims etwas in Perspektive bringt ist konstruktiv kritisiert. Gibt's derweil häufiger, deswegen finde ich den channel alles in allem angenehm. Wenn ich mich tatsächlich privat mit der Kritischen Theorie auseinandersetzen würde, dann müsste ich da halt deutlich mehr Zeit reininvestieren.

  • Was habt ihr denn für ein Konzept von "Unrechtsstaat"? Wenn man da jedes staatliche Gebilde subsummiert in dem mal Schmu läuft, ist der Begriff sinnentleert.

    Der Begriff "Unrechtsstaat" ist einfach wahsninnig schlecht zu definieren.


    Er vermischt - mit deutlich politischer, bzw. ideologischer Konnotation - den eigentlich recht klar definierten "Rechtsstaat", der (idealerweise) einen Staat mit Gewaltenteilung, gleichen Rechten für alle, und einer unabhängigen, für alle gleichermaßen zuständigen Gerichtsbarkeit bezeichnet, mit der moralischen Bewertung "Unrecht", unter der man sich je nach kultureller oder ideologischer/religiöser Prägung durchaus sehr unterschiedliche Sachverhalte vorstellen kann.


    Für z.B. erzkatholische, evangelikale oder streng muslimische Menschen ist es ein großes Unrecht an der ganzen Familie, wenn Frauen Sex vor, bzw. außerhalb, der Ehe haben. Für säkulär aufgegklärte Menschen ist es hingegen Unrecht, Menschen wegen solcher Lapalien gesellschaftlich zu ächten oder gar zu bestrafen.


    Die einen empfinden es als großes Unrecht, wenn Der Staat die Einwanderung "kulturfremder" Menschen zulässt - die anderen empören sich über das Unrecht, Menschen die vor Hunger, Krieg und Aubeutung fliehen im Mittelmeer ertrinken zu lassen oder sie in Konzentrationslagern zusammenzupferchen.


    Der Querdenker schreit "Diktatur!" und sieht überall institutionalisiertes Unrecht, weil er eine Maske aufsetzen soll und zum Impfen aufgefordert wird.

    Der besonders radikale Anti-Querdenker sieht es hingegen als Unrecht gegenüber dem Rest der Gesellschaft an, dass man solchen Leuten einfach erlaubt, ohne Impfung und Maske frei herum zu laufen und Massenaufläufe zu veranstalten.


    Für Fans von Christian Lindner ist es ein grobes Unrecht wider die Freiheit zur Anhäufung von Privateigentum, kreativen Immobilienentrepreneuren ihre 3000+ Wohnungen in Berlin wegzunehmen.

    Andere Leute sehen es als undemokratisches Unrecht an, wenn Berliner SpitzenkandidatInnen verkünden, einen demokratischen Volksentscheid zur Enteignung solcher Großgrundbesitzer selbst dann zu ignorieren, wenn eine demokratisch abstimmende Mehrheit der WählerInnen sich dafür aussprechen sollte.


    Für die einen ist es grobes Unrecht, wenn politische Mandats- und AmtsträgerInnen ihre privilegierten Positionen nutzen, um sich privat die Taschen vollzustopfen - die anderen sehen das nicht so eng und eher als Ausdruck von Wirtschaftskompetenz als von moralischer Verkommenheit.


    Und für den überzeugten SED-Funktionär oder Stasi-Offizier war es ein Unrecht gegen die Wertegemeinschaft hinter dem antifaschistsichen Schutzwall, die Feinde des realsozialistischen Arbeiter-und Bauernstaates einfach frei herumlaufen und für den gleich hinter der Grenze mit geladener Waffe lauernden Klassenfeind agitieren zu lassen, während Letzterer sogar Geld dafür bezahlte, um solche Leute vor dem Unrecht des totalitären SED-Regimes in Sicherheit zu bringen.


    Die moralische Wertung "Unrecht" ist also ganz offenbar kein objektives, für alle Menschen gleichwertiges Kriterium, sondern eine hochgradig von der jeweiligen Perspektive abhängige Angelegenheit.


    Aber auch die Idee des unbestechlichen Rechtsstaates ist natürlich eine Abstraktion, die niemals vollständig mit den realen Verhältnissen identisch sein kann.

    Selbst vor einem ordentlichen, unabhängigen Gericht in einem demokratischen Rechtsstaat kann es passieren, dass Menschen das Urteil als Un(ge)recht empfinden, obwohl die Rechtsprechung an sich juristisch einwandfrei erfolgt ist und in höchster Instanz bestätigt wurde.


    Für so manche Linksradikale ist zum Beispiel der deutsche Rechtsstaat - genau wie die Rechtstaaten in anderen kapitalistischen Ländern - nicht in erster Linie dazu da, allen Menschen die selben Rechte zu garantieren, sondern dazu, das Recht der Christian Lindner-Fans auf die Anhäufung und unbegrenzte Verwertung ihres Privateigentums durchzusetzen - selbst wenn das zum Leidwesen vieler anderer Menschen geschieht.


    Für so manche liberale, konservative und rechtsradikale BürgerInnen gehören hingegen linksradikale MitbürgerInnen schon alleine dafür ins Gefängnis gesteckt, oder wenigstens von der geheimen Staatspolizei vom inlandsgeheimdienst überwacht, dass sie solch gefährliches, womöglich gar verfassungsfeindliches Gedankengut hegen.


    Egal ob man sich da jetzt der einen oder anderen Seite zugehörig fühlt, oder ob man bereit dazu ist anzuerkennen, dass solche Widersprüche etwas mit den sozioökonomischen Verhältnissen zu tun haben, in denen sie auftreten - Die Gesetze und Verfassungen, die dem Rechtsstaat als Rechtsgrundlage dienen, sind in unseren modernen, aufgeklärten Gesellschaften nicht mehr den Propheten von Gott persönlich in Steintafeln gemeisselt worden, sondern sie wurden von Menschen gemacht die damit ganz menschliche Interessen verfolgten.

    Der deutsche Gesetzgeber ist zum Beispiel gerade mit erschreckend vielen gesetzgebenden Menschen besetzt, deren Interesse ganz offensichtlich nicht primär die gerechte Behandlung aller RechtsstaatsbürgerInnen vor dem Gesetz ist, sondern die Bedienung der Interessen ihrer AuftraggeberInnen und Geschäftspartenerinnen aus der Privatwirtschaft.

    Und dennoch werden sicher viele von diesen InteressenvertreterInnen und BestechungsgeldempfängerInnen auch in der nächsten Legislaturperiode wieder für die Gesetzgebung des deutschen Rechtsstaates zuständig sein.


    Die Bevölkerung, die sich diese gesetzgeberische Versammlung als parlamentarische Vertretung ihrer demokratischen Souveränität wählt, scheint also im Großen und Ganzen kein ernsthaftes moralisches Problem mit diesem eigentlich anti-rechtsstaatlichen Zustand zu haben - jedenfalls keines das groß genug wäre, um den entsprechenden Damen und Herren die demokratische Legitimation zu verweigern.

    Ist die Bundesrepublik Deutschland also ein vom Wahlvolk so gewollter Unrechtsstaat? Oder ist der Begriff des Rechtsstaates vielleicht am Ende genauso untauglich als absolutes Bewertungskriterium einer Gesellschaft, wie der "Unrechtssaat"?


    Das bedeutet nicht, dass die BRD kein Rechtsstaat wäre, sondern es bedeutet, dass auch die Existenz eines Rechtsstaates keine Garantie dafür ist, dass auf seinem Hoheitsgebiet allen Menschen die gleichen Rechte zu Teil werden. Es geschieht also auch in einem Rechtsstaat häufig vielen Menschen Unrecht, selbst wenn dabei alle juristischen Prozesse nach bestem Wissen und Gewissen entlang der bestehenden Gesetze und Verfahrensregeln geführt wurden - was natürlich auch nicht immer vollständig garantiert ist, vor allem wenn man sich keine kompetente Rechtsberatung leisten kann.


    Die bundesdeutsche Wertegemeinschaft bezeichnet im übrigen außer der DDR (und dem Dritten Reich) keinen anderen Staat so häufig und leidenschaftlich als "Unrechtsstaat" - nicht mal den des finsteren Kreml-Satans oder den seines Verbündeten "Schlächters von Damaskus".

    Im Englischen gibt es dafür gar keine wörtliche Übersetzung. Google übersetzt den Begriff mit "unconstitutional state", als verfassungslosen Staat. Das trifft jedenfalls auf die DDR nicht zu. Sie hatte eine Verfassung. Die war vielleicht Mist, wurde dreimal geändert und dabei immer undemokratischer, und sie führte in der Auslegung durch das SED-Regime zu sehr viel Unrecht, aber es war nicht so, dass das Unrecht, bzw. die Verfassungslosigkeit in diesem System zur Staatsräson erklärt wurde.

    Der offizielle Anspruch des SED-Staates an sich selbst war der einer "demokratischen Republik". Dass das mit der real existierenden Praxis des auf die Herrschaft einer Einheitspartei (und nach deren Vorgaben zwangskonformierter "Block"-Parteien) zentralisierten, undemokratischen Staatswesens, den tausenden von Mauer- und Grenztoten, den bis zu 250.000 politischen Gefangenen und den Folterkellern der Staatssicherheit im krassen Widerspruch stand ist unbestreitbar. Aber das ergab sich eben nicht zwingend aus der Verfasstheit des Staates, sondern aus dem Handeln der Staatsführung und - nicht zu vergessen - der sowjetischen Besatzungsmacht, die sie kontrollierte.


    Man kann sicher sagen, dass die DDR in der realen Praxis absolut kein demokratischer Rechtsstaat war, sondern eine Einparteienherrschaft, in der die Einiheitspartei sich anmaßte, das Interesse der Bevölkerung ausreichend repräsentiern zu können und in der die Parteiführung immer mehr diktatorische Macht auf sich vereinte.


    Aber die Bezeichnug "Unrechtsstaat" suggeriert, dass dieser Zustand das explizite Staatsziel gewesen sei und erklärt somit auch alle nicht-totalitären Aspekte dieses Staates und seiner Gesellschaft für indiskutabel, null und nichtig.

    Genau das ist natürlich Sinn und Zweck dieses politischen Kampfbegriffes und genau dagegen wehren sich Leute, die jene Aspekte gerne beibehalten und die Deutsche "Demokratische" Republik lieber von innen heraus und von unten herauf tatsächlich demokratisiert hätten, anstatt sie einfach mitsamt ihrer schwierigen Geschichte zu annulieren, sie dem Staatsgebiet der BRD einzuverleiben und mitsamt ihrer Staatsbetriebe dem Ausverkauf an das westdeutsche Kapital preiszugeben.


    Ich finde es zwar albern, wenn sich heutige Linksparteimitglieder noch so darauf versteifen, den Begriff nicht gelten zu lassen, weil dieser Staat nunmal sowieso schon lange nicht mehr existiert. Aber mindestens genauso albern ist es, diesen Leuten daraufhin zu unterstellen, sie hegten Sympathien für das in der DDR begangene Unrecht, bloß weil sie es nicht zum alles überschattenden Wesensmerkmal dieses untergegangenen Staates erklären wollen.

  • Der Begriff "Unrechtsstaat" ist einfach wahsninnig schlecht zu definieren.


    Er vermischt - mit deutlich politischer, bzw. ideologischer Konnotation - den eigentlich recht klar definierten "Rechtsstaat", der (idealerweise) einen Staat mit Gewaltenteilung, gleichen Rechten für alle, und einer unabhängigen, für alle gleichermaßen zuständigen Gerichtsbarkeit bezeichnet, mit der moralischen Bewertung "Unrecht", unter der man sich je nach kultureller oder ideologischer/religiöser Prägung durchaus sehr unterschiedliche Sachverhalte vorstellen kann.

    Das Unrecht im Unrechtsstaat wird nicht nur ideologisch/moralisch überladen, da kommt oft noch eine Komponente des "ist mir nicht recht"/ "passt mir nicht", auf Grund verschiedenster Motivlagen, dazu.


    Die moralische Wertung "Unrecht" ist also ganz offenbar kein objektives, für alle Menschen gleichwertiges Kriterium, sondern eine hochgradig von der jeweiligen Perspektive abhängige Angelegenheit.

    Da haben wir auch ein sprachliches Problem weil Unrecht oft als Gegenteil des Rechts aufgefasst wird, das eigentliche Gegenstück aber die Gerechtigkeit ist. Dem Recht wäre entsprechend die Rechtswidrigkeit gegenüberzustellen.


    Für so manche liberale, konservative und rechtsradikale BürgerInnen gehören hingegen linksradikale MitbürgerInnen schon alleine dafür ins Gefängnis gesteckt, oder wenigstens von der geheimen Staatspolizei vom inlandsgeheimdienst überwacht, dass sie solch gefährliches, womöglich gar verfassungsfeindliches Gedankengut hegen.

    Leider haben wir da einige Lehren unseres Vorgängerstaates vergessen, in dem Geheimdienste mit polizeilichen Befugnissen Terror verbreiteten; heute laden wir Idioten unsere Polizei mit Geheimdienstbefugnissen auf...


    Die Bevölkerung, die sich diese gesetzgeberische Versammlung als parlamentarische Vertretung ihrer demokratischen Souveränität wählt, scheint also im Großen und Ganzen kein ernsthaftes moralisches Problem mit diesem eigentlich anti-rechtsstaatlichen Zustand zu haben - jedenfalls keines das groß genug wäre, um den entsprechenden Damen und Herren die demokratische Legitimation zu verweigern


    Da geht's mir zu sehr durcheinander. Ich würde das gern am Artikel 20 GG entlang entwirren.

    Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, das bindet im Guten wie im Schlechten und wenn der intitutionalisierte Staat Mist baut , dann hängen wir alle mit drin (als Täter!). Demokratisch muss erst die Bundesrepublik sein (ja,ja, ganz ohne demokratische Bürger geht's nicht, aber an der Stelle Böckenfördet's dann eben). Die Parlamentarier können/dürfen auch nie Souveränitätsvertreter sein bei uns, wir geben ihnen nur den Legislativen Teil der Gesamtgewalt ab. Parlamentssouveränität mit Queen/King in Parliament haben die Inselaffen.

    Unseren Parteien die Legitimation zu verweigern ist gar nicht so leicht bis unmöglich, dazu fehlt es an einer Möglichkeit leere Stühle zu wählen, alternativ gibt's nur pispersche Geschmacksrichtungen von Scheiße.

    Google übersetzt den Begriff ["Unrechtsstaat"] mit "unconstitutional state", als verfassungslosen Staat.

    Da bin ich mit deiner Rückübersetzung nicht einverstanden, dem "unconstitutional" wohnt ein Widerspruch gegen eine verfassungsmäßige Ordnung inne. Den verfassungslosen Staat müsste man wohl als "country without constitution" basteln oder vulgäramerikanisch "kinda like constitutionless...ish..ly, u know".



    Alles in allem neige ich dazu die DDR als Unrechtsstaat zu sehen, wer die innerdeutschen Grenzkontrollen noch erlebt hat ist da einfach etwas geprägt und die dauernde Bedrohung von Überwachung, Einsperren der eigenen Bürger...

    Dass es bestimmt Leute gab die das gut gemeint haben mag sein, aber das Ergebnis ist schon überwältigend schlecht gewesen.

    Altbundesrepublikanisch haben wir uns allerdings auch nicht direkt mit Ruhm bekleckert indem wir den höheren Chargen Immunität gewährt haben (und Pensionen natürlich). Wer weiß, bald könnte es für Mordverdächtige keinen Freispruch mehr geben und Tippsen der SS werden wegen Massenmord verfolgt, vielleicht werden ab 2050 Staatsanwälte mit Ambitionen noch ein paar DDR-Täter verfolgen...



    Ich finde es zwar albern, wenn sich heutige Linksparteimitglieder noch so darauf versteifen, den Begriff nicht gelten zu lassen, weil dieser Staat nunmal sowieso schon lange nicht mehr existiert. Aber mindestens genauso albern ist es, diesen Leuten daraufhin zu unterstellen, sie hegten Sympathien für das in der DDR begangene Unrecht, bloß weil sie es nicht zum alles überschattenden Wesensmerkmal dieses untergegangenen Staates erklären wollen.

    D'accord

  • Da bin ich mit deiner Rückübersetzung nicht einverstanden, dem "unconstitutional" wohnt ein Widerspruch gegen eine verfassungsmäßige Ordnung inne. Den verfassungslosen Staat müsste man wohl als "country without constitution" basteln oder vulgäramerikanisch "kinda like constitutionless...ish..ly, u know".

    Der begriff "unconstitutional state" existiert allerdings gar nicht (jedenfalls nicht als allgemeiner Begriff, so weit ich das weiter ergoogeln konnte.) Das ist nur einfach nur die Übersetzung, die Google Translate zusammeninterpoliert, wenn man "unrechtsstaat englisch" eingibt.


    Diese Nicht-Übersetzung korrekt zurück übersetzt wäre wohl ein Staat der gegen seine eigene Verfasung verstößt - aber da wird's dann eher philosophisch, weil es ja eigentlicn nur die Staatsorgane sein können, die verfassungswidrige Gesetze machen, oder verfassungswidrige Politik betreiben und nicht der Staat als ganzes, der durch diese Verfassung definiert ist (sag' ich jetzt mal als absoluter Nicht-Experte für Staats- und Verfassungsrecht.)


    Aber das ist jetzt auch nur Erbsenzählerei.

  • Der begriff "unconstitutional state" existiert allerdings gar nicht (jedenfalls nicht als allgemeiner Begriff, so weit ich das weiter ergoogeln konnte.) Das ist nur einfach nur die Übersetzung, die Google Translate zusammeninterpoliert, wenn man "unrechtsstaat englisch" eingibt.


    Diese Nicht-Übersetzung korrekt zurück übersetzt wäre wohl ein Staat der gegen seine eigene Verfasung verstößt - aber da wird's dann eher philosophisch, weil es ja eigentlicn nur die Staatsorgane sein können, die verfassungswidrige Gesetze machen, oder verfassungswidrige Politik betreiben und nicht der Staat als ganzes, der durch diese Verfassung definiert ist (sag' ich jetzt mal als absoluter Nicht-Experte für Staats- und Verfassungsrecht.)


    Aber das ist jetzt auch nur Erbsenzählerei.

    Ist vielleicht ein Konzept welches im Englischen nicht vorgesehen ist "the king can do no wrong".

    Ein netter Einstieg in das Thema ist bei Interesse der Wikipediaeintrag Verfassungswidriges Verfassungsrecht.

  • Das sehe ich überhaupt nicht so. Wodurch wird das suggeriert?

    Das ist natürlich eine Frage der politischen Konnotation. "Unrechtsstaat" war aber schon immer ganz klar als Beschreibung der Nazi-Diktatur in Verwendung. Wenn man ihn nun auch auf die DDR anwendet, dann impliziert das zumindest eine Verwandschaft, auch wenn es nicht konkret so ausformuliert wird.


    Die Hitlerdiktatur hatte aber nicht nur aus heutiger, sondern außerhalb dritten Reiches und seiner verbündeten Regime auch damals schon ein von der übrigen Weltgemeinschaft als solches wahrgenommenes Unrecht als Grundlage ihrer Ideologie. Hitler selbst hat schon in "Mein Kampf" - also lange vor der Machtergreifung - sehr klar gemacht, dass er die arische "Rasse" als von anderen Völkern verschiedenes Volk ansah und dass er daraus die Legitimation ableitete, es gegen alle äußeren und inneren Feinde - insbesondere Juden und Kommunisten - mit aller Gewalt zu verteidigen.


    Die SED und die KPdSU, die ja letztenflich bei der Staatsgründung der DDR den Ton angab, hatten eine andere ideologische Grundlage, die zumindest in der Theorie(!) keine unterschiedliche Wertung zwischen unterschiedlichen Völkern machte, sondern alle Menschen unter einer sozialistischen Führung vereinigen wollte.


    Dass das leider komplett schief gegangen ist und zu einer totalitären Einparteienherrschaft führte die am Ende auch ziemlich brutal gegen innere Feinde vorging und sich nach außen mit Gewalt abgrenzen musste ist unbestreitbar. Aber das war eben nicht das ursprünhliche Ziel.


    Ich finde es legitim, wenn man da einen Unterschied macht. Der wird jedoch sehr häufig nicht gemacht. Statt dessen wird die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei - besonders und fast ausschließlich gegenüber Mitgliedern der Linken - quasi als Lackmustest für die demokratische Gesinnung der Befragten instrumentalisiert, und von ihnen verlangt, ein eindeutiges Bekenntnis abzulegen.

    Damit wird der Begriff gleichzeitig politisch und moralisch aufgeladen. Schon alleine deswegen taugt er einfach nichts für eine sachliche Analyse

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