#480 - Ökonom Marcel Fratzscher (DIW)

  • Here we go...



    Der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist zu Gast bei uns: Marcel Fratzscher zählt zu den einflussreichsten Ökonomen der Bundesrepublik und unterrichtet Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Soeben ist sein neues Buch "Die neue Aufklärung - Wirtschafts & Gesellschaft nach der Corona-Krise" erschienen.


    Mit Marcel geht's zunächst um seine Lehre: Womit beschäftigen sich aktuell seine Studierenden? Wie sieht sein Unterricht in Corona-Zeiten aus? Wir sprechen über die Aktienmärkte: Haben der Stand des DAX oder Dow Jones noch etwas mit der ökonomischen Realität zu tun? Stehen wir vor einer neuen Finanzkrise? Wieso wurde der Lufthansa-Konzern eigentlich gerettet? War die staatliche Hilfe angesichts der Arbeitsplatzverluste richtig?


    Wir reden über die Klimakatastrophe und die Folgen für die Wirtschaft: Weshalb wehrt sich die deutsche Politik und die Autoindustrie so gegen den Wandel? Ist ein Ausstiegsdatum für den Verbrennungsmotor sinnvoll? Welche Geschäftsmodelle müssen angesichts des Klimawandels enden? Muss unser Konsum eingeschränkt werden? Worauf sollten wir künftig verzichten? Welche Rolle spielt das Wachstum in unserem Wirtschaftssystem? Geht es auch ohne? Marcel spricht über die Vor- und Nachteile der Globalisierung sowie Lieferketten.


    Außerdem geht's um die massive Ungleichheit und Vermögensverteilung in Deutschland: Was ist dagegen zu tun, dass sehr Wenige sehr viel haben? Ist eine Vermögenssteuer und ein höherer Spitzensteuersatz die Lösung? Wir sprechen über privates Eigentum, warum es für Marcel essenziell ist und ob es grenzenlos zu sein hat.


    Das und vieles, vieles mehr in Folge 480 - wir haben sie am 16. Oktober in unserem Berliner "Hans Jessen Showroom" aufgezeichnet.


    Marcel auf Twitter https://twitter.com/MFratzscher


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    Jung & Naiv, Folge 350 mit Marcel Fratzscher

  • Bin gerade bei Wirecard aber das Beschwichtigungsgerede triggert mich schon wieder sehr. Die Mitarbeiter der Bafin haben sehr wohl gesehen, was da los war, sonst hätten sie wohl kaum derart exzessiv damit gehandelt. Und EY wurde nur beschissen? So klingt das, wenn man vom strukturellen Kern der Probleme nichts wissen will. Wäre bei seiner Art fast eingeschlafen, aber das hat mich wieder geweckt. Das System funktioniert, schon klar.


    Es folgt ein Lobgesang auf die privaten Kontrolleure, angeblich flexibler und kompetenter. Deswegen speist der Bund der Steuerzahler sein Schwarzbuch auch jedes Jahr aus den Kontrollen der Landungsrechnungshöfe, um aus deren Ergebnissen seine PR-Kampagne gegen den Staat zu fahren, dessen Kontrollen scheinbar halbwegs funktionieren. Puh, ich brauch schon nach einer viertel Stunde erstmal eine Pause.

  • Trotz der Kritik, die man zu Wirecard und Co. fassen kann finde ich Fratzscher einfach sonst super. Schon beim letzten J&N war er äußerst interessant zum Thema Ungleichheit. Er war auch derjenige, der sich mit dem Jugendrat der Generationenstiftung für ein Zukunftspaket, statt dem Konjunkturpaket eingesetzt hat, anders als Clemens Fuest oder Hans Werner-Sinn. Er scheint z.B. die Klimakrise zum Beispiel ernst zunehmen und will ja, so klang das jedenfalls durch, ein wenig Veränderung in der VWL und Politik.

  • Er scheint z.B. die Klimakrise zum Beispiel ernst zunehmen und will ja, so klang das jedenfalls durch, ein wenig Veränderung in der VWL und Politik.

    Mir schien das ziemlich absurd. Würde man die Ratingagenturen zwingen, ihre Ratings nicht mehr alleine nach kommerziellem Erfolg auszurichten, dann würden sich die Geldgeber eben nicht mehr nach deren Ratings richten, sondern nach anderen Agenturen, die das nicht so machen.


    Ich verstehe auch nicht, wieso diese Agenturen im Falle Griechenlands versagt haben. Die gingen eben sehr richtig davon aus, dass die EU die Verluste übernehmen würde, wenn Griechenland pleite geht. Bis zur Pleite werden die Staats-Anleihen bedient und dann die Gläubiger entschädigt. Sicherheit und Profit = gutes Rating. Die Frage ist, warum sie dann plötzlich umgeschwenkt sind.

  • Ist ein wenig Veränderung genug?

    Ich hatte zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht das ganze Interview durch. Einen Teil seiner Aussagen waren dann doch ziemlich krude, z.B. dass der Konsum nicht vom Staat reguliert werden könne und man weiterhin auf Wachstum setzen solle. Tilo, du hast Recht, genug ist das echt nicht! Ich fand ihn im letzten Interview besser. Da wirkte er aufgeschlossener und deutlich agiler, hier mehr starr und kalt. Trotzdem bleibe ich bei der Meinung, dass er zumindest der beste Ökonom Deutschlands ist, von dem man noch am ehesten Veränderung erwarten kann.

  • Der Fratzscher ist ja ein sympathischer Typ, aber hier druckst er an vielen Stellen ganz ordentlich herum, bleibt an vielen Stellen unkonkret. Z.B. warum Profit im Gesundheitssystem nötig ist, konnte er (mir zumindest) nicht plausibel erklären. Eigentlich habe ich nur neoliberale Phrasen dazu gehört (Wettbewerb, effektive Ressourcennutzung, der Staat kann es nicht, etc.).


    Das Problem ist doch, dass durch das Profitdenken (Profitmaximierung / Kostenminimierung, 1. Sem. BWL) der Patient zum Kunden und das Medizinpersonal zum Kostenfaktor wird.


    Beispiel 1: Pflegekräfte schlecht bezahlt -> zu wenig Nachwuchskräfte, da Job zu unattraktiv -> Pensum der vorhandenen Pflegekräfte erhöht sich immer mehr -> viele vorhandene Pflegekräfte wollen sich das nicht mehr antun -> noch weniger Pflegekräfte, die noch mehr leisten müssen usw...

    Beispiel 2: Patienten, die oftmals medizinisch nicht notwendige Behandlungen/Operationen bekommen (z.B. Hüft-, Knie-, Rücken-, Schilddrüsen-OPs)


    Mit der frühkindlichen Bildung im Zusammenhang mit Chancengleichheit spricht er ein sehr wichtiges Thema an. Wie wichtig das besonders für Kinder aus Migrantenfamilien und sozial schwierigen Verhältnissen ist, habe ich von Politikern schon vor zwanzig Jahren gehört. Was ist geschehen? Nicht viel. Es fehlen Kitas und Erzieher*innen ohne Ende.

    Wie wär's denn, wenn man den Beruf des Erziehers / der Erzieherin aufwertet, indem man ihn zu einem Studienberuf macht, wie in anderen Ländern üblich? Dann hätten Erzieher*innen eine höhere Qualifikation (wovon die Kinder profitieren würden) und müssten natürlich auch adäquat bezahlt werden. Und schon würden sich wieder mehr Menschen für diesen Job interessieren.


    Überhaupt was so alles vor 20 Jahren schon Thema war und wo sich so gut wie nichts getan hat, ist erschreckend. Braucht man sich nur die Tagesschau vor 20 Jahren anschauen.



    Oder auch das hier:



    Gott, was müssen sich die Industrie-Bosse damals über die freiwillige Selbstverpflichtung totgelacht haben.



    Völlig unverständlich ist mir Fratzschers Meinung zur Umverteilung. Natürlich brauchen wir die. Schließlich gab es in den letzten 20 Jahren eine gigantische Umverteilung von unten nach oben. Deshalb geht ja die berühmte Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander. Jetzt muss es halt wieder in die andere Richtung gehen. Für Bildung, Digitalisierung, Klima & Umweltschutz, Gesundheit, Wohnen etc. brauchen wir viel Geld. Dieses Geld ist in exorbitanten Mengen vorhanden, aber eben extrem ungerecht verteilt. Auch wenn sich das radikal anhört, der Staat muss ein Großteil dieses Geld zurückholen und in die oben genannten Bereiche investieren. Ansonsten sind wir auf dem besten Weg dahin, dass uns die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Demokratie und das ökologische Gleichgewicht, um die Ohren fliegen.


    Sorry für den langen Thread. Da hat sich wohl wieder etwas angestaut, was raus musste. :S


    Im Interview fehlten mir übrigens die Themen Transaktionssteuer und Green New Deal.


    Trotzdem gutes Interview. Freuen würde ich mich über ein Interview mit dem Keynesianer Gustav Horn.

  • Ich höre und notiere nebenher...

    Bei der Lufthansarettung eiert er gewaltig. Das wird er auch selbst merken, dass er da Quatsch erzählt. Aber sehr schön reingegrätscht von Tilo, da macht sich Vorbereitung bezahlt.


    Welthandel ist sinnvoll, weil Arbeitsteilung: da werden sie sich bei Trigema auch die Augen/Ohren gerieben haben, als ihnen Herr Fratzscher verkündet hat, dass Kleidungsproduktion natürlich nach Bangladesch oder so gehört... Und man nimmt ja dann auch dem Bangladeschi die Arbeit weg und überhaupt, der Konsument will ja auch immer alles so billig, der ist schuld! Das kommt so 1:1 auch von der fdP.


    Irgendwie scheint mir, dass der gute Mann etwas an der Realität vorbeiphilosophiert. Er wünscht sich mehr Multilateralismus und internationale Institutionen, während die tatsächlich stetig auf dem Rückmarsch sind und er wünscht sich weniger Nationalismus und (auch im wirtschaftlichen Sinne) wohlwollendes Interesse an den Ländern, in denen man z. B. produzieren lässt, während der Nationalismus voranschreitet wie nix, gerade auch befördert durch die Coronakrise.


    Puh, jetzt kommt er mit "Wir Menschen sind nunmal so..." und will so Konsum als Selbstzweck rechtfertigen. Eieiei.

    Kurz danach geht es darum, was "eigentlich" wichtig im Leben ist, also Glück/Gesundheit/Gemeinschaft statt nur BIP. An der Stelle scheint er verstanden zu haben, die Übertragungsleistung dieses Prinzips auf den sinnlosen Konsum fehlt noch, na vielleicht zum nächsten Interview in drei Jahren dann.


    Jetzt wird es merkwürdig, bei der Pflege soll es auf einmal auch in Deutschland diese Jobs geben, von denen in der Textilbranche noch von Arbeitsteilung und toller Globalisierung die Rede war. Ja was denn nun? Schiffen wir halt die Alten aus, das hat im Gesamtprozess auch ganz geringe CO2-Kosten. :)


    Wettbewerb bei Krankenhäusern ist gut, weil dann gibt es ja ein Streben nach besseren Heilungsmethoden usw. Aha... Ich wusste garnicht, dass bei den Vierteljahresberichten der KKH-Konzerne der Glücksindex ehemaliger Patienten der Gradmesser ist. Da dachte ich doch bisher völlig naiv, dass die da nur die Finanzen betrachten. Wieder was gelernt!


    Aber gut, kurz danach geht es dann um privates Wohneigentum und da meint er, er hätte kein Problem damit, dass einer 10.000 Wohnungen hat. Und Wettbewerb wäre ja auch wichtig und sie hätten ja auch ne Studie gemacht, dass in vielen Städten 1/3 der Menschen 35%/40% ihres Lohnes für Miete ausgeben.

    Äh...

    Zusammenhang?

    wörtliches Zitat dann direkt danach: "Aber ja, Wettbewerb ist gut und privates Eigentum ist absolut richtig."

    what the actual fuck


    Danke Tilo, dass Du ihm den Bill Gates Stiftungsscheiß nicht durchgehen lässt.


    Fazit nach zweieinhalb Stunden: Kapitalismus Soziale Marktwirtschaft ist geil! Vermögen haben ist ok und gerecht. Der Staat ist in der Verantwortung! (Dass mit Vermögen Macht einhergeht... da halten wir uns einfach die Augen zu und denken an Ludwig Erhard.)


    "spD-nahes Institut" ... Ja, jetzt verstehe ich, dass das am Anfang von Tilo ein fieser Tritt ans Schienbein war, der einfach nur eine Weile brauchte, um bis zum Kopf durchzudringen.

  • Danke Fruchti, du sprichst genau die Dinge an, die ich auch notiert hatte. Ich fand es besonders deswegen sehr anstrengend, weil so viele kritikwürdige Annahmen drin waren, die man erstmal gedanklich sortieren musste. Seichte Neoliberalismuskritik, die aber nicht all dessen Paradigmen in Frage stellt.

    Gegen Wettbewerb bin ich jetzt nicht grundsätzlich, aber klingt eindeutig durch, dass er von staatichem Besitz nichts hält. Und genau da propagiert er die neoliberale Maxime der Privatisierung, weil der Staat unfähig wäre. Das klingt mehrfach an.


    Bis auf das Lieferkettengesetz habe ich da jetz auch wenig Lösungsansätze vernommen. Stattdessen das übliche Abschieben der Verantwortung auf die Verbraucher.

  • Kein Wunder, Indi.


    Einen harmloseren Ökonomen der noch mehr Angst davor hat, Leuten wie Dir auf die Füße zu treten, wirst Du wohl auch kaum finden.

    Marcel Fratzscher ist ein Ritter der neuen sozialen Marktwirtschaft.

    Und er hat das Ohr von grünen und sozialdemokratischen Spitzenpolitikern und wird im Falle einer grün-rot-linken Koalition ein wichtiger Einflussfaktor der Vernunft sein.


    Fratzscher hat auch keine Angst, ihm geht es wirklich um die Lebenswirklichkeit der Menschen und er weiß, dass eine blühende Zukunft nur mit einer stabilen Marktwirtschaft möglich ist.

  • Marcel Fratzscher ist ein Ritter der neuen sozialen Marktwirtschaft.

    Ja holla die Waldfee, Indi!


    Ganz schön lyrisch für einen Lobby-Spambot.

    Habt ihr was am Algorithmus verändert, liebe Entwickler?


    Wenn Du mit "neue soziale Marktwirtschaft" natürlich die gleichnamige Initiative meinst, welche mit dem tragischen Tod des großen Sozialdemokraten und ausgewiesenen "Ehrenmannes" Dipl.-Jur. Wolfgang Clement erst kürzlich den herben Verlust eines ihrer größten Mitstreiter zu beklagen hatte, und welche ganz offensichtlich auch Deine Auftritte hier mit der exklusiven ökonomischen Expertise ihres angeschlossenen kölner Instituts der deutschen Wirtschaft unterfüttert, dann hast Du natürlich insofern recht, als deren Vorstellung von "sozial" ungefähr genau so viel mit dem real existierenden Neoliberalismus zu tun hat, wie Prof. Dr. Fratzschers Wahnidee, eine kapitalistische Marktwirtschaft in welcher der Gesetzgeber es erlaubt, dass z.B. eine Person sich tausende von Mietwohnungen als Kapitalanlage aneignet, oder in welcher ein paar besonders kreative, innovative Finanz-Entrepreneure mit tatkräftiger Unterstützung politischer HochleistungsträgerInnen einfach mal knapp 2 Milliarden Euro Bilanzvolumen erfinden können, um sich das Anlagekapital anderer Leute anzueignen, während die sie kontrollierenden Wirtschaftsprüfer und die staatliche Bankenaufsicht jahrelang "ahnungslos" daneben stehen wie der Ochs' vorm Berg, liesse sich politischerseits "pfiffig" regulieren, ohne solchen Personen einen ordentlichen Teil ihres privaten Eigentums und Investitionsmonopols wegzunehmen.


    Aber Spaß beiseite - Es ist natürlich völliger Nonsens und eine unhaltbare Unterstellung, einen so bedächtigen, unvoreingenommenen, und von jeglicher ideologischen Einflussnahme befreiten Wirtschaftsforscher wie Herrn Fratzscher mit neoliberalen Ideologen unter einen Hut zu stecken.

    Bei ihm ist der ökonomische Wettbewerb und der ganze Kapitalismus ja schliesslich nur eine logische und nüchterne Konsequenz aus der menschlichen Natur und ihrer...


    Lebenswirklichkeit

  • Dem NHS fehlt nicht der Wettbewerb, sondern Geld. Keine Ahnung, ob Marcel das hier nicht zugeben will oder er einfach schlecht informiert ist.


    Außerdem stört mich diese paternalistische Einstellung, dass in ärmeren Ländern schlecht ausgebildete, schlecht bezahlte Menschen nur dadurch überleben, dass wir ihnen unter die Arme greifen.


    Und diese Verniedlichungen - Hühnchen, Häuschen. So unreflektiert in seinem Umgang mit Sprache.

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